Wenn Autos selbst fahren, eröffnen sich für den Innenraum ganz neue Möglichkeiten. Vor allem Vertrauen und Flexibilität sind gefragt, wenn dieser auch zum Büro oder Schlafzimmer taugen soll.
Sich anderen Dingen widmen: War das Autofahren und damit der Innenraum von Autos über Jahrzehnte auf die Fahraufgabe hinter dem Lenkrad zugeschnitten, brechen mit der Automatisierung des Fahrens neue Zeiten an. Muss man den Verkehr immer weniger beobachten, weil die Technik übernimmt, können alle Insassen arbeiten, schlafen, sich unterhalten lassen.
„Von außen sieht es aus wie ein Auto. Von innen sieht er aus wie ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer oder ein Büro“, skizziert die Beratungsfirma Deloitte in einem Whitepaper die Zukunft von Fahrzeug-Innenräumen. Und es gibt kaum einen Hersteller, der seine Vision vom Auto der Zukunft in Form von Konzepten nicht schon auf die Räder gebracht hätte. „Aber es ist noch unklar, in welcher Form diese auf dem Massenmarkt eingeführt werden.“ Mercedes zeigte 2015 den selbstfahrenden F015 mit nach hinten drehbaren Vordersitzen, BMW brachte zum 100. Firmengeburtstag 2016 den Vision Next 100, in dem sich das Lenkrad zurückziehen kann. Volvo sorgte 2018 mit Bildern schlafender Passagiere für Aufsehen, die in Decken gehüllt im autonomen Fahrkonzept 360c lagen. Und Audi schob 2021 bei der IAA das Grandsphere Concept als „Privatjet für die Straße“ ins Rampenlicht, ein autonomes Auto mit Eyetracking, Sprachsteuerung oder Handschrifteingabe und Projektionsflächen fürs Kinoerlebnis oder Videokonferenzen.
Sitze werden einfach zum Bett umgewandelt
„Es geht ein neues Thema auf“, sagt Design-Professor Lutz Fügener von der Hochschule Hof. Mit Spannung beobachtet er, wie sich Form und Nutzung von Autos im Zuge der Automatisierung verändern. Dabei schafft der Übergang zu elektrischen Antrieben mit flexiblen Skateboard-Architekturen weitere Freiräume. Jüngstes Beispiel: der VW Gen.travel. Das Konzeptauto gewährt Einblicke, was man aktuell in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen für wahrscheinlich hält. Es biete einen „realistischen Ausblick auf die Mobilität im nächsten Jahrzehnt“, teilte VW mit.
Kern des Gen.travel ist der wandelbare Innenraum: Im Overnight-Set-up des auf Level 5 autonom fahrenden Vehikels, in dem kein menschlicher Fahrer mehr vorgesehen ist, werden je zwei Sitze in ein Bett umgewandelt. Ein Lichtsystem beeinflusst die Melatonin-Ausschüttung und hilft den Passagieren so einzuschlafen und aufzuwachen. Zum „Konferenz-Set-up“ gewandelt, kutschiert er seine Insassen in vier Sesseln, ein Tisch in der Mitte. In diesem Modus sollen die Lichtquellen die Gefahr von Reisekrankheit vermeiden. Das Fahrzeug stelle eine Mobility-as-a-Service-Alternative zu Kurzstreckenflügen dar, wirbt VW.
Dass Konzeptautos nicht nur heiße Luft sind, davon ist Michael Voit, Informatiker am Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung überzeugt. „Die rollenden Prototypen sind die Roadmap.“ Diese würden in den kommenden Jahren zwar „an die Realität angepasst“, doch die Entwicklung werde so kommen. Voit beschäftigt sich mit Innenraumthemen. „Wenn der Fahrer nicht mehr fahren muss, ergibt die klassische Sitzanordnung keinen Sinn mehr“, sagt er.
Derzeit erlaubt ist automatisiertes Fahren jedoch nur auf Level 3, bei dem der Fahrer sich zwar vom Verkehrsgeschehen abwenden kann, aber jederzeit kurzfristig in der Lage sein muss, das Steuer wieder zu übernehmen. Mit dem Jahr 2023 dürfen laut Beschluss der Uno-Wirtschaftskommission für Europa automatisierte Fahrzeuge mit bis zu 130 Stundenkilometern über die Autobahnen brausen. Erst ab Level 4 wird der Fahrer zum Passagier und kann sich dauerhaft anderen Dingen zuwenden. „Mit steigendem Automatisierungslevel kann sich der Fahrer mehr Freiheiten nehmen“, sagt Voit.
Entertainment an Bord wird viel wichtiger
So sieht Zulieferer ZF erweiterte Verstellmöglichkeiten für die Frontsitze vor, die für mehr Beinfreiheit oder Entspannung sorgen. „Zugunsten besserer Kommunikation“ können sich Front- und Fondpassagiere einander gegenübersitzen. Faurecia, Spezialist für Autositze, hat eine „Rear Morphing Bench“ erdacht, eine Sitzbank, die sich der Anzahl und Position der Insassen anpasst, indem sie Kopfstützen, Beinfreiheit, Polsterung und die Position des Gurtes individuell verändert. Der intelligente Innenraum erkennt beispielsweise auch, wenn ein Passagier sich vorbeugt und lässt das akustische Signal eines Telefonats punktgenau dem Ohr folgen.
Der Autoinnenraum als „Smartroom“ nach Fraunhofer-Art soll in einigen Jahren in Serienautos kommen. Smartroom ist das Schlüsselwort von Informatiker Voit. Sein Team hat ein sogenanntes Advanced Occupant Monitoring System entwickelt, das dank Innenraumkameras in der Lage ist, zwischen bis zu 35 Aktivitäten zu unterscheiden – Trinken, Essen, Schlafen, Lesen, Telefonieren. „Der Computer bekommt Augen“, sagt Voit. Die intelligente Analyse wird möglich dank 3D-Körperskeletterkennung der Insassen samt deren Bewegungen und Objekterfassung.
Das System erkennt nun zum Beispiel, ob zum Handy gegriffen oder eine Flasche geöffnet werde. „Bei Nachtfahrten können Leselampen automatisch so eingestellt werden, dass sie andere schlafende Insassen nicht stören“, nennt Frederik Diederichs, Psychologe am IOA, ein Beispiel. Möglich sei auch, dass das Auto seinen Fahrstil dem Befinden der Insassen anpasse. Zulieferer Faurecia will über Wearables Hauttemperatur, Herz- und Atemfrequenz sowie Blutdruck messen, um auch die Luftverteilung oder die Heizungseinstellungen entsprechend zu individualisieren.
Die Aktivitätserkennung der Fraunhofer-Forscher bildet auch die Grundlage dafür, die Intention der Fahrzeuginsassen dank maschinellem Lernen vorherzusagen. Informationen zum Ablenkungszustand des Fahrers werden generiert, die wichtig werden, wenn die Fahrverantwortung wieder an den Fahrer übergeben werden soll, was Level 4 noch vorsieht. Für solche Übergabe-Szenarien arbeiten praktisch alle Zulieferer an Cockpits, „die nur dann sichtbar sind, wenn sie benötigt werden“, heißt es exemplarisch bei Continental.
Und es gibt weitere Sicherheitsanforderungen für den Innenraum. Wenn Menschen während der Fahrt schlafen sollen, sei das „ein Sicherheitsproblem“, sagt Professor Fügener. Bei liegenden Passagieren bieten herkömmliche Sicherheitsgurte kaum Schutz. Experten arbeiten deshalb schon an künftigen Insassenschutzsystemen. Weil sich die Abstände von Gurten und Airbags zu den Passagieren im Arbeits- und Entspannungsmodus vergrößern, kämen adaptiven Rückhaltesystemen eine entscheidende Rolle zu, heißt es bei ZF. Per Innenraumüberwachung lässt sich der Abstand des Insassen beispielsweise zum Airbag berechnen.
Absolutes Vertrauen in die Technik notwendig
Die Konzeptautos spielen auch mit allerlei Displays und Videoprojektionen – was auch zeigt, welche Bedeutung das Entertainment an Bord von autonomen Autos spielen wird, zumal sich über solche Services über integrierte Zahlungssysteme zusätzlich Geld verdienen lässt. Um sich auf die Nutzung von Videostreaming während der Fahrt im Zuge der fortschreitenden Automatisierung vorzubereiten, hat Mercedes-Benz eine Partnerschaft mit Zync geschlossen, kalifornischer Spezialist für In-Car-Entertainment. Bei Faurecia überlegt man, wie Filme und Gaming-Anwendungen zu multisensorischen 4D-Erlebnissen werden könnten, die neben Ton und Licht auch die Lüftung und Sitzvibrationen einbinden – alles bedienbar über individualisierbare Benutzeroberflächen zum Beispiel in den Armlehnen.
Aber die Insassen müssen sich auch sozusagen emotional anlehnen können. „Die wichtigste Aufgabe für Designer besteht darin: Man muss Vertrauen bilden zwischen Fahrzeug und Mitfahrenden“, sagt Lütz Fügener. „Bei 123 km/h auf der Autobahn muss das Gefühl da sein, dass das Fahrzeug die Situation im Griff hat.“ Laut Fraunhofer-Psychologe Diederichs müssen die Insassen immer verstehen können, warum das Auto schneller fährt oder bremst: „Sie benötigen Transparenz und Rückmeldung. Das System muss auf höchste Akzeptanz treffen.“ Fügener ergänzt: „Störungssituationen dürfen keine Angst machen. Es muss eine Instanz geben, die ich immer ansprechen kann.“ Diese hat auch schon einen Namen: Es ist der digitale Butler, der zwischen den Insassen und dem digitalen Chauffeur moderiert.