Du „ENFP“, ich „INFJ“? Vor 80 Jahren erfanden zwei Frauen einen Persönlichkeitstest, der die Welt eroberte. Dabei ist der „Myers-Briggs-Typenindikator“ kaum besser als ein Horoskop. Was steckt hinter dem Millionengeschäft?

In einem Arbeitszimmer in Washington D. C. sitzen Katharine Cook Briggs und Isabel Briggs Myers umgeben von Büchern und Notizen. Die Abendsonne fällt durch das Fenster, während die beiden Frauen diskutieren. Es ist 1943, und sie stehen kurz vor dem Durchbruch ihres ehrgeizigen Mutter-Tochter-Projekts: einem simplen System zur Erfassung der menschlichen Persönlichkeit.
Der „Myers-Briggs-Typenindikator“ (MBTI), dessen Urfassung sie ein Jahr später veröffentlichen, wird bald zum bekanntesten Persönlichkeitstest der Welt. In 29 Sprachen übersetzt, testen sich damit heute jährlich Millionen von Menschen. Sie erhoffen sich davon, mehr darüber zu erfahren, wer sie sind, was sie ausmacht und zu wem sie passen. So ist das Charakter-Raster nicht nur auf Instagram und Tiktok Thema, auch auf Dating-Apps geben viele Suchende neben Hobbys, Kinderwunsch und Lieblingssong ihren „Myers-Briggs-Typ“ an.
Originaltest ist kostenpflichtig
Ermittelt wird dieser mit einer Reihe von Fragen, bei denen man sich immer wieder zwischen zwei Optionen entscheiden muss, zum Beispiel: „Tendieren Sie dazu, Ihre Gedanken und Gefühle A) zu zaghaft oder B) zu heftig zu äußern?“ – „Würden Sie lieber mit jemandem befreundet sein, der A) viele neue Ideen hat oder B) mit beiden Beinen auf der Erde steht?“ – „Mögen Sie lieber A) Kriminalromane oder B) Liebesromane?“. Das Original ist kostenpflichtig, online finden sich aber auch einige Gratistests, die auf dem Myers-Briggs-Typenindikator basieren.
Am Ende steht ein Persönlichkeitstyp, der sich aus vier Buchstaben zusammensetzt. Sie stehen dafür, ob eine Person laut Myers-Briggs introvertiert (I) oder extravertiert (E) ist, die Welt intuitiv (N) oder über ihre Sinne (S) wahrnimmt, sich mehr auf ihre Gefühle (F) oder ihren Verstand (T) verlässt und ob sie lieber spontan (P) aufgrund der aktuellen Lage entscheidet oder sicher (J) aufgrund stabiler Überzeugungen. Aus den möglichen Kombinationen ergeben sich 16 verschiedene Typen, zum Beispiel „INFJ“. Dieser Persönlichkeitstyp ist laut MBTI an Ideen interessiert, setzt auf Intuition, lässt sich von seinen Gefühlen leiten, vertritt aber zugleich entschieden seine Meinung.
Katharine Cook Briggs, laut Überlieferung selbst Typ INFJ, ist Hausfrau und Hobbyforscherin. Sie möchte wissen, wie sich Menschen psychologisch voneinander unterscheiden und wie man sie am besten individuell fördert. In ihrem Wohnzimmer betreibt sie Anfang des 20. Jahrhunderts eine Art Babylabor, in dem sie die Fortschritte ihrer kleinen Tochter Isabel protokolliert. Bald bringen auch die Nachbarn ihre Kinder zu ihr, um Berichte über den Entwicklungsstand und die Eigenheiten ihrer Sprösslinge zu erhalten. Auf der Suche nach einem wissenschaftlichen Persönlichkeitsmodell stößt Cook Briggs Jahre später auf die Ideen des Schweizer Psychiaters und Freud-Schülers Carl Gustav Jung. Jung hatte sich bereits Gedanken darüber gemacht, wie man Menschen anhand ihres Wesens in Gruppen einteilen könnte und das Ergebnis 1921 in seinem Buch “Psychologische Typen” veröffentlicht.
Inspiriert davon, beginnt Cook Briggs die Arbeit an einem Instrument zur Typenbestimmung. Vom Forschergeist der Mutter angesteckt, beschließt Isabel Briggs Myers – inzwischen erwachsen –, ihr dabei zu helfen. Sie ist beseelt von der Idee, mit einem einfachen Test die Stärken und Vorlieben eines jeden Menschen zu ermitteln. Anhand des Charakters sortiert, könnten alle Amerikanerinnen und Amerikaner zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs ihren optimalen Platz in Industrie oder Militär einnehmen, so die Theorie. Dass ihr System funktioniert, schließen die Erfinderinnen und ihre Anhänger daraus, dass sie bei Testdurchläufen bestimmte Typen in gewissen Berufen bereits gehäuft vorfinden.
„Zu viel Information geht verloren“
Auch neuere Versionen des Myers-Briggs-Typenindikators stützen sich auf dieses Argument. Laut Testmanual hätten sich in einer Befragung von 312 US-amerikanischen Restaurantleitern 28 Prozent als Typ „ESTJ“ entpuppt. Der gilt als effizienter Organisator – analytisch, zielorientiert und entscheidungsfreudig. Als Lehrerin oder Coach eignen sich laut dem Typenindikator „ENFPs“ ganz besonders. Sie seien enthusiastisch, sozial geschmeidig und könnten mit ihrer Begeisterung andere anstecken. Das Typensystem ist einfach und übersichtlich. Nur leider funktioniert es nicht, wie man heute weiß. Was den Reiz des Myers-Briggs ausmacht, ist zugleich sein größtes Problem: Er steckt Menschen in Schubladen. Nur 16 Charaktervarianten lässt der beliebte Test zu. Damit werden Millionen in eine einzige Kategorie gepresst. Im besten Fall ist eine Charakterdiagnose im Schubladenformat äußerst ungenau, im schlimmsten Fall blanker Unsinn. „Typenlehren wie das Myers-Briggs-System sind veraltet“, sagt Marcus Roth, Professor für Differentielle Psychologie an der Universität Duisburg-Essen, der sich mit der historischen Entwicklung von Persönlichkeitsmodellen beschäftigt. Gemeinsam mit einem Kollegen startete er 2007 noch einmal einen Versuch, mit modernen statistischen Methoden in einer Fülle von Persönlichkeitsdaten Typen aufzuspüren. Inzwischen sieht er das Projekt als gescheitert: „Es geht zu viel Information verloren. Teils unterscheiden sich Menschen innerhalb eines vermeintlichen Typs stärker als Menschen unterschiedlichen Typs.“
Schubladenlogik als Kritikpunkt
In der Wissenschaft versucht man, die Persönlichkeit eines Menschen möglichst genau zu erfassen, um daraus zum Beispiel Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich die Person in bestimmten Situationen verhalten könnte oder ob sie anfällig für eine bestimmte psychische Erkrankung ist. Hierfür haben sich Tests bewährt, die auf dem „Big Five“-Modell basieren. Statt eines groben Typs erhält man hier ein individuelles Profil, das ein weitaus feineres Bild zeichnet. Gängige Big-Five-Fragebögen erlauben so viele verschiedene Antwortkombinationen, dass theoretisch jeder Mensch auf der Erde ein einzigartiges Ergebnis erhalten könnte.
Doch die Schubladenlogik ist nicht das einzige Problem des Myers-Briggs-Typenindikators. Ein weiterer Schwachpunkt ist sein Schwarz-Weiß-Denken. Das zeigt sich am Beispiel Extraversion, einem Persönlichkeitsmerkmal, das auch im Big-Five-Modell vorkommt. Die Verteilung dieses Merkmals in der Bevölkerung folgt grob einer Glockenkurve: Die meisten bewegen sich im Mittelfeld, nur die wenigsten haben eine extreme Ausprägung und sind somit eindeutig extra- oder introvertiert, wie es der Myers-Briggs behauptet. Laut ihm ist jeder Mensch entweder „E“ oder „I“, Graustufen gibt es nicht.
„So ein Entweder-oder-Ergebnis ergibt einfach keinen Sinn“, sagt Stefan Schmukle, Professor für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Universität Leipzig. „Menschen sind nicht ganz oder gar nicht – immer gesellig oder völlig in sich gekehrt – die allermeisten liegen irgendwo dazwischen.“ Anerkannte Persönlichkeitsmodelle tragen dem Rechnung, indem sie jedes Charaktermerkmal als Spektrum mit fließenden Übergängen ansehen. Der Myers-Briggs aber kennt für jede Säule der Persönlichkeit nur zwei Ausprägungen. Damit drängt er Menschen künstlich an die Ränder der Verteilung und misst ausgerechnet in der stark vertretenen Mitte schlecht.
„So kann es passieren, dass bei ein und derselben Person einmal ‚ENFT‘ herauskommt und zwei Wochen später ‚INFT‘. Man beantwortet nur ein paar Fragen anders und ist plötzlich nicht mehr ‚E‘ sondern ‚I‘ – das genaue Gegenteil“, so Schmukle. Das mache den Myers-Briggs als Test für die Persönlichkeit unbrauchbar. Denn die umfasst ja gerade das, was uns langfristig ausmacht und sollte sich nicht ständig verändern.
Dass das Vier-Buchstaben-Urteil tatsächlich nicht sehr zuverlässig ist, zeigen Untersuchungen – etwa eine, die 1979 im Journal „Research in Personality Type“ erschien. Wer beim ursprünglichen Myers-Briggs-Test einen moderaten Wert erreicht hatte, fiel häufig beim nächsten Versuch in die entgegengesetzte Kategorie. Ein Wechsel von „E“ nach „I“ oder umgekehrt geschah bei knapp einem Drittel derer der gut hundert Getesteten, deren ursprünglicher Wert im Mittelfeld gelegen hatte. Ebenso verhielt es sich mit „S“ und „N“, „T“ und „F“ sowie „J“ und „P“. Immerhin ein Viertel der Moderaten wechselte zwischen „S“ und „N“. Der Anteil der Wechsler unterscheidet sich je nach Studie. Japanische Forschende kamen 1997 zu folgendem Ergebnis: In einem erneuten Myers-Briggs-Test nach drei Monaten Pause änderte sich bei rund zwei Drittel von 88 Studierenden mindestens ein Buchstabe.
Dass die meisten Studien zum Typenindikator mehr als 25 Jahre alt sind, hat einen einfachen Grund: In der seriösen Wissenschaft spielt er längst keine Rolle mehr. Persönlichkeitstests, die sich bewährt haben, zeigen ähnlich wie IQ-Tests, wo man mit seinen Antworten im Vergleich zu anderen steht – zum Beispiel, dass man unterdurchschnittlich gewissenhaft, aber überdurchschnittlich offen ist. Gute Tests sind also geeicht. Schließlich gibt es kein absolutes Maß für Persönlichkeit. Erst im Vergleich mit anderen zeigen sich unsere Eigenheiten.
Hier offenbart sich die letzte große Schwäche des Myers-Briggs: Bei seiner Auswertung wird schlicht gezählt. Hat jemand mehr Antworten gegeben, die zu Extraversion passen als Antworten, die auf Introversion abzielen? Dann ist er extravertiert! Wie das Gros der Bevölkerung auf die gleichen Fragen reagiert, ist egal. Auf dieser Grundlage attestiert eine Version des Myers-Briggs-Testmanuals 75 Prozent der US-Bevölkerung Extraversion.
„Das ist recht abenteuerlich“

„Das ist recht abenteuerlich“, meint Stefan Schmukle. „Wenn ich so vorgehe, hängt alles von der Wortwahl des Tests ab. Ich könnte ohne Probleme die Antwortmöglichkeiten so umformulieren, dass mehr Menschen zu „E“ tendieren, und plötzlich sind 90 Prozent extravertiert.“
INFJ, ENFP – die Vergabe dieser Charakteretiketten grenzt also letztlich an Willkür. Doch eines macht der Myers-Briggs so gut wie kein anderer Persönlichkeitstest. Seine Ergebnisse, anschaulich und schmeichelhaft, erzählen uns Geschichten über uns, die wir nur allzu gern glauben möchten. Wer sieht sich nicht gern als „inspirierenden Optimisten“, „energischen Problemlöser“ oder „tiefgründigen Visionär“? Dass die blumigen Texte scheinbar voll ins Schwarze treffen, liegt dabei an einem bekannten psychologischen Phänomen. Ähnlich wie bei Horoskopen greift hier sehr wahrscheinlich der „Barnum-Effekt“, unsere Neigung, allgemeingültige Aussagen als perfekt auf uns zugeschnitten zu empfinden. Auch die Astrologie, die Menschen anhand des Sternenhimmels bei deren Geburt einem Persönlichkeitstyp zuordnet, betont auf vage Art positive Charakterzüge, mit denen man sich gerne identifiziert, etwa „Wenn es hart auf hart kommt, kann man sich zu hundert Prozent auf dich verlassen“. Und schon ist man „typisch Stier“ – oder eben „typisch INFJ“.
Katharine Cook Briggs und Isabel Briggs Myers haben mit ihrem Typentest einen Nerv getroffen. Doch die Persönlichkeitsforschung hat sich seitdem weiterentwickelt. So ist der 80 Jahre alte Test ein Produkt seiner Zeit, die erstaunliche Leistung zweier Frauen, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf eigene Faust das menschliche Wesen ergründeten. Doch es irrt, wer heute noch am Myers-Briggs festhält und mehr davon erwartet als seichte Unterhaltung.