Kultur-Urlaub, wo man es nicht vermutet: Maltas kleine Schwesterinsel ist eine Opern-Hochburg. Im barocken Ambiente feiert man Patronatsfeste und lädt dazu ein, Geschichte und Tradition des Mittelmeerraums zu entdecken.
Singende Zigeunerinnen, spanische Matadore und das unverwüstliche Trinklied „Brindisi“ – all das hat die Oper „La Traviata“ zu bieten. Maestro Colin Attard springt mit dem Gaulitanus-Chor durch die Partitur, mindestens eine Hand auf der Flügeltastatur, die andere wirft die Einsätze in den Raum. Es ist Samstagnachmittag in einem unscheinbaren Haus in der Inselhauptstadt Victoria. „Gaulitanus“, wörtlich: „die aus Gozo“, haben sich im Salon ihres Dirigenten versammelt. Unter dem distinguierten Blick von Giuseppe Verdi, als Bild an der Wand, proben zwei Dutzend Gozitaner für das „Gaulitana: A Festival of Music“.
Noch drei Monate bis zur Aufführung. Dann wird das Teatru tal-Opra Aurora in der Republic Street wieder festlich beleuchtet sein. Malteserinnen in funkelnden Kleidern und ihre Begleiter in schwarzen Anzügen steigen dann die Marmortreppe zum Saal hinauf. Roter Teppich, Blumenschmuck – alles ist auf die Nacht der Nächte ausgerichtet, denn diese „Traviata“ wird nur ein einziges Mal aufgeführt werden. Man feiert das Leben, etwas, was man auf den maltesischen Inseln am liebsten macht. Wenn sich am 29. April der Vorhang hebt, ist Frühjahr am Mittelmeer. Der Oleander blüht, Regen ist ein Fremdwort und 20 bis 24 Grad darf man tagsüber – so südlich von Sizilien – schon erwarten.
Tradition ist sehr wichtig
Die Nähe zu Italien prägt auch die hiesige Musik, und dennoch hat die Oper einen „gozitanischen Geschmack“ wie Colin Attard es ausdrückt: „Elan, Emotionen und Begeisterung“. Der 60-Jährige ist ein Energiebündel, das die Liebe zu seiner Heimat künstlerisch umzusetzen weiß. Geboren in eine Musikerfamilie, dreht sich sein Leben seit jungen Jahren um Konzertorganisation, eigene Kompositionen und Kulturvermittlung. Tradition wird groß geschrieben, vor allem bei der opulenten Ausstattung der Oper, den handgenähten Kostümen und den stimmgewaltigen Auftritten. Auch bei „La Traviata“ dürfte das Theater mit seinen 1.600 Sitzen wieder ausverkauft sein, und das in einer Stadt mit 6.000 Einwohnern – und einem zweiten Opernhaus!
Der kuriose Wettbewerb zwischen den beiden gegenüberliegenden Theatern begann 1977, als die örtliche Blaskapelle Socjetà Filarmonika Leone die Stadt mit einer -Inszenierung überraschte. Das Vereinsheim hatte man nach Feierabend in Eigenleistung zu einem veritablen Opernhaus ausgebaut. Die Mittel dafür stammten neben Spenden aus Tombolas, High-Tea-Veranstaltungen und Disco-Abenden. Auch die „Banda“ aus dem zweiten Stadtviertel, die Socjetà Filarmonika La Stella, ließ sich nicht lumpen und zog ein Jahr später mit „Rigoletto“ nach. Inzwischen werden die einmaligen Produktionen vom nationalen Malta Philharmonic Orchestra und internationalen Sängern begleitet. Die Musiker und Sängerinnen müssen alle mit der Gozo-Fähre anreisen. Das jahrtausendelange Bemühen, als kleine Schwesterinsel von Malta nicht übersehen zu werden, steckt den rund 30.000 Gozitanern ein Stück weit in der DNA. Die doppelte Insellage hat die Bewohner auf eigenwillige Art autonom und selbstbewusst gemacht. Was man haben wollte, musste man sich selbst schaffen, und wenn es ein Opernhaus war.
Tempel aus der Steinzeit
Egal ob Araber, Kreuzritter, Franzosen oder britisches Protektorat (1800 –1964), Gozo war immer außerhalb des Blickwinkels der Herrschenden. Nur das neolithische Volk, das das heutige Unesco-Weltkulturerbe, die rund 6.000 Jahre alten gantija Tempel hinterließ, wollte in Gozo etwas Gewaltiges schaffen. Diese Menschen starben jedoch aus, und über die folgenden Jahrhunderte ist nichts überliefert.
Einer übersah Gozo jedoch nicht, und das war osmanische Korsar Dragut. Im Jahre 1551, während der Machtkämpfe zwischen Christen und Muslimen, nahm der Pirat die Insel ein und die gesamte Bevölkerung gefangen. Von den rund 6.000 Bewohnern wurden nur 50 zurückgelassen, wohl die Ältesten und Kranken, die für die Sklavenmärkte in Tripolis und Istanbul ungeeignet waren. Steigt man von der Altstadt Victorias die Treppen zur Cittadella hinauf, erinnert ein stilles Denkmal an die Stunde null: eine ewige Flamme und das Jahr 1551 in goldenen Lettern, ohne weitere Erklärung.
Man besiedelte die Insel von Malta und Sizilien aus wieder. Einige Menschen konnten auch aus der Gefangenschaft zurückgekauft werden, dafür hatten die Johanniterritter Stiftungen eingerichtet. Es dauerte 150 Jahre, bis die Bevölkerung wieder die frühere Stärke erreicht hatte. Später mussten sich Bauersleute und ihre Familien zu ihrem Schutz bei Anbruch der Dunkelheit in der Zitadelle einfinden und die Tore wurden verriegelt. Spaziert man heute durch die riesige Festung, entdeckt man den Grundriss einer mittelalterlichen Stadt.
Dieser Platz im Mittelpunkt der Insel wurde schon zur Bronzezeit besiedelt, wie die Ausgrabung von Kornspeichern zeigt. Die Phönizier errichteten dort eine Befestigung und auch die Römer nutzten den Felsen als Akropolis. Auf den eindrucksvollen Mauern kann man die Cittadella umrunden und hat einen fantastischen 360-Grad-Blick bis nach Comino und Malta. Im Zentrum der Anlage befindet sich die Kathedrale mit dem Sitz des Bischofs von Gozo. Sie ist Ausgangspunkt von beeindruckenden Prozessionen zu Ostern und an Mariä Himmelfahrt.
Ausblick von der Cittadella
An diesen Umzügen ist wiederum die Leone Band unter der Leitung von Colin Attard beteiligt, denn sie sind für die musikalische Untermalung der Marienfeste verantwortlich. Hat der Stadtpatron von Victoria, der Heilige Georg, seinen großen Tag (dritter Sonntag im Juli), spielt die La Stella Band auf. Heiligenfiguren säumen dann die Straßen, große bemalte Stoffgirlanden werden über den Weg gespannt. Die Anhänger der Maria feiern mit blauen Symbolen, während die St. Georgs-Treuen in roten Shirts erscheinen. So oder so sind die Feste ein mehrere Tage dauerndes, von spektakulären Feuerwerken gekröntes Erlebnis.
Auch der 10. Juni 1887 wurde in Gozo als Freudentag gefeiert. Damals beging man im British Empire das goldene Thronjubiläum von Queen Victoria. Man nahm es zum Anlass, die Inselmitte, die die arabische Bezeichnung Rabat (= befestigter Ort) trug, in Victoria umzubenennen. Colin Attard, der 1987 den Kompositionsauftrag erhielt, um das hundertjährige Jubiläum der Umbenennung zu feiern, ist nicht ganz glücklich damit: „Victoria passt nicht in unsere Ortsnamen, die sich an der semitischen Sprache orientieren.“ In der Tat trägt das gute Dutzend Dörfer Namen wie L-Gharb (= Westen), Ghajnsielem (= Quelle des Salem) oder Xewkija (= Disteln).
Maltesisch entwickelte sich aus einem arabischen Dialekt, nahm aber auch mittelalterliches Sizilianisch auf, weitere romanische Wörter und zuletzt immer mehr Englisch. Wer Italienisch spricht, wird einzelne Begriffe verstehen, doch Touristen (und Sprachschüler) profitieren davon, dass Englisch ebenfalls Amtssprache ist. Von klein auf wird es an den Schulen unterrichtet. Dennoch sind Besucher vom lateinischen Schriftbild der semitischen Sprache verblüfft und fragen sich zu Recht, was die Schilder „hrug“ (Ausgang) oder „ieqaf“ (Stop) wohl bedeuten.
Schlägt man ein römisch-katholisches Gebetsbuch in einer der unzähligen, üppig dekorierten Kirchen auf, stolpert man über das Wort „Alla“ für Gott oder „Mulej“ für Herr. Am Morgen begrüßt man sich mit dem französisch tönenden „Bongu“, während man sich zum Abschied ein kehliges „Sahha“ (Gesundheit) wünscht. Im Alltag hört man auch englische Einsprengsel wie „thank you hafna“ (vielen Dank). Da bleibt einem nur die fast immer passende Floskel „mela“: also gut, schau’n wir mal, okay.
Die Chorprobe ist vorbei, der „salott“ leert sich schnell. Wie in Malta üblich, hat auch die Familie Attard ein repräsentatives Wohnzimmer, eine gute Stube mit Kronleuchtern, Fotos und Erbstücken, die manchmal sogar vom Bürgersteig aus einsehbar ist. Die Sängerinnen und Sänger verschwinden in den verwinkelten Altstadtgassen. Hier ist Victoria immer noch Rabat, eine arabisch anmutende Siedlung kubischer Häuser mit bunten Türen – aber Heiligenbildern am Eingang.