Am 29. August 1924 gründete der Bildungsverband der deutschen Buchdrucker die „Büchergilde Gutenberg“ als gewerkschaftliche Buchgemeinschaft, um den unterprivilegierten Arbeitern der Weimarer Republik einfachen Zugang zu Literatur und Bildung zu verschaffen.
Er war der Starautor der Büchergilde Gutenberg (im Folgenden BG): Trotzdem kannte selbst sein Lektor Ernst Preczang B. Travens wahre Identität nicht. Genau genommen wusste er nicht einmal dessen Vornamen. Die lebenslange Geheimniskrämerei, die der Autor von Welterfolgen wie „Das Totenschiff“ (1926) oder „Der Schatz der Sierra Madre“ (1927) um seinen Geburtsnamen und seine Herkunft macht, tut seiner Beliebtheit bei den lesebegeisterten Mitgliedern der Büchergilde Gutenberg keinen Abbruch. Im Gegenteil: Die Popularität Travens geht so weit, dass sich Verlagsexperten heute einig sind: ohne B. Traven keine erfolgreiche Büchergilde und ohne Büchergilde kein Autorenruhm für B. Traven.
„Proletarische Kulturgemeinschaft“
Die verlegerische Idee hinter der BG war denkbar einfach: „Die Pflege des inhaltlich guten und billigen Buches in einer typografisch schönen Ausstattung“. Der „Bildungsverband der deutschen Buchdrucker“ tagte am 29. August 1924 in Leipzig und beschloss die Gründung einer gewerkschaftlichen Buchgemeinschaft. Der Arbeiterschaft sollte der Zugang zu Bildung erleichtert werden, durch günstige und dennoch handwerklich hochwertige Bücher. Die Büchergilde Gutenberg zählt zu den institutionellen Gründungen der Arbeiterbewegung. Gründer Bruno Dreßler realisiert damit die Idee einer „proletarischen Kulturgemeinschaft“.
Die Mitglieder wurden anfangs hauptsächlich bei der sozialdemokratisch gesinnten Arbeiterschaft gewonnen: Arbeiter, die sich den Kauf eines Buches auf dem freien Markt nicht leisten konnten. Die BG ist ein Vertriebssystem für Bücher, die exklusiv oder zu Vorzugspreisen an Mitglieder verkauft werden. Am Gründungsort Leipzig – später kommt ein Umzug nach Berlin – wird auch das erste Buch der Gilde produziert: „Mit heiteren Augen“ – eine Geschichten-Sammlung von Mark Twain. Jeder konnte für ein „einmaliges Eintrittsgeld von 75 Pfennig“ und den monatlichen Beitrag von anfangs „ebenfalls 75 Pfennig“, so Jürgen Dragowski in seinem Buch „Die Geschichte der Büchergilde Gutenberg in der Weimarer Republik 1924–1933“, Mitglied werden. Dafür gab es vier Bücher pro Jahr und das Anrecht auf den Kauf weiterer Bücher zum günstigen Gildepreis, der oft etwa 50 Prozent unter dem Buchhandelspreis lag. Schon Ende 1924 hatte die Gilde 10.000 Mitglieder. Vor der Gleichschaltung 1933 waren es bereits 85.000 Mitglieder, bis dahin erschienen 177 Titel (Dragowski) mit einer Gesamtauflage von etwa 2,5 Millionen Exemplaren.
Ein Phantom-Autor namens B. Traven
Für diesen Erfolg der BG ist ein Brief nach Mexiko, verfasst vom ersten und stilprägenden Lektor Ernst Preczang, die Initialzündung: Am 13. Juli 1925 schreibt er an B. Traven, mit der Bitte, die Buchrechte des Traven-Romans „Die Baumwollpflücker“ zu erwerben. Der bis dahin wenig bekannte Traven lebte in einer Hütte als „armer Poet im Busch“, so Jan-Christoph Hauschild in seiner Traven-Biografie „Das Phantom“. Preczang lässt schon im ersten Brief durchblicken, praktisch alles aus Travens Feder drucken zu wollen. Ein frühes Indiz für Preczangs feine literarische Spürnase und seine Überzeugung, in Traven den idealtypischen Gilde-Autoren gefunden zu haben, der aus der proletarischen Perspektive schreibt und an Kapitalismuskritik nicht geizt.
Preczang kämpfte von Anfang an für „seinen“ Autoren und setzte Traven auch gegen den Willen der Verlagsleitung durch. Traven reagierte mit Euphorie auf den Einladungsbrief und schickte Preczang umgehend seitenweise Vorschläge mit Details zur künftigen Zusammenarbeit. Erste Anzeichen einer Kontrollmanie, die so weit ging, dass Traven sich fortan in alle Angelegenheiten der Verlagsarbeit einmischte – bis hin zur Stellenbesetzung. Dazu kam, dass Traven seine Identität um jeden Preis geheimhalten wollte, mittels gefälschter Biografien, etlicher Pseudonyme und kurzfristig geplatzter persönlicher Treffen. All das machte Preczangs Lektorarbeit zu einer psychischen Tour de Force.
Doch er sah in Traven „einen verwandten Geist“ und wusste von Anbeginn an intuitiv, dass Travens Romane und Kurzgeschichten perfekt zur Philosophie der Büchergilde passten, die angetreten war, „ein wenig frische Luft und fröhliches Weltgefühl in die deutsche Literatur zu bringen“. Preczang war als gelernter Drucker und als begabter, aber kommerziell erfolgloser Autor der geborene Lektor. Er war die formative verlegerische Kraft, die Reihen künstlerisch illustrierter Bücher hervorbrachte und damit den in der Verlagswelt hervorragenden Ruf der BG fundamentierte.
Programmatisch setzte die Gilde auf Werke sozialistischer Autoren und auf Arbeiterliteratur. Dazu gehörten die Werke von Oskar Maria Graf, Upton Sinclair, John Dos Passos, Jack London– oder eben B. Traven. Gilde-Mitglieder gerieten als Erste verlegerisch gezielt in den Genuss der Jack-London-Bücher, und Londons deutsche Editionsgeschichte ist eng mit der Büchergilde verbunden. Auch weil Ernst Preczang sofort begriff, dass London ein politischer Autor ist, ganz anders als seine uninformierten Kollegen in einigen deutschen Großverlagen, die London damals und heute auch gern in der Kategorie „Kinder- und Jugendbücher“ deplatzieren.
Mit den Nazis änderte sich alles
Mitte der 20er-Jahre war der bekennende Sozialist Jack London – berühmt durch
Werke wie „Der Seewolf“, „Die eiserne Ferse“ oder „König Alkohol“– in Deutschland nur einem kleinen Leserkreis bekannt. Das änderte sich, als die Büchergilde Gutenberg 1926, zehn Jahre nach Londons Tod, eine umfassende Volksausgabe – geplant waren 35 Bände – herausbrachte. Diese war angesichts des Weltruhms von London überfällig und machte den Weg frei für eine massenhafte Verbreitung seiner Werke hierzulande.
Die gildetypisch geschmackvoll gemachten London-Ausgaben, mit solidem blauem Leineneinband und ungewöhnlichem 23x19-Zentimeter-Format, konnten von Mitgliedern einzeln für drei Mark erworben werden; auch Teilzahlung war möglich. Die Machtübernahme der Nazis 1933 hatte zur Folge, dass die Veröffentlichung der Volksausgabe nach 29 Büchern abrupt endete. Die Nazis besetzten am 2. Mai 1933 das Verbandshaus der Deutschen Buchdrucker und übernahmen die Büchergilde Gutenberg. Trotzdem trug die Büchergilde wesentlich zur Popularisierung Londons in Deutschland bei.
B. Traven beendete seine Zusammenarbeit mit der „braunen“ Gilde konsequent und forderte seine Autorenrechte von Berlin zurück. Am 16. Mai wurde Verlagsleiter Bruno Dreßler wegen „staatsfeindlicher Gesinnung“ in Berlin verhaftet, konnte später aber in die Schweiz fliehen und sicherte dort unter schwierigen Umständen den Fortbestand der BG. Die Exil-Gilde war bemüht, Traven als wichtigsten Autor bei der Stange zu halten. Traven übertrug die Rechte an den Schweizer Verlag. Einige seiner Bücher erschienen dann über die Büchergilde im Exil in Zürich. 1937 kam es allerdings auch dort zu Differenzen, in deren Folge die Verbindung vorerst abbrach. Heute verfügt die Büchergilde nicht über die Rechte an den Traven-Büchern. Der Buchautor selbst stieg zu Filmruhm auf; Anfang April 1947 drehte Hollywood-Regisseur John Huston in Mexiko „Der Schatz der Sierra Madre“ mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle, und die UFA verfilmte 1959 „Das Totenschiff“, mit Horst Buchholz und Mario Adorf.
Beim schwierigen Neuaufbau, so beschreibt es Jürgen Dragowski, „rückt die
Verbindung von Bildung und emanzipatorischer Emanzipation“ der Arbeiter zunehmend in den Hintergrund. Neues Publikum im bürgerlichen Milieu sollte gewonnen werden. Die Büchergilde als Bildungsinstitution, deren zentrale Aufgabe die Aufklärung und Bildung der Arbeiterschaft ist, gehörte der Vergangenheit an. Nach Kriegsende bemühte sich Bruno Dreßler zusammen mit seinem Sohn um eine Rückkehr nach Deutschland. Im März 1947 gelang es, die Büchergilde mit Sitz in Frankfurt am Main wiederzugründen. Aus einigen Geschäftsstellen entstanden schrittweise auch Buchhandlungen.
Bei Sammlern stehen die Bücher hoch im Kurs
Die 50er-Jahre standen unter dem Motto der „Volksbildung“. Es erschienen Klassiker wie „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ von Golo Mann und „Kochbuch der Büchergilde“ von Grete Willinsky, illustriert von Gerhard Oberländer. Seit Hannah Arendts Analyse „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1958) widmete sich die Büchergilde immer wieder dem Thema Nationalsozialismus. Mit den beiden Ausgaben „Das Gewissen steht auf“ (1955) und „Das Gewissen entscheidet“ (1959) setzte der Verlag mit „64 Lebensbildern aus dem deutschen Widerstand 1933–1945“ den Opfern und Gegnern der Diktatur ein bleibendes Denkmal. Auch wurde unter dem Begriff „Schallplattengilde“ nun Musik ins Programm genommen.
1982 startete „Die kleine Reihe“, mit anspruchsvollen literarischen Texten, Essays, Kurzprosa und Gedichten in handlichem Format. Mit der „Bibliothek Exilliteratur“ veröffentlicht die Büchergilde erzählende, biografische und kommentierende Werke rund um die Themen Antisemitismus und Judentum. Doch die Marktbedingungen für Buchgemeinschaften werden schlechter. „Um den Erhalt und die Unabhängigkeit der Büchergilde weiterhin zu sichern“, so die BG-Webseite, wird 1998 erst die Gewerkschaftsbindung gekappt und 2014 kommt der Beschluss, das Unternehmen in eine Genossenschaft umzuwandeln. Die Mitgliederzahlen haben sich bis heute bei etwa 60.000 stabilisiert.
Ob die ursprüngliche politische Intention der „bewussten Gegengründung zu den großen bürgerlichen Buchgemeinschaften“ (Dragowski) heute noch besteht, ist strittig. Unbestritten ist, dass die Büchergilde der traditionsstiftenden Qualität der hohen buchkünstlerischen Wertigkeit treu geblieben ist: Ihre bibliophilen Ausgaben sind fast jährlich in den Shortlists der Stiftung Buchkunst und in der Ausstellung „Schönste Bücher aus aller Welt“ zu finden. Auch bei Antiquariaten und Büchersammlern stehen vor allem frühe Büchergilde-Ausgaben immer noch hoch im Kurs.