Der Fachkräftemangel wird zu einem immer größeren Problem. Doch Nachwuchs, der für Entlastung sorgen könnte, fehlt. DIHK-Ausbildungsexperte Markus Kiss kennt Gründe und Lösungsansätze.
Herr Kiss, noch nie war es schwieriger für die Betriebe, geeignete Azubis zu finden. 42 Prozent aller IHK-Ausbildungsbetriebe konnten im vergangenen Jahr nicht alle angebotenen Ausbildungsplätze besetzen. Welche Branchen sind besonders betroffen? Warum?
Noch vor wenigen Jahren mussten junge Menschen sich bei den Betrieben anstellen, um einen Ausbildungsplatz zu finden. Inzwischen müssen sich viele Ausbildungsbetriebe bei den jungen Menschen anstellen. Von den von ihnen genannten 42 Prozent der befragten Betriebe gab in unserer DIHK-Ausbildungsumfrage gut ein Drittel an, sie hätten noch nicht einmal eine einzige Bewerbung erhalten. Hochgerechnet waren das 27.000 Betriebe, die im vergangenen Jahr völlig leer ausgingen. Der Bewerbermangel zieht sich durch alle Branchen – vom Gastgewerbe über Verkehr, Industrie bis zum Handel. Der IT- und Medienbranche oder der Immobilienwirtschaft gelingt es hingegen noch etwas leichter, ihre Stellen zu besetzen.
Doch überall wirkt die Corona-Pandemie nach. Berufsorientierung, Ausbildungsmessen und Praktika in den Betrieben konnten nicht oder nur sehr eingeschränkt stattfinden. Virtuelle Angebote waren kein vollwertiger Ersatz. Das hat zu Verunsicherungen bei der Berufswahl von Jugendlichen geführt.
Mitarbeiter der Gastronomie oder der Tourismusbranche haben sich nach der Corona-Krise sicherere Jobs gesucht. Doch nun fehlen im Grunde in allen Branchen Mitarbeiter. Was ist passiert? Oder hat Corona nur einen bereits bestehenden Missstand deutlich gemacht?
Der Fachkräftemangel spitzt sich in der Tat zu – besonders im Bereich der beruflich Qualifizierten. Rund jedes zweite Unternehmen, das längerfristig Stellen nicht besetzen kann, sucht erfolglos Fachkräfte mit einer abgeschlossenen Ausbildung. Corona hat die schon vorher bestehenden Herausforderungen nur verschärft. Uns holt vor allem der demografische Wandel ein. Wir haben heute rund 100.000 weniger Schulabgänger als vor zehn Jahren. Und in den nächsten Jahren verlassen pro Jahr bis zu 400.000 Beschäftigte mehr den Arbeitsmarkt als neu hinzukommen.
Immer mehr junge Menschen studieren ohne die anschließend erhoffte Karriere; Ausbildungsberufen fehlt der Nachwuchs. Was müsste sich ändern?
Ganz so eindeutig ist der Trend zum Studium gar nicht. Nachdem die Zahl der Studienanfänger jahrelang gestiegen ist, sinkt sie inzwischen. Und der Anteil der Abiturienten unter den Azubis in der dualen Ausbildung liegt bei immerhin rund 30 Prozent. Was wir allerdings sehen, ist eine Verschiebung hin zu den gesellschaftlich wichtigen Pflege- und Gesundheitsberufen. Was aber allzu häufig stimmt: Zu viele Jugendliche glauben noch immer, dass der Weg zum beruflichen Glück nur durch ein Studium zu erreichen ist – und scheitern dann oft als Studienabbrecher. Mehr als jeder vierte deutsche Studienanfänger im Bachelor-Studiengang verlässt die Hochschule ohne Abschluss. Wir reden hier von mehr als 100.000 jungen Leuten pro Jahr. Viele von ihnen wären mit einer dualen Ausbildung sicherlich besser beraten gewesen – ohne den Umweg über einen Studienbeginn. Die Vorteile einer Ausbildung kennen noch zu wenige: gute Verdienstaussichten, hervorragende Weiterentwicklungsmöglichkeiten und beste Chancen auf unbefristete Übernahme sind nur einige Pluspunkte. Die IHK-Organisation hat deshalb eine groß angelegte, bundesweite Kampagne gestartet, mit der wir Schulabgänger für die Ausbildung in einem IHK-Beruf begeistern wollen.
Arbeitskräfte aus dem Ausland anwerben: die Lösung? Geht es gar nicht ohne Zuwanderung?
So wichtig und richtig es ist, alle Potenziale im Inland zu nutzen: Wir brauchen mehr Zuwanderung von Fachkräften oder jungen Menschen, die bei uns Fachkräfte werden wollen. Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigen, dass ohne Zuwanderung und steigende Erwerbsquoten die Zahl der Personen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, bis 2035 um über sieben Millionen sinken würde.
Worauf muss bei der Zuwanderung geachtet werden?
Zur Weiterentwicklung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes hat die DIHK eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist die Erleichterung bei der Zuwanderung mit fehlender oder teilweiser Gleichwertigkeit der beruflichen Qualifikation. Denn nur wenige interessierte Fachkräfte aus dem Ausland verfügen über eine vollständig anerkannte Gleichwertigkeit, haben aber mitunter eine lange Berufserfahrung und kommen in deutschen Betrieben als Fachkräfte in Betracht. Fehlende Qualifikationen könnten parallel zur Beschäftigung nachgeholt werden. Auch die Zuwanderungsregelungen zur Arbeitsplatzsuche, wenn noch kein Arbeitsvertrag vorliegt, sollten aus Sicht der DIHK verbessert werden. Gute Deutschkenntnisse spielen hierbei eine besondere Rolle. Daher sollte zum einen der Spracherwerb schon im Ausland gefördert werden. Zum anderen müssen die Angebote im Inland noch stärker berufsbezogen, aber auch flexibel und digital sein, damit sie mit dem betrieblichen Alltag kompatibel sind. Stichwort Ausbildung: Wir sollten verstärkt auch junge Menschen aus dem Ausland für eine Ausbildung in deutschen Unternehmen gewinnen. Eine Zuwanderung bereits vor Ausbildungsbeginn könnte hilfreich sein, damit in dieser Zeit vorbereitende Praktika, Einstiegsqualifizierungen und Sprachkurse absolviert werden können.
In vielen Branchen fehlt es an geeigneten Bewerbern. Was fehlt den Bewerbern?
Ausbildungsbetriebe erwarten zu Recht ein Minimum an Mathematik- und Deutschkenntnissen, Engagement und Umgangsformen. Nur so können Azubis ihre Ausbildung erfolgreich bestehen und im weiteren Berufsleben erfolgreich sein. Laut unserer Ausbildungsumfrage fehlt es leider manchen Bewerbern an den notwendigen Basiskompetenzen. Viele Betriebe bieten Nachhilfe an, können aber in der Schule Versäumtes nur begrenzt wettmachen. Zugleich bringen viele Jugendliche heute individuelle Fähigkeiten mit, die positiv für den Ausbildungserfolg sind. Daher könnte das etwas in die Jahre gekommene Konzept der „Ausbildungsreife“ der Bundesagentur für Arbeit zu einer „Ausbildungsstartkompetenz“ weiterentwickelt werden und dabei etwa digitale Fähigkeiten, aber auch Problemlösungskompetenz und Kreativität stärker berücksichtigen. Ein solcher Kompetenzkatalog wäre eine noch bessere Orientierungshilfe für Unternehmen sowie junge Menschen und könnte helfen, die Fähigkeiten der Auszubildenden und die Anforderungen der Betriebe gut zusammenzubringen.
Die vielen Schulabbrecher: verschwendetes Potenzial? Wie können wir diese für eine Ausbildung gewinnen? Mit speziellen Programmen?
Der Erwerb oder das Nachholen eines beruflichen Abschlusses sind wichtig für gute Chancen auf unserem differenzierten Arbeitsmarkt. Für jüngere Menschen, für die der direkte Einstieg in die Ausbildung eine zu große Hürde ist, gibt es das bewährte Instrument der Einstiegsqualifizierung. Das ist ein betriebliches Praktikum, das mindestens sechs und höchstens zwölf Monate dauert. Betrieb und Praktikant lernen einander kennen, die Übergänge in ein Ausbildungsverhältnis klappen oft sehr gut und die Praktikumszeit kann auf die Dauer der Ausbildung angerechnet werden. Ab einem gewissen Alter kommt eine klassische Ausbildung in Betrieb und Berufsschule allerdings kaum noch infrage. Für die Zielgruppe der Über-25-Jährigen kann das schrittweise Absolvieren von Teilqualifikationen ein guter Weg sein, um nachträglich zum Berufsabschluss zu gelangen. Am Ende steht die Prüfung vor einer IHK.
Was müsste sich in der Schule ändern?
Eine gute Ausbildung fängt in der Schule an. Grundsätzlich muss Schule dafür sorgen, dass junge Menschen die notwendigen Kompetenzen mitbringen, um eine Ausbildung erfolgversprechend zu beginnen. Außerdem ist eine zielgerichtete und ausgewogene Berufsorientierung an allen Schulformen das A und O, damit Schulabgänger die für sie beste Berufswahl treffen können. Ganz besonders die Gymnasien dürfen nicht einseitig in Richtung Studium orientieren, sondern müssen noch viel mehr über die Chancen einer Ausbildung und einer höheren Berufsbildung zum Meister oder Fachwirt informieren. Leider haben viele Lehrkräfte noch nie einen Ausbildungsbetrieb von innen gesehen. Immer mehr Schulen nutzen deswegen inzwischen ein besonders gutes und erfolgreiches Angebot, die sogenannten Ausbildungsbotschafter. Das sind Azubis, die aus ihren Betrieben in die Schulen gehen und auf Augenhöhe von ihrer Ausbildung berichten und Fragen beantworten.
Wie lange sind Sie Referatsleiter Ausbildungspolitik? Was hat sich in der Zeit verändert? Auf welche Probleme stoßen Sie immer wieder? Woran hakt es am meisten?
Tatsächlich nun schon seit zwei Jahrzehnten, und es macht immer noch Spaß. Verändert hat sich wie überall vor allem die Geschwindigkeit der Arbeit. Was die Ausbildung selbst betrifft, hat sich der Markt komplett gedreht. Als ich im DIHK anfing, gab es zu wenige Ausbildungsplätze und wir mussten die Betriebe motivieren, so viele Ausbildungsplätze wie irgend möglich anzubieten. Heute müssen wir junge Menschen motivieren, eine Ausbildung wenigstens in Betracht zu ziehen. Woran es hakt? Viele Projekte in der Politik brauchen einfach Zeit, und Erfolge stellen sich oft erst mittel- und langfristig ein. Da ist Geduld gefragt, auch wenn mir die manchmal schwerfällt.
Was können Sie als Referatsleiter für Ausbildungspolitik bewegen? Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Wie alle Referatsleiter in der DIHK bin ich zunächst und zuerst Interessenvertreter für die Mitgliedsunternehmen der Industrie- und Handelskammern. Mein täglicher Job ist es, im Kontakt mit Ministerien, Bundestagsabgeordneten, Gewerkschaften oder der Bundesagentur für Arbeit mit dafür zu sorgen, dass Ausbildung in den Betrieben unter möglichst guten Bedingungen stattfinden kann. Ich halte gleichermaßen Kontakt zu unseren 79 Industrie- und Handelskammern, unterstützte deren Arbeit und bekomme die Infos aus den Regionen, die ich für meinen Job in Berlin benötige. Ganz wichtig sind die Pressearbeit und das Werben für die berufliche Bildung in der Öffentlichkeit, vor allem bei jungen Menschen vor der Berufswahl. Einmal im Jahr habe ich das Vergnügen, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen die Ehrung der bundesbesten Absolventen einer IHK-Ausbildung zu organisieren. Es ist immer ein tolles Erlebnis, wenn über 200 Spitzen-Azubis auf der großen Bühne in Berlin stehen und stolz auf sich sind. Ein Fest für die duale Ausbildung, das weit in die Regionen strahlt.
Was wäre Ihr Rat an die Politik?
Ich denke, die Politik hat schon seit geraumer Zeit die Bedeutung der beruflichen Bildung für die Fachkräftesicherung erkannt und tut eine Menge für deren Förderung, etwa gemeinsam mit Wirtschaft und Gewerkschaften in der Allianz für Aus- und Weiterbildung. Es ergibt aus Sicht vieler Betriebe jedoch keinen Sinn, dass die Bundesregierung nun eine gesetzliche Ausbildungsgarantie auf den Weg bringen will. Zielführender wäre die Weiterentwicklung der Chancengarantie, die es bereits seit 2014 im Rahmen der Allianz für Aus- und Weiterbildung gibt: Jeder ausbildungsinteressierte Jugendliche, der bis Ende September keinen Ausbildungsplatz gefunden hat, erhält drei Angebote für eine betriebliche Ausbildung – wenn auch nicht immer im Wunschberuf. Wenn nun doch ein Gesetz kommt, muss dieses zumindest vernünftig ausgestaltet sein und darf die betriebliche Ausbildung nicht gefährden. Positiv sind die geplante Stärkung der Berufsorientierung, die Flexibilisierung von Einstiegsqualifizierungen und die Unterstützung der Mobilität von Azubis. Die DIHK befürwortet ausdrücklich, dass der aktuell vorliegende Gesetzentwurf keine bundesweite Unternehmensumlage zur Finanzierung der Garantie vorsieht. Gleichwohl drohen auf Landesebene wie aktuell in Bremen und Berlin Regelungen, nach denen Betriebe zur Kasse gebeten werden sollen, die nicht oder nur unzureichend ausbilden. Das träfe viele Betriebe doppelt hart: Erst fänden sie keine Azubis, und dann müssten sie noch eine Abgabe zahlen.
Ihre persönliche Sicht auf die Zukunft der Ausbildung und Arbeitsmarktsituation?
Ich denke, dass wir in Deutschland eine sehr gute duale Ausbildung haben, die wir nicht vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Sie reagiert mit ihren mehr als 300 Ausbildungsberufen rasch auf die sich ändernden Bedarfe der Wirtschaft. Anpassungen sind dennoch immer wieder nötig. So sollten beispielsweise die Prüfungen in der beruflichen Bildung, wo immer sinnvoll, stärker digitalisiert werden. Die Berufsschulen müssen gestärkt und besser ausgestattet werden, damit sie für die Betriebe stabile Partner in der dualen Ausbildung bleiben. Der Aufbau eines Deutschen Beruflichen Austauschdienstes (DBAD) analog zum bestehenden Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) könnte sinnvoll sein, um die internationale Mobilität in der beruflichen Bildung voranzubringen. Und wir brauchen noch mehr Instrumente, um auch die Kompetenzen stärker sichtbar zu machen, die nicht auf formalem Weg, sondern etwa „on the job“ oder durch ehrenamtliche Tätigkeiten erworben wurden. Perspektivisch wird es für qualifizierte Fachkräfte immer leichter, gute Jobs zu finden. Auf der anderen Seite dürfte es trotz des Nutzens der verschiedenen Potenziale kaum gelingen, alle Fachkräfte-Engpässe zu schließen. Betriebe müssen künftig wohl oder übel mit weniger Personal zurechtkommen und auf Prozessoptimierung, Automatisierung und Digitalisierung setzen.