Tamara Röske kam mit dem Down-Syndrom zur Welt. Heute ist die junge Frau Model, Schauspielerin und Sportlerin. Für den Erfolg im Leben trainiert die 28-Jährige hart.

Ohne Schminke gehe ich nicht aus dem Haus“, sagt Tamara Röske und wirft ihre rotbraunen, welligen Haare über die Schulter zurück. „Bitte stillhalten“, sagt die Make-up-Artistin, die ihr mit einem Pinsel knallrote Lippen schminkt. Tamara hebt das Kinn, schließt die Augen, ihr Mund ist leicht geöffnet. Still wie eine Puppe sitzt sie auf dem Hocker. „Das Schminken entspannt mich“, sagt sie später. Die 28-Jährige stand schon für große Werbekampagnen vor der Kamera, hat ihre eigene Modelmappe. Als Schauspielerin war sie im Krimi „Die Toten vom Bodensee“ und in der ZDF-Reihe „Kreuzfahrt ins Glück“ zu sehen. „Bei ‚Fack ju Göhte 3‘ habe ich auch mitgespielt“, sagt sie und zeigt auf ihrem Handy die Szene, in der sie an der Seite von Elyas M’Barek zu sehen ist. „Er ist mein Freund.“
Tamara ist keine schüchterne Frau. Angst verspürt sie selten. Sie spricht mit Fremden wie mit Freunden. Den Kopf leicht geneigt, als würde sie gleich durchschauen wollen, wer ihr Gegenüber ist. Und sie sagt, was sie denkt, hält sich nicht zurück. „So ist sie halt: fröhlich, unbekümmert, Akteurin“, sagt ihre Mutter Antje, 55, die heute beim Fotoshooting dabei ist. So sei sie immer schon gewesen. Ein Mädchen, das sich viel zutraut, Neues ausprobiert. „Tamara hat Biss, unglaublichen Ehrgeiz und einen ausgeprägten Willen.“
Und der hat sie weit gebracht. Unter dem Doppelstockbett, in dem sie seit Kindertagen schläft, steht eine graue Plastikkiste. In einem Gewirr aus bunten Bändern liegen 70 Medaillen. Sie sind der Beweis für eine Sportlichkeit, die ihr im Kindesalter nur wenige Menschen zugetraut haben, für Erfolge, die vielen Menschen mit Behinderung verwehrt bleiben.
„Sie hat einen ausgeprägten Willen“

„Das Down-Syndrom war eine Überraschung“, sagt ihre Mutter. „Das ist, als wenn du ins Flugzeug steigst und nach Italien fliegen möchtest und dann in Grönland landest.“ Sie erinnert sich an ein Gespräch mit einer Ärztin kurz nach der Geburt. „Sie müssen das Kind nicht mitnehmen.“ „Wie meinen Sie das?“ „Sie können es hierlassen. Wir suchen dann nach Pflegeeltern.“ „Aber sie hat doch uns.“
Gratuliert habe den Eltern im Krankenhaus niemand. Beim Einkaufen fragte sie eine Frau, ob man dagegen nichts hätte machen können. Sie haben Familien kennengelernt, die an der Situation zerbrochen sind, Paare, die sich getrennt haben. Doch die Eltern blieben zusammen, bekamen noch ein Kind. Das Leben ging weiter. „Warum soll ich in der Ecke sitzen und weinen?“, fragt die Mutter, „die Zeit schenkt mir doch niemand zurück.“ Sie wollte sich von niemandem das Leben noch schwerer machen lassen. Nicht von Ämtern, Ärzten oder Therapeuten und auch nicht von Freunden, die mit der Diagnose nicht umgehen konnten.
Also wurde sie zur Kämpferin, förderte Tamara früh. „Ich bin mit meiner Tochter zum Kinderturnen gegangen, da konnte sie noch nicht mal richtig laufen.“ In einem alten Fotoalbum ist ein Bild von Tamara auf einem Pony zu sehen. Ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren. In Latzhose, mit roter Brille und einem weit geöffneten, lachenden Mund. „Viele haben gesagt, ich sei völlig drüber“, erinnert sich die Mutter. Aber das war ihr egal. „Ich wusste, ich habe einen Korridor, den muss ich gehen, ich muss das durchziehen. Für sie. Nicht für mich. Damit sie es leichter hat im Leben.“
Im Kindergarten galt sie als Rabenmutter, weil sie Tamara nicht beim Schuheschnüren half, den Reißverschluss ihrer Jacke nicht zumachte, sie nicht mit dem Buggy abholte. „Wenn ich meine Tochter heute angucke, denke ich, alles, alle Mühe, alle Kraft und jede Träne hat sich gelohnt. Ich würde sie nicht hergeben, für kein Geld der Welt“, sagt Antje, „da könnte auch die Fee kommen und sagen, ich zaubere dir das Down-Syndrom weg. Ich würde sagen, mach dich vom Acker. Grönland ist nämlich auch geil.“
Tamara wohnt zusammen mit ihrer Mutter im fünften Stock eines Mehrfamilienhauses im Stuttgarter Nordosten. 105 Quadratmeter. Stadtrandlage. Wer aus den Fenstern blickt, sieht Weinberge und Hopfenfelder auf der einen Seite, Stadtpanorama auf der anderen. In ihrem Bücherregal stehen Jugendbücher: „Hanni und Nanni“, „Ostwind“, „Warrior Cats“. Neben der Medaillenkiste liegt ein Klarinettenrucksack. „In der Schule hat sie mit Flöte angefangen, aber irgendwann konnte sie jedes Stück spielen“, erinnert sich Antje, „und so ist sie vor zehn Jahren auf die Klarinette umgestiegen.“ In ihrem Orchester ist sie die einzige Musikerin mit Behinderung. „Der Orchesterleiter meint, sie kommt gut mit.“ Jetzt möchte sie auch noch Saxofon lernen. „Aber wann?“, fragt die Mutter, zieht die Augenbrauen hoch und blickt ihre Tochter an. „Und ob ich das mache“, sagt Tamara und grinst.
Mit elf Jahren zum ersten Mal gemodelt

Die beiden Frauen sind ein eingespieltes Team. Tamaras zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder wohnt mittlerweile in seiner eigenen Wohnung. Auch der Vater ist vor zwei Jahren ausgezogen. Die Eltern haben sich getrennt, der Kontakt zur Tochter ist nach wie vor gut, auch wenn im Alltag vor allem die Mutter hilft. Wenn Termine abgesprochen, Anrufe erledigt, Dinge organisiert werden müssen oder wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, etwa die S-Bahn ausfällt, muss Antje einspringen. „Aus dieser Verpflichtung komme ich auch nicht mehr raus. Ich muss immer für zwei denken.“
Mit elf Jahren hat Tamara mit dem Modeln angefangen. Eine Fotografin entdeckte ihr Talent. Die Kamera liebt ihr Gesicht mit den vielen Sommersprossen, die feinen Züge, die lässigen Posen, das Schmunzeln in den Augen. „Ich pose gerne. Und mag hübsche Kleider“, sagt Tamara. Brautkleider, Unterwäsche, Streetlooks – das Model zeigt sich gerne, war vergangenes Jahr sogar in einer Modestrecke der „Vogue“ zu sehen. Sie ist mittlerweile so bekannt, dass Menschen auf der Straße sie ansprechen. Ein Foto mit ihr machen wollen.
Auf ihrem Instagram-Kanal lächelt Tamara auf fast jedem Foto. „Ich kenne sie nicht mit schlechter Laune“, sagt Antje, die den Instagram-Kanal ihrer Tochter betreut. Knapp 18.000 Menschen folgen Tamara. Auf den Bildern sieht man sie neben Fußballer Timo Hildebrand, Fernsehkoch Mike Süsser oder mit Modelcoach Peyman Amin. Doch die Fotoshootings, Filmdrehs, Werbeaufnahmen sind alles nur Nebenjobs. Tamara arbeitet 30 Stunden in der Woche als Lageristin bei einem mittelständischen Unternehmen in Korntal-Münchingen bei Stuttgart. „Der Job ist für uns wie ein Sechser im Lotto mit Zusatzzahl“, sagt die Mutter, „sie ist dort so gut aufgehoben.“ Als „Fack ju Göhte 3“ herauskam, mietete die Firma ein Kino und lud die ganze Belegschaft ein.
Tamara hat sich ihren Wochenplan auf dem Handy gespeichert. So weiß sie, wann sie wo sein muss. Im Alltag braucht sie niemanden, der sie begleitet. Im Straßenverkehr ist sie vorsichtig, hält sich an Regeln und fordert auch andere auf, das zu tun. „Jeder muss für sich gucken.“ Wenn sie über eine Ampel läuft, streckt sie die Hand seitlich aus. „Das ist das Zeichen: Stopp“, sagt sie, „das habe ich in der Schule gelernt.“ Genauso wie Lesen, Schreiben und Rechnen. „Im Zahlenraum bis 20 ist sie relativ sicher“, sagt die Mutter. „Plus geht, minus ist schon schwierig, geteilt geht gar nicht.“ Tamara träumt von einem Führerschein und einem Freund. „Obwohl ich auch glücklich bin, allein zu sein.“
Eine beste Freundin hat sie. Giuliana, 28. „Ich kenne sie seit der zweiten Klasse.“ Gemeinsam besuchten sie eine Schule für Menschen mit Behinderung. Zwanzig Jahre Freundschaft. Nun wollen sie bald zusammenziehen. Eine betreute WG soll es werden. „In diesen speziellen Kreisen sind enge Freundschaften selten“, sagt Antje. Wer eine halbe Stunde mit den beiden jungen Frauen zusammen in dem Umkleideraum einer Schwimmhalle verbracht hat, merkt, wie nah sie sich stehen. Ihr Lachen schallt durch den gefliesten Raum. Sie umarmen sich oft, klatschen sich freundschaftlich auf den Po, necken sich. „Du wartest immer auf mich Tami, oder?“ „Ich könnte dir nicht Tschüss sagen, dann wäre ich traurig, Giuli.“ „Am Samstag kannst du bei mir schlafen. Dann machen wir Party.“ „Da bin ich dabei. Und wann ist das?“ „Na am Samstag, Madame.“ „Diesen Samstag? Wie geil ist das denn!“ „Best friends.“ „Forever.“
Bronze bei den Special Olympic World Games

Die beiden jungen Frauen sind im gleichen Sportverein, 46PLUS Down-Syndrom Stuttgart. Den passenden Sport für Tamara zu finden, war nicht leicht, erinnert sich Antje. „Ballsport ist völlig ausgefallen, dafür waren ihre Augen zu schlecht. Bis sie den Ball sieht, hat sie ihn auf der Nase.“ Sportarten, wie Fechten und Kunstturnen, seien zu anspruchsvoll gewesen. Die Eltern entschieden sich für Schwimmen und Reiten. „Aber der, der den Schwimmunterricht organisiert hat, kam mit Tamaras Behinderung nicht zurecht.“ Bis sie 13 Jahre alt war, musste sie mit den kleinen Kindern schwimmen. „Da habe ich irgendwann einen Schlussstrich gezogen.“ Tamara wechselte in eine Schwimmgruppe für Menschen mit Behinderung, gewann bereits den Titel als baden-württembergische Meisterin im Para-Schwimmen. Ihre Disziplin: 25 Meter Freistil Frauen. Pro Training schwimmt sie im Schnitt 80 Bahnen. Rücken, Brust, Kraul, Schmetterling.
Die Suche nach einem Reitverein sei noch schwieriger gewesen. Keiner wollte Tamara aufnehmen. Inklusive Reitsportgruppen gab es nicht. „Sie wollten uns immer zum pädagogischen Reiten schicken, aber das brauchten wir nicht“, sagt Antje. Obendrein sei es zu teuer gewesen. 60 Euro die Stunde. „Hallo? Geht’s noch?“ Am Ende nahm ein Westernreitverein sie auf, wo sie bis heute jeden Samstag trainiert.
Dass sie ihren vielleicht größten sportlichen Erfolg ausgerechnet in der Leichtathletik feiern würde, war vor ein paar Jahren nicht absehbar. Mit Schwimmen und Reiten war Tamara sportlich ausgelastet. Was fehlte, war eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung. „Tamara und Giuliana können nicht einfach in einen Club gehen oder irgendwo abhängen.“ Die von Wohlfahrtsverbänden organisierten Discoabende und Singlepartys für Menschen mit Behinderung weckten wenig Begeisterung bei den jungen Frauen. „Das Leichtathletikteam kannte ich vorher schon“, sagt Antje, „ich wusste, das ist eine coole Truppe, also meldeten wir die Girls da an.“ Im vergangenen Jahr qualifizierte sich Tamara bei den Special Olympic World Games und kam mit einer Bronzemedaille aus der 4x100-Meter-Staffel zurück.
Heute hat sie ihren Sportdress gegen ein rotes Tüllkleid ausgetauscht. In einem Fotostudio bei Kassel blitzt die Kamera im Sekundentakt. Die Mode ist aufwendig. Aus dem Lautsprecher spielt Musik der Kelly Family, Tamaras Lieblingsband. Die Anweisungen der Fotografin setzt das Model sofort um. Kinn hoch, sexy Blick, ein leichtes Schmunzeln. Die Mutter sitzt neben der Kulisse, lächelt. „Es ist als würde meine Tochter vor der Kamera einen Schalter umlegen.“ Wenn man Tamara fragt, was ihr am Modeln am meisten Spaß macht, antwortet sie innerhalb eines Wimpernschlags: „Alles!“