Am 16. September 1979 gelang zwei Familien aus dem thüringischen Pößneck eine der spektakulärsten Fluchten aus der DDR – mithilfe eines von ihnen in Heimarbeit gefertigten Heißluftballons.
Sprichwörtlich mit der heißen Nadel waren die letzten Vorarbeiten für ein ebenso spektakuläres wie risikoreiches Unternehmen abgeschlossen worden. Erst gegen 22 Uhr am Abend des 15. September 1979 hatte der 24 Jahre alte gelernte Maurer Günter Wetzel die finalen Verschnürungen an einer in wochenlanger Heimarbeit entstandenen Ballonhülle fertigstellen können. Bis zuletzt hatte er die gewaltigen Stoffbahnen mit einer Fläche von mehr als 1.200 Quadratmetern und einem Füllvolumen von mehr als 2.000 Kubikmetern Luft miteinander verbinden müssen. Ob der im aufgeblasenen Zustand rund 28 Meter hohe und 20 Meter breite Ballon wirklich flugfähig sein würde, konnte nicht mehr überprüft werden. Ein Test war mangels Zeitnot nicht möglich.
Wetzel und sein befreundeter Kompagnon Peter Strelzyk, 37, die Arbeitskollegen beim Kunststoffhersteller VEB Polymer Pößneck in der thüringischen, damals 20.000 Einwohner zählenden Stadt Pößneck waren, wussten dank Wettervorhersagen aus dem grenznahen fränkischen West-Radio, dass an diesem Abend geradezu ideale Bedingungen für ihr geplantes Flucht-Projekt herrschen würden. Die Prognosen verkündeten einen konstanten Nordwind, mit dessen Hilfe der Heißluftballon die vergleichsweise kurze Strecke Richtung Süden in die erhoffte Freiheit der Bundesrepublik theoretisch schaffen könnte. Von Pößneck im Bezirk Gera bis zum oberfränkischen Städtchen Naila mit seinen 7.000 Einwohnern waren es gerade einmal 50 Kilometer.
Idee für Ballon aus Westzeitschrift
Ein Verschieben ihres Vorhabens auf einen späteren Termin mit ähnlich guten Windbedingungen war keine Option. Früher oder später wäre ihnen die Staatssicherheit, Stasi, auf die Schliche gekommen. Peter Strelzyk hatte in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1979 im Alleingang mit seiner Familie bereits einen Fluchtversuch unternommen, doch dieser missglückte wegen einer Panne. Nachdem die Stasi-Behörden entsprechende Spuren des Versuchs entdeckt hatten, starteten sie am 14. August 1979 einen Fahndungsaufruf in der thüringischen SED-Zeitung „Volkswacht“. Eher früher als später mussten die Familien damit rechnen, entdeckt zu werden. Zumal sie einen Teil der für diesen Ballon benötigten Stoffbahnen mit einem nachverfolgbaren Scheck bezahlt hatten. Alle Beteiligten standen entsprechend unter erheblichem Druck.
Am 27. Juli 1979 hatte sich Günter Wetzel dazu durchgerungen, beim Bau des insgesamt dritten Ballons wieder mitzumachen, nachdem er einige Monate zuvor ausgestiegen war. Die Idee, die DDR nicht auf dem schier aussichtslosen Weg über Land oder über die Ostsee, sondern mittels eines Heißluftballons zu verlassen, war Wetzel beim Durchblättern einer Zeitschrift gekommen, die eine im Westen beheimatete Verwandte bei einem DDR-Besuch mitgebracht hatte. Darin war über ein Ballonfahrer-Treffen in Albuquerque in New Mexico berichtet worden. „Und da habe ich gedacht“, sagte Wetzel später, „das kann doch gar nicht so schwer sein, so ein Ding zu bauen. Und die Idee habe ich dann dem Peter Strelzyk vorgestellt.“
Heimlich hatten sie sich ab März 1978 Fachliteratur zur Aerodynamik beschafft. Dennoch waren beide Männer in Sachen Heißluftballons blutige Laien, wobei Peter Strelzyk eine frühere Ausbildung zum Luftfahrtmechaniker und eine vormalige Tätigkeit als Elektromonteur zugutekam. Entsprechend beschäftigte er sich vor allem mit dem Brennersystem unter Verwendung von Propangasflaschen, während sich Wetzel mithilfe einer mechanischen Nähmaschine vornehmlich der Herstellung der Ballonhülle annahm. Die erste Ballonhülle mit einem Volumen von rund 1.800 Kubikmetern, vornehmlich aus Futterstoff für Lederwaren gefertigt, erwies sich bei Tests im April 1978 als zu grobmaschig, um genügend Heißluft aus dem improvisierten Gasbrenner halten zu können.
Der zweite Ballon mit einem Volumen von rund 2.200 Kubikmetern, nun vor allem aus Fallschirmseide und Zeltnylon mit Teilen aus Taft und Bettinlett gearbeitet, erwies sich auch dank eines verbesserten Gebläses am 4. Juli 1979 zwar als flugtauglich, geriet aber nach dem Aufstieg in einen Wolkennebel, wodurch sich die Hülle voll Wasser saugte. Entsprechend sank der Ballon und ging in einem Waldstück unmittelbar vor dem Grenzsperrgebiet zu Boden. Familie Strelzyk konnte zwar unerkannt entkommen, doch musste sie sämtliche Requisiten ihres Fluchtversuchs zurücklassen.
Für den dritten Ballon hatten die beiden Familien das nötige Material, das im Wesentlichen dem des zweiten entsprach, in vielen kleinen Posten bei Reisen quer durch die gesamte DDR erworben. So wollten sie vermeiden, durch den Kauf größerer Mengen Stoffes den schon alarmierten Stasi-Beamten in die Hände zu fallen. Auf versuchte Republikflucht standen drakonische Strafen.
In der Nacht vom 15. auf den 16. September 1979 schließlich nahmen die Familien Wetzel und Strelzyk samt vier Söhnen im Alter von zwei, fünf, elf und 15 Jahren den dritten Versuch zur Flucht aus der DDR in Angriff. Auf Nebenstrecken fuhr das achtköpfige Team in einem kleinen Wartburg samt Anhänger, in dem die rund 100 Kilogramm schwere Ballonhülle, ein Flammenwerfer, Propangasflaschen und eine selbst geschweißte Metall-Gondel-Plattform Platz fanden, sowie auf einem Moped zum Startplatz Richtung fränkische Grenze. Gegen 1 Uhr kamen sie auf einer Waldlichtung zwischen Oberlemnitz und Heinersdorf an, die rund 15 Kilometer südöstlich der grenznahen und von Pößneck gerade mal rund 30 Kilometer entfernten Gemeinde Probstzella und direkt oberhalb der Bahnlinie Saalfeld-Lobenstein lag. Von Probstzella ins fränkische Naila betrug die Entfernung nur rund 50 Kilometer. Vom Startort bis nach Bayern waren es demnach noch 15 Kilometer weniger. Mangels eigener Ballon-Steuerungsfähigkeit hofften die Flüchtenden auf die Windrichtung Nordwest, aber der Nordost-Wind trug sie schließlich in Richtung Naila im bayrischen Landkreis Hof.
Nach 28 Minuten kein Gas mehr
Ab 1.30 Uhr begann bei sternenklarer Nacht der Aufbau des Ballons. Gegen 2.30 Uhr hob das Gefährt ab, wobei sich die acht Personen rund um die vier Propangasflaschen auf der gerade mal 1,40 Meter mal 1,40 Meter kleinen Plattform zusammendrängen mussten. Als einzige Sicherung waren an den vier Gondel-Ecken 80 Zentimeter hohe Pfosten angebracht, die mit einer Wäscheleine verbunden waren. Ein kurz nach dem Start aufgetretenes Feuer, das die Stoffbahnen zu zerstören drohte, konnte mittels eines Feuerlöschers gelöscht werden. Meter um Meter stieg der Ballon in die Höhe, wobei er ins Visier der DDR-Grenzpolizei am auch nachts betriebenen Autobahngrenzübergang Hirschberg geriet. Sogleich wurde der Himmel mittels Suchscheinwerfern in helles Licht getaucht. Erst ab einer Flughöhe von rund 2.500 Metern konnten sich die bei minus acht Grad bibbernden Flüchtenden dem Scheinwerfer-Zugriff entziehen. Nach einer Flugzeit von 28 Minuten ging das Gas zur Neige. Der Ballon glitt auf einer Lichtung inmitten eines Waldstückes zu Boden, wobei er nur knapp eine rund 300 Meter entfernt stehende Hochspannungsleitung verfehlte.
Strelzyk kehrte nach Wende zurück
Da die Familien nach der Landung nicht wussten, wo sie sich befanden und ob ihnen tatsächlich die Flucht auf das Gebiet der Bundesrepublik gelungen war, begaben sich die beiden Männer auf Erkundungstour, während sich die übrigen Angehörigen im Grün verstecken mussten. Übrigens hatte auch nicht einmal die Luftsicherung der Bundeswehr auf dem nahen Döbraberg bei Naila den Ballon bemerkt. Anhand von Aufschriften an Strommasten und der Modelle von Landmaschinen eines Bauernhofes wurde den beiden Männern schnell klar, dass sie sich tatsächlich auf westlichem Terrain befanden. Endgültige Gewissheit brachten ihnen zwei Polizisten, die ihnen auf ihre Frage „Sind wir hier im Westen?“ mit „Natürlich, wo denn sonst“ geantwortet hatten. Außer sich vor Glück zündeten die beiden Männer daraufhin eine eigens mitgebrachte Silvester-Rakete, um damit auch ihre Angehörigen herbeizurufen.
Natürlich war die geglückte Flucht danach eine Riesenstory in den hiesigen wie auch den internationalen Medien. Sie wurde 1982 auch auf der Kino-Leinwand im US-Spielfilm „Mit dem Wind nach Westen“ und später nochmals 2018 durch Michael Herbigs Thriller „Ballon“ verewigt. Im Frühjahr 1989 wählte ein DDR-Ingenieur übrigens den gleichen Fluchtweg. Er stürzte aber mit seinem Ballon ab und erlag dabei seinen Verletzungen.
Aus Sicht der DDR-Sicherheitsbehörden war das Ereignis vom September 1979 eine gigantische Schmach. Weshalb die Stasi beide Familien, die sich bald zerstritten, durch sogenannte Inoffizielle Mitarbeiter (IM) selbst noch im Westen jahrelang bespitzeln ließ. Günter Wetzel fand nach einer Umschulung zum Kfz-Mechaniker eine Anstellung bei einem Autohandel im Raum Hof und stellte später seine Webseite ballonflucht.de ins Netz.
Peter Strelzyk eröffnete ein Elektrogeschäft in Bad Kissingen, kehrte nach der Wende in sein früheres Haus in Pößneck zurück und publizierte 1999 das Buch „Schicksal Ballonflucht“. Er verstarb im März 2017. Die Ballonhülle ist heute im Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg zu sehen, die Gondel im Mauermuseum am Berliner Checkpoint Charlie.