Einmal im Monat kommen die Schmerzen. Als würde ihr jemand die Gedärme mit den bloßen Händen aus dem Unterleib reißen. Doch dann begreift Irina Ruoff: Extreme Regelschmerzen sind nicht normal, sie leidet unter Endometriose.
Plötzlich ein Krampf. Sie verlangsamt ihre Schritte. Es ist, als hätte man Seile an ihre Gedärme genknotet und würde ruckartig daran ziehen. So erinnert sich Irina Ruoff später. Mit aller Macht stemmt sie sich gegen die Krämpfe, die in ihrem Unterleib wüten. Nur irgendwie klarkommen, denkt sie. Sand knirscht unter ihren Schuhen, die Bäume ragen kahl in den Himmel, der Rasen eine Mischung aus altem Grün und neuem Beige. In 20 Minuten soll sie am Parkplatz sein, wo ihre Mitfahrgelegenheit wartet. Doch der Schmerz ist stark. Sie will nachgeben, sitzen, liegen. Wie sieht denn das aus, schilt sie sich und setzt weiter einen Fuß vor den anderen. Ein älteres Paar kommt ihr entgegen. Die lass ich noch vorbei, beschließt sie. Dann leg ich mich hin. Zwei Schmerztabletten hat sie da schon intus.
Sie kämpft gegen die Krämpfe. Kämpft gegen den Schmerz. Gegen den Sog. Dann gibt sie auf. Um 14.45 Uhr bricht Irina Ruoff auf einem Waldweg im Norden von Ludwigsburg, nahe Stuttgart, zusammen.
Mindestens eine von zehn Frauen betroffen
Irina Ruoff (33) von allen Ina genannt, schließt die Augen. Sie zieht die Beine an, presst die Hände auf ihren Bauch. Alle Konzentration auf den Schmerz. Aushalten, atmen. Sechs Grad zeigt das Thermometer an diesem 5. Februar 2022, ein Samstag. Scheiße, ich muss doch, denkt Irina Ruoff damals – ich will doch nach Ulm. Winzige, blau-schwarze Knötchen, gefüllt mit altem Blut – über Jahre breiten sie sich im Körper aus. Wachsen, wuchern, wandern. Formen Gewebe. Gewebe, das der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, aber außerhalb der Gebärmutter wächst. Bei manchen Frauen an den Eierstöcken, bei anderen am Bauchfell, an der Blase, am Darm. Im Extremfall sogar außerhalb des Bauchraums. An der Lunge oder im Gehirn. Die Gewebeklumpen – Mediziner und Medizinerinnen sprechen von Endometriose-Herden – sind während der Menstruation besonders aktiv. Sie können wie die Gebärmutter zyklisch bluten, verkleben, sich entzünden. Im Unterleib der Frau tobt es, als wüte ein feuerspeiender Drache. So sehr, dass Frauen kollabieren.
Endometriose ist eine der häufigsten Unterleibserkrankungen bei Frauen – und noch immer recht unbekannt. Es fehlt an Aufklärung bei Patientinnen, Ärztinnen und Ärzten und Krankenkassen, an Therapien, an Grundlagenforschung. Mindestens eine von zehn Frauen in Deutschland lebt mit der Krankheit, die starke Schmerzen während der Regelblutung verursachen kann. Aber auch beim Sex, beim Gang auf die Toilette, beim Eisprung. So massiv, dass sie bis in den Bauch, den Rücken und die Beine ausstrahlen können. „Als wenn man Seile an den Gedärmen befestigt und die nach unten zieht, so fühlt sich das für mich an“, sagt Irina Ruoff. Ich treffe sie an einem kalten Februartag. Die Ausläufer des Sturms zerren an den Bäumen, rütteln am Bauzaun der Villa Berg im Stuttgarter Schlossgarten. Irina Ruoff ist Projektmanagerin bei einer Stiftung für Entwicklungszusammenarbeit, zuständig für Kenia.
An jenem Samstag Anfang Februar wollte sie nach Ulm, um ihre Freundin Isabell zu besuchen. Mädelswochenende, Sauna, Kochen, Quatschen, das war ihr Plan. Doch Irina Ruoff kam nie in Ulm an. Zusammengekauert liegt sie auf dem Waldweg, die Hände auf den Bauch gepresst. Sie hört Schritte, das Knirschen von Rädern. Ein Mensch, mit Kinderwagen, Hilfe, hofft sie. Die Schritte kommen näher. Doch niemand bleibt stehen.
„Ich bin in dem Moment so mit den Schmerzen beschäftigt, dass ich nur aushalte“, sagt Irina Ruoff, als sie an diesen Tag zurückdenkt. Sie nennt es Kontrollverlust. „Ich weiß, dass ich dabei nicht viel Blut verloren habe. Aber es sind einfach so krasse Schmerzen, dass das System sagt: runterfahren.“ Alles in ihr zieht sich in dem Moment zusammen. Gekrümmt wie ein Embryo liegt sie da, zittert trotz Wintermantel. Plötzlich knirscht der Sand erneut. Laufschritte. Ein Jogger. Er bleibt stehen. Wie heißen Sie? Tut Ihnen etwas weh? Soll ich einen Krankenwagen rufen? Dann wählt er den Notruf. Der Mann nimmt ihr Handgelenk, fühlt ihren Puls. Ziemlich im Keller, sagt er. Der Mann, der bei der Feuerwehr arbeitet, redet ihr gut zu. „Das hat mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben“, sagt Irina Ruoff heute. Eine ebenfalls herbeigeeilte Frau hält ein Auto an, bittet um die Sicherheitsdecke. Sie wickeln Irina Ruoff darin ein. Nach etwa 20 Minuten ist der Krankenwagen da. Die Sanitäter messen Blutdruck, 60 zu 40, hört Irina Ruoff sie sagen. Sie jagen ihr eine Kochsalzlösung in den Arm, sie braucht die volle Dröhnung, sagen sie und schicken eine zweite hinterher. Irina Ruoff zittert am ganzen Körper, während sie ins Krankenhaus Bietigheim-Vaihingen gefahren wird.
Zweieinhalb Stunden bleibt sie dort. Puls: 79 Schläge pro Minute, Atemfrequenz: 23 pro Minute, Körpertemperatur: 36,7 Grad, Blutdruck: 120 zu 86, notiert die Assistenzärztin im Abschlussbericht. Oben drüber steht: Kollaps. Und Dysmenorrhoe, krampfartige Menstruationsschmerzen. Um 18.45 Uhr entlässt sie Irina Ruoff. Irina Ruoff hat ihre Periode.
Nicht alle Betroffenen haben starke Symptome
Vor vier Jahren kamen die Schmerzen zum ersten Mal. Da ist Irina Ruoff 29, setzt nach 15 Jahren zum ersten Mal die Pille ab. Schleichend werden ihre Regelschmerzen stärker, jeden Monat ein bisschen mehr. Die kleinen blauen Knötchen wachsen, verursachen Druck, Krämpfe, Schmerzen. Vier Tage sind nun jeden Monat geblockt. Kein Sport, keine Ausflüge, wichtige Arbeitstermine verschiebt sie. Joggen gehen wie sonst? Unmöglich. Mit Wärmflasche und Laptop sitzt sie dann im Bett, arbeitet Listen ab, Administratives, wie sie sagt, simple Dinge. Im besten Fall ist sie in dieser Zeit weniger produktiv. Im schlechtesten Fall landet sie im Krankenhaus. Wie schon an einem Sommertag vor drei Jahren. In einem Dönerladen wird ihr plötzlich schwarz vor Augen. Raus, hinsetzen, Füße hoch. Es bringt nichts. Also runter, auf den Asphalt, liegen. Der Verkäufer bringt Ayran, ein Autofahrer sie ins Stuttgarter Marienhospital.
Die Natur meine es nicht gut mit den Frauen, sagt ihr Frauenarzt, der ihr wieder zur Pille rät. Auch in der Familie hört Irina Ruoff: Sei nicht so sensibel. Deshalb macht sie weiter. Sich bloß keine Schwäche anmerken lassen. Irgendwann habe sie dann gedacht: Das ist Bullshit, irgendwas muss da sein, du bildest dir das nicht ein. Bei einer Freundin hört sie das erste Mal von Endometriose. „Nehmen Sie einfach Schmerzmittel“, werde jungen Frauen mit starken Regelschmerzen in Kliniken und Praxen oft geraten, „leider“, sagt Professor Bernhard Krämer später am Telefon. Er leitet das Endometriosezentrum am Tübinger Universitätsklinikum. „Wir kämpfen darum, dass Endometriose bei Patientinnen, bei Ärzten und in der Gesundheitspolitik mehr Anerkennung bekommt.“
Schmerzen während der Periode gelten häufig als normal, Symptome werden verharmlost, die Krankheit wird dadurch erst spät erkannt. „Bis zur Diagnose dauert es sechs, sieben, acht, manchmal zehn Jahre“, sagt Bernhard Krämer. Eine Bauchspiegelung bringt die eindeutige Diagnose, manchmal reicht aber auch schon Ultraschall. Er schätzt, dass in Deutschland etwa 15 bis 20 Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter mit Endometriose leben. Nicht alle haben starke Symptome, nicht immer sind es die gleichen. Die Endometriose ist wie ein Chamäleon.
Kaum Geld für die Forschung
Im Stuttgarter Schlossgarten zieht Irina Ruoff ihren Geldbeutel aus der Jackentasche. Wind wirbelt ihre langen blonden Haare durcheinander, zerrt an ihrem Wintermantel. Die Wolken hängen schwer über dem Park. Zwischen Euromünzen und Dollarscheinen kramt sie nach dem Pillenblister. Sie drückt die kleine weiße Tablette aus der Packung und schiebt sie in den Mund. „Ich bin abhängig von den Dingern. Ich weiß nicht, was ich ohne die Pille machen würde“, sagt sie. Ihr Frauenarzt verschreibt ihr die Pille bereits als Medikament – trotzdem lehnt die Krankenkasse die Kostenübernahme ab.
Die Hormoncocktails von Antibabypille, Spirale oder Hormonpflaster sind eine Möglichkeit, mit Endometriose zu leben. Die anderen: operieren und das Gewebe rausschneiden oder regelmäßig starke Schmerzmittel sowie Hormontherapie. Aufgrund starker Nebenwirkungen und der hohen Wahrscheinlichkeit, dass das Gewebe nachwächst, seien das aber nur temporäre Lösungen, heißt es von der Endometriose-Vereinigung Deutschland.
Endometriose ist behandelbar, aber nicht heilbar. Patientinnen, Medizinerinnen und Mediziner fordern daher die Anerkennung als chronische Krankheit. Und Geld für die Forschung. „Es ist keine bösartige Erkrankung, deshalb wird kaum Geld in die Forschung investiert“, sagt Bernhard Krämer. Gerade einmal 500.000 Euro waren es in den vergangenen 20 Jahren insgesamt. Im Oktober 2022 beschloss der Haushaltsausschuss des Bundes fünf Millionen Euro in die Endometriose-Forschung stecken zu wollen.
Bis heute ist unklar, was die Ursache für die Ansiedlung der vielen blauen Knötchen ist. Eine Theorie sei, sagt Bernhard Krämer, dass es eine Fehlentwicklung ist, eine Art Rückwärtsbluten. Statt wie bei der Periode das Gewebe abzustoßen, bleibt es im Körper, verwächst, verklebt, vernarbt. Und ist einer der häufigsten Gründe für weibliche Unfruchtbarkeit.
Im Stuttgarter Schlossgarten zieht Irina Ruoff die Schultern bis zu den Ohren. Der Wind bläst eisige Luft durch den Park, ein Zug stimmt in das Getöse mit ein. Gänse treiben gackernd ihre Küken zusammen. „Wie süß!“ Irina Ruoff lächelt. „Vielleicht hat es auch seinen Sinn, einmal im Monat ein wenig runterzufahren und auf den Körper zu hören“, sagt sie. Gewissheit könnte künftig ein neuer Speicheltest bringen. Nach 25 Tagen soll er Endometriose anhand von Mikro-RNAs nachweisen können. Bislang ist die Datenlage allerdings schwach: Nur 200 Frauen wurden getestet, und die Kosten sind mit 800 Euro hoch.
Die Diagnose, sie ist ein erster wichtiger Schritt. Noch wichtiger wären für Patientinnen wie Irina Ruoff aber bessere Behandlungsmöglichkeiten. Um das Chamäleon im Bauch nicht nur zu verstehen, sondern es auch zähmen zu können.