Mit Lecanemab wurde in der EU erstmals ein Medikament zugelassen, das den Verlauf von Alzheimer im Frühstadium verlangsamen kann. Die Zulassung ist ein medizinischer Meilenstein – aber auch mit vielen offenen Fragen verbunden.

Sie sitzt auf der Bettkante ihres Vaters. Der ältere Herr starrt ins Leere, sein Blick wandert über die Blümchentapete, als würde er sie zum ersten Mal sehen. „Weißt du noch, wie wir früher immer hier Schach gespielt haben?“, fragt sie leise. Er antwortet nicht. Vor wenigen Jahren hätte er noch gelacht, einen Zug gemacht, vielleicht sogar geschummelt. Heute kennt er nicht einmal mehr die Regeln. Es ist ein langsames Verschwinden – Tag für Tag ein bisschen mehr. Für sie ist es das Herzzerreißendste, was sie je erlebt hat: ihren Vater zu verlieren, obwohl er noch lebt.
Etwa 27 Prozent langsamer
Solche Szenen spielen sich tagtäglich ab. Allein in Deutschland leben schätzungsweise 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, von denen die meisten an Alzheimer erkrankt sind. Für sie und ihre Angehörigen könnte sich nun ein neues Fenster der Hoffnung öffnen. Die Europäische Kommission hat kürzlich ein Medikament zugelassen, das vielen Alzheimer-Patientinnen und -Patienten eine neue Perspektive bieten könnte: Lecanemab. Es handelt sich dabei um einen neuartigen Wirkstoff, der sich direkt gegen einen der Hauptverursacher der Alzheimer-Krankheit richtet: sogenannte Beta-Amyloid-Ablagerungen im Gehirn. Diese Eiweißansammlungen stehen schon seit Langem im Verdacht, eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Alzheimer zu spielen. Lecanemab soll diese erkennen und abbauen, um so das Fortschreiten der Krankheit immerhin zu verlangsamen. Und das scheint auch zu gelingen: In klinischen Studien wurde gezeigt, dass Lecanemab bei Menschen in einem frühen Stadium der Erkrankung den kognitiven Abbau um etwa 27 Prozent verlangsamen kann – ein Wert, der in der Medizin zwar nicht als spektakulär, aber dennoch als klinisch bedeutsam gilt.
Der Weg zur EU-Zulassung sollte dennoch alles andere als einfach werden. Im Sommer 2024 hatte die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) noch empfohlen, dem Präparat keine Zulassung zu erteilen. Als Grund nannte die Behörde ein aus ihrer Sicht „ungünstiges“ Nutzen-Risiko-Verhältnis. Die Bedenken bezogen sich vor allem auf mögliche Nebenwirkungen. Bei einem nicht unerheblichen Teil der Studienteilnehmer – runden 17 Prozent – kam es zu sogenannten ARIA-Ereignissen, also Schwellungen oder kleinen Blutungen im Gehirn, die unter anderem mithilfe regelmäßiger MRTs kontrolliert werden müssen. Für Menschen mit einer bestimmten genetischen Variante, dem ApoE4-Gen, ist das Risiko dabei sogar erhöht. Dennoch empfahl die EMA schließlich – wohl auch unter dem Druck medizinischer Fachgesellschaften und Alzheimer-Verbände – eine eingeschränkte Zulassung für bestimmte Patientengruppen. Nur wer sich in einem sehr frühen Stadium der Krankheit befindet und nachweislich Beta-Amyloid-Ablagerungen im Gehirn hat, soll Lecanemab verschrieben bekommen. Die Behandlung muss zudem engmaschig überwacht werden.
In der Fachwelt wurde die ursprüngliche Ablehnung der EMA mit großem Unverständnis aufgenommen. Professor Christian Haass, Alzheimer-Forscher am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), sprach offen von einer „nicht nachvollziehbaren“ Entscheidung. Er betonte, dass Lecanemab nicht nur die Amyloid-Ablagerungen im Gehirn reduziere, sondern auch andere pathologische Prozesse positiv beeinflusse. Haass selbst forschte in einem Team an dem Medikament. In den USA, wo Lecanemab bereits seit Anfang 2023 zugelassen ist, sei es längst Teil der Behandlungsrealität geworden. Für Haass und viele andere Fachleute ist klar: Auch wenn Lecanemab keine Heilung bietet, so ist es doch ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung – nämlich hin zu einer kausalen Therapie, die das Fortschreiten der Krankheit verlangsamt, anstatt nur die Symptome zu lindern.
Engmaschige Betreuung
Die Zulassung von Lecanemab ist also durchaus ein Durchbruch, wenn auch ein vorsichtiger. Denn der Nutzen des Medikaments hängt stark vom richtigen Einsatz ab. Damit sind auch ethische Fragen verbunden: Wer bekommt Zugang? Wer trägt die Kosten? Und wie bereitet man das Gesundheitssystem darauf vor, dass künftig Millionen Menschen frühzeitig auf Alzheimer getestet werden, um möglicherweise von dieser Behandlung zu profitieren? Experten fordern daher nicht nur medizinische, sondern auch politische Weichenstellungen. Es brauche ein Netzwerk von Gedächtnisambulanzen, spezialisierten Zentren und Hausärzten, die frühzeitig sensibilisiert sind, sowie eine grundlegende Debatte über den Zugang zu innovativen, wenn auch teuren Therapien. Besonders herausfordernd ist dabei die Frage der sozialen Gerechtigkeit: Wird Lecanemab nur für Menschen verfügbar sein, die sich eine frühe Diagnostik und engmaschige Betreuung leisten können? Oder gelingt es, ein Versorgungssystem zu schaffen, das niemanden zurücklässt?
Neben den vielen offenen Fragen warnen auch Fachleute davor, die Hoffnung zu hoch zu schrauben. Alzheimer bleibt nach wie vor unheilbar. Lecanemab kann den Verlauf verlangsamen, nicht aber aufhalten oder gar rückgängig machen. Für viele Betroffene ist aber jede Verzögerung, jeder gewonnene Monat mit klarem Geist, ein Geschenk. Auch Angehörige berichten, wie wichtig es sei, das Gefühl zu haben, etwas tun zu können und nicht mehr nur zuzusehen.

Nicht zuletzt bleibt abzuwarten, wie schnell das Medikament nun tatsächlich auf den Markt kommt. In Ländern wie Spanien etwa wird mit einer Verfügbarkeit frühestens in eineinhalb Jahren gerechnet. Deutschland könnte da tatsächlich etwas schneller sein, da hier bereits Strukturen existieren, die eine frühzeitige Alzheimer-Diagnose ermöglichen. Dennoch ist es eine Herausforderung, die betroffenen Menschen rechtzeitig zu identifizieren, da Alzheimer oft erst spät erkannt wird – häufig dann, wenn eine Therapie mit Lecanemab nicht mehr sinnvoll wäre. So vielversprechend der medizinische Fortschritt also auch sein mag: Die Einführung von Lecanemab wird nicht nur eine medizinische, sondern auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Es braucht mehr Aufklärung, bessere Diagnostik und klare Regeln, wie mit dem neuen Medikament umzugehen ist. Wenn das gelingt, könnte Lecanemab der Anfang einer neuen Ära in der Alzheimer-Therapie sein – einer Ära, in der man der Krankheit nicht mehr nur zusehen muss, wie sie langsam das Gedächtnis löscht, sondern in der man zumindest den Finger auf den Pause-Knopf legen kann.