Nun soll wohl Kamala Harris schaffen, was bis vor ein paar Tagen noch fast unmöglich schien: Donald Trump die zweite Niederlage bei einer US-Präsidentschaftswahl bescheren. Die letzten 100 Tage werden spannend und vermutlich auch eine derbe Schlammschlacht.
Die einst als blass beschriebene Vizepräsidentin ist in weniger als 24 Stunden zur Hoffnungsträgerin geworden. Während die Demokraten noch nach dem richtigen Weg für einen sauberen Übergang der Kandidaturen suchen, füllt die erwartete Kandidatur von Kamala Harris die Wahlkampfspendenkonten und löst eine Euphorie der Erleichterung aus.
Und für einen kurzen Moment sieht es so aus, als wäre das Trump-Team auf dem falschen Fuß erwischt worden.
Ganz überraschend war es am Ende dann doch nicht mehr. Schon vor dem Wochenende hatten sich Hinweise verdichtet, dass sich US-Präsident Jo Biden doch von der erneuten Kandidatur zurückziehen würde. Der Druck war schließlich zu groß. Aus den eigenen Reihen hatten sich immer mehr Spitzenleute bemüht, auf den Präsidenten einzuwirken. Selbst Hollywood-Schauspieler George Clooney, der sich selbst als „lebenslangen Demokraten“ bezeichnet und zu den eifrigsten Spendensammlern gehört, hatte an den 81-jährigen Biden appelliert.
Am Ende zeigte sich der Präsident einsichtig. Den lobenden Worten aus der westlichen Welt für seinen verantwortungsvollen Schritt war vielfach die Erleichterung zwischen den Zeilen und im Tonfall anzumerken. Es sind aber auch Worte der Anerkennung. Zu Recht. Denn die Bilanz von Bidens Amtszeit kann sich sehen lassen, auch wenn das erstaunlicherweise in den USA selbst kaum Anklang gefunden hat.
Euphorie und Erleichterung
Nach dem Attentatsversuch auf Donald Trump schien endgültig alles gegen Biden zu laufen. Die Macht der Bilder, die in den USA vielleicht mehr als sonst irgendwo auf der Welt unerbittlich ist, zeigte den Kontrast auf fast schon ikonische Art. Hier das leicht verletzte Anschlagsopfer, das– umringt von Personenschützern die kämpferische Faust zum Himmel streckt. Dort ein Präsident, der nach einer Covid-Ansteckung mit anscheinend unsicheren Schritten aus seinem Präsidentenflieger aussteigt.
Trump lässt sich von seinen Anhängern feiern als jemand, der direkt unter Gottes schützender Hand stehen muss – sonst hätte die Kugel nicht nur sein Ohr gestreift. Für nüchterne Europäer mögen derartige Szenen ziemlich verstörend wirken. Trump hat sich immer schon auf die evangelikalen Bewegungen stützen können, die in den USA einen mächtigen Einfluss haben. Jetzt ist er in deren Augen endgültig zum gotterwählten Heilsbringer aufgestiegen.
Allerdings hat dieser Heilsbringer ganz irdische Probleme. Trump forderte auf seiner eigenen Plattform Truth Social finanzielle Entschädigung. Immerhin hätten die Republikaner Geld und Zeit in eine Kampagne gegen Biden gesteckt, nur dass dieser jetzt zurückziehe. „Jetzt müssen wir wieder von vorn anfangen“, schreibt Trump lamentierend. Damit spielt er einmal mehr seine Lieblingsrolle, nämlich die als Opfer. Nicht genug damit, dass ihm vor vier Jahren „die Wahl gestohlen“ wurde, so Trumps „cetero censeo“ (wurde sie nicht, wurde zigfach gerichtlich festgestellt), jetzt ist auch noch der Gegner weg, gegen den der Sieg schon ausgemachte Sache war. Wobei es ihm einerseits vermutlich nicht direkt ums Geld geht. Für seinen Wahlkampf kommen ohnehin andere auf, etwa Multimilliardär Elon Musk, der allein angeblich 45 Millionen Dollar in Trumps Kampagne stecken will, pro Monat, wie Medien berichten. Und er ist nicht der einzige Milliardär.
Millionäre und Milliardäre unterstützen auch die Demokraten, darunter Reid Hoffman, Mitgründer des Netzwerks LinkedIn, oder der Philantrop und Medienunternehmer Frank Eychaner. Viele Spender aber hatten ihre Brieftaschen für die Biden-Kampagne geschlossen – solange, bis sich Biden zurückziehe, hieß es. Nach Medienberichten sollen zuvor pro Stunde etwa 200 000 Dollar für die Demokraten gesammelt worden sein, nach Bidens Erklärung sollen es pro Stunde über elf Millionen gewesen sein – vor allem viele Kleinspenden. Auch das ist ein Ausdruck der Erleichterung bei vielen, die hoffen, eine erneute Präsidentschaft Trumps noch verhindern zu können.
Das Barometer gesammelter Spenden ist in den USA quasi der Aktienkurs für die jeweiligen Kandidaturen. Dass nun Vizepräsidentin Kamala Harris einen Wahlsieg Trumps verhindern will, zeichnete sich in den Stunden nach Bidens Erklärung als sicher ab. Dabei müssen die Demokraten nun noch kurzfristig einige innerparteiliche und prozedurale Hürden nehmen, was das Parteimanagement aber nicht völlig überrascht hat. Gedankenspiele und mögliche Szenarien kursierten schon länger.
Offener Kulturkampf
Mit Kamala Harris haben die Demokraten nun einen idealen Gegenentwurf zu Trump. Sie ist knapp 20 Jahre jünger als Trump, kann also die Haupterzählung der Trump-Kampagne umdrehen – plötzlich ist Trump der älteste Präsidentschaftsbewerber der Geschichte. Sie ist eine Frau mit Migrationshintergrund, eine, die mit ihrer Karriere verkörpert, dass Amerikas Größe auch auf den Leistungen dieser Generationen beruht. Sie besetzt viele exakte Gegenthesen und -positionen zu Trump, etwa in der Frauenpolitik. Schon in den vergangen Wochen war es ihr immer öfter gelungen, aus dem grauen Schatten des Präsidenten, unter dem Vizepräsidenten in den USA in der Regel qua Amt leiden, hervorzutreten. Und über Zustimmung aus Hollywood – in den USA ein nicht zu unterschätzender Faktor – kann sich Harris ebenfalls nicht beklagen. „Viel Lob für Joe Biden, noch mehr Begeisterung über Kamala Harris“, fasst der Spiegel die Reaktionen zusammen. Viele Stars sind angetan von der Vorstellung, dass mit Kamala Harris nicht nur die erste Frau überhaupt, sondern zugleich auch die erste Frau mit elterlichen Wurzeln in Jamaika und Indien ins Oval Office einziehen könnte. So lobt denn auch die Schauspielerin Jamie Lee Curtis Kamala Harris als „erbitterte Anwältin für Frauenrechte und People of Color“.
Mit diesem Profil bietet sie allerdings der emotionalen Trump-Kampagne auch viele Angriffspunkte. Nicht zuletzt wegen der Migrationspolitik, mit der Biden sie beauftragt hat, und in der schon seit Jahrzehnten keine Lorbeeren zu gewinnen waren und sind.
Für die Schlagkraft von Harris‘ Kandidatur wird wesentlich sein, wen sie als ihren Vize benennen wird. Die taktischen und strategischen Aspekte sind vielfach diskutiert worden, eine Entscheidung war bei Redaktionsschluss noch nicht gefallen.
Die neue personelle Ausgangslage für die letzten hundert Tage Wahlkampf verspricht nicht weniger, als dass sich der Kulturkampf, in dem die USA schon länger stehen, nun offen austragen lässt. Nicht mehr zwei alte weiße Männer, sondern Trump gegen Harris.
Die USA auf der Suche nach eigener Identität, plakativ zugespitzt zwischen erzkonservativen Evangelikalen, die die Bibel wörtlich nehmen, und Evolutionstheorien aus den Schulen verbannen und eine Rückkehr zum US-amerikanischen Isolationismus wollen. Auf der anderen Seite das bunte Amerika, das LGBTQI+ Hollywood, das für liberale Freiheiten, Demokratie und globale Verantwortung steht. Die USA haben jetzt eine klare Wahl.