Ein Ausländer. Und dann auch noch ein Deutscher. Viele Fußball-Fans in England lehnen die Verpflichtung von Thomas Tuchel als Nationaltrainer aus Prinzip ab. Viele andere glauben aber, dass ausgerechnet er das Mutterland des Fußballs endlich wieder zum Weltmeister machen kann.
Diese nette Statistik könnte dem Selbstverständnis des FC Bayern München nach der so ernüchternd verlaufenen Trainersuche im Frühjahr wieder einen ordentlichen Schub geben. Zwar hat der Rekordmeister in Vincent Kompany offenbar letztlich doch einen sehr passenden Trainer gefunden, doch die Absagen zahlreicher großer Namen haben die Münchner geschmerzt. Denn sie nährten die Erkenntnis, dass die Zeiten vorbei sein könnten, in denen der FC Bayern bei seinem Wunschkandidaten anruft und der nur fragt, wo er denn bitte unterschreiben soll.
Umso erfreulicher für die normalerweise nicht sehr selbstzweifelnden Bayern dürfte dann eben jene Erkenntnis sein, dass es nach dem FC Bayern München nicht mehr viele Vereine geben kann, die einen noch reizen. Eine Statistik, die diese These stützt, hat soeben Thomas Tuchel bestätigt. Denn der hat beim englischen Verband unterschrieben und wird folglich im Mutterland des Fußballs zum 1. Januar Nationaltrainer. Und somit haben die drei letzten Bayern-Trainer nach ihren Engagements in München allesamt Nationalmannschaften übernommen. Hansi Flick und Julian Nagelsmann die deutsche und nun Tuchel eben die englische. Flick ist nach seiner Beurlaubung beim DFB inzwischen zwar wieder bei einem Verein, aber eben beim großen FC Barcelona. Da kann man schon mal eine Ausnahme machen.
Erfüllung eines Fünf-Punkte-Plans
Dass Tuchel neuer Coach der Three Lions wird, wirkt aber auf den ersten Blick so logisch, dass man sich fragt, wieso beide Seiten sich nicht vorher gefunden haben. Schließlich war Tuchel seit seiner insgesamt unglücklichen Zeit in München seit 1. Juli offiziell frei. Und auch sein Vorgänger in England Gareth Southgate hatte seinen Rücktritt nach acht Jahren und zwei erreichten EM-Endspielen sowie Platz drei bei der WM 2018 schon kurz nach dem verlorenen Endspiel bei der EURO in Deutschland gegen Spanien (1:2) erklärt. Doch die Briten hatten erst einmal U21-Nationaltrainer Lee Carsley zum Interimscoach befördert, der in der Nations League von vier Spielen drei gewann, aber auch eine bittere 1:2-Heimniederlage gegen Griechenland hinnehmen musste. Und sie haben neben Tuchel auch viele andere Trainer kontaktiert und dabei ganz augenscheinlich auch groß gedacht. Jürgen Klopp, Pep Guardiola oder Carlo Ancelotti sollen zu den Auserwählten gehört haben.
In vielen Nationen ein Politikum
Laut einem Bericht der „Sport Bild“ gab es die erste Kontaktaufnahme zu Tuchel – der ein Angebot von Manchester United vor der Saison noch als verfrüht nach dem Bayern-Ende abgelehnt haben soll – Anfang September. Dabei soll er sich über die Erfüllung eines Fünf-Punkte-Plans qualifiziert haben. Erstens durch seine nachgewiesene hohe taktische Kompetenz. Zweitens angesichts des großen Wunsches nach dem ersten Titel seit dem WM-Sieg 1966 durch seine gute Bilanz in K.o.-Spielen. Chelsea führte er zum Gewinn der Champions League, Paris Saint-Germain zuvor immerhin ins Endspiel. Drittens eben durch die Fähigkeit Titel zu gewinnen. Viertens durch seinen nachgewiesen guten Umgang mit als schwierig geltenden Spielern oder eigenwilligen Superstars, den er vor allem in Paris mit Neymar unter Beweis stellen konnte. Und fünftens durch eine erwartet „positive Wahrnehmung in der schwierigen englischen Medienlandschaft“, die man nach seiner erfolgreichen Zeit bei Chelsea mit dem Erreichen von sechs Endspielen in anderthalb Jahren erwartete.
Aber ein ausländischer Nationaltrainer ist in den meisten großen Fußball-Nationen ein Politikum. In Deutschland gab es zum Beispiel noch nie einen. In England bis dato zwei, einen schwedischen und einen italienischen. Die die “Daily Mail” als schlechtes Vorbild sieht und zum Anlass nahm, nach der Tuchel-Nachricht zu fragen: „Hat denn niemand aus der ‚Nimm-das-Geld-und-renn‘-Haltung von Sven-Göran Eriksson und Fabio Capello gelernt?“ Auf dem Titel jenes Blattes hieß es: „Ein schwarzer Tag für England“. Und im Text: „England muss bis zum letzten Mann im Trikot englisch sein. Wir brauchen keinen Thomas Tuchel, sondern einen Patrioten, für den das Land an erster, zweiter und dritter Stelle steht.“ Der Nationaltrainer müsse „jemand sein, der in der Fußballkultur dieses Landes geboren und aufgewachsen ist, jemand, der mit den besten und schlechtesten Eigenschaften unseres Landes vertraut ist.“ Der frühere Nationalspieler und heutige TV-Experte Jamie Carragher erklärte, es fühle sich „falsch an“, was aber nicht an Tuchel selbst liege, sondern an dem Umstand. „Es geht nicht nur um England. Ich denke nicht, dass Italien, Deutschland oder Frankreich das tun sollten“, sagte er. „Portugal hat im Moment einen ausländischen Trainer mit Roberto Martinez, was ich seltsam finde. Ich finde, England sollte einen englischen Trainer haben.“
Dabei wehrte sich Ex-Nationalspieler Stuart Pearce gegen die Polemik, die bei vielen Fans und Experten mitschwang: „Wenn ich höre, dass die Leute sagen, dass sie mit einem ausländischen Manager einverstanden sind, nur nicht mit einem deutschen, dann ist das fast lächerlich“, sagte er. „Jetzt mal ehrlich: Wir brauchen mehr englische Trainer mit dem Lebenslauf, den Tuchel hat. Wir schaden uns selbst, wenn wir akzeptieren, dass Thomas Tuchel besser ist als alle anderen englischen Trainer. Wir haben wahrscheinlich den besten Trainer bekommen, der derzeit verfügbar ist.“ Und in Rio Ferdinand erklärte ein weiterer Ex-Nationalspieler und heutiger Experte: „Wenn man sieht, was auf dem Markt war, stand er ganz oben. Die Fans streiten darüber, dass er kein Engländer ist. Mir ist das egal. Wenn wir eine WM oder EM gewinnen, werden alle feiern und nicht sagen: ‚Oh nein, wir haben einen deutschen Trainer!‘“
Mit wunderbarem britischen Spott kommentierte ein User in den sozialen Medien die Kritik an der Wahl Tuchels. „Das ist Großbritannien“, schrieb dieser Simon Harris: „Wir fahren Autos von Mercedes, BMW und Volkswagen. Wir lieben Aldi und Lidl. Wir tragen Adidas. Wir nutzen Bosch-Werkzeuge. Wir trinken Augustiner und Paulaner. Wir singen Mambo No. 5, wenn wir angetrunken sind. Wir feiern Heiligabend mit der meisterhaften Darstellung von Hans Gruber (dem deutschen Bösewicht aus „Stirb langsam“, d. Red.), nachdem wir den Dezember damit verbracht haben, auf Festen für eine Bratwurst Schlange zu stehen. Wir umarmen die deutsche Kultur, wenn es uns passt… aber ein deutscher Manager ist ein Schritt zu weit?“ Und dann endete er auf Deutsch mit den Worten: „Absolute Pferdescheisse!“
Auch viele der oft sonst harschen britischen Medien zeigten sich direkt nach der Verkündung versöhnlich. Für den „Independent“ ist Tuchel „in der Lage, eine ausgefeilte moderne Taktik mit wettkampftauglichem Pragmatismus zu verbinden“. Außerdem kenne er viele Spieler aus seiner Zeit bei Chelsea und nicht zuletzt Kapitän Harry Kane aus der Zusammenarbeit in München. Das Boulevardblatt „The Sun“ garnierte sein Lob mit Ironie. „Thomas Tuchel besitzt alle Voraussetzungen, um ein typischer englischer Trainer zu werden“, hieß es dort. „Taktisches Geschick, Tatkraft, Energie, Erfahrung – und ein verworrenes Liebesleben.“ Es folgte die Aufforderung: „Der englische Fußball sollte den explosivsten, dynamischsten, charismatischsten und unmöglich groß en und schlaksigsten Trainer, der je in der Premier League für Furore gesorgt hat, wieder willkommen heißen.“ Und das tat auch der britische Thronfolger Prinz William, der seit 2006 formell Vorsitzender des Verbandes FA ist. „Thomas, wir wünschen Dir viel Glück und stehen alle hinter Dir!“, schrieb er in einer als von ihm selbst verfasst gekennzeichneten Nachricht in den sozialen Medien. Es kämen nun „spannende Zeiten“ auf den englischen Fußball zu, „mit einer neuen Generation talentierter Spieler und einem neuen Manager, der die Zügel in die Hand nimmt“.
Gutes Verhältnis zu Harry Kane
Disziplin und die Fähigkeit, Elfmeter zu schießen schätzen sie auf der Insel am deutschen Fußball-Klischee sehr. Ein großer Pluspunkt für Tuchel ist aber auch seine Bande zu Kane, dem Kapitän und Rekordtorschützen. Von der Tuchel-Verpflichtung sei er „begeistert“, sagte der Torjäger, dem in München tatsächlich ein ausgesprochen gutes Verhältnis zum Trainer nachgesagt wurde. „Er ist ein fantastischer Trainer, eine fantastische Person“, sagte der 31-Jährige, der im gemeinsamen Bayern-Jahr immer noch nicht seinen Traum von einem Titel erfüllen konnte, aber 44 Pflichtspiel-Treffer erzielte: „Ich denke, das ist eine großartige Verpflichtung für uns. Wir waren als Nationalmannschaft zuletzt nahe dran, etwas Großes zu gewinnen. Uns fehlt noch dieser letzte Schritt. Ich hoffe, dass Thomas dieses Puzzlestück sein kann.“
Und sollte dies im WM-Triumph 2026 in Nordamerika gipfeln, wäre tatsächlich wohl jedem englischen Fußball-Fan egal, woher der Trainer am Ende stammt.