Der bislang ungeschlagene Berliner Handball-Bundesligist kassiert seine erste Saison-Niederlage und baut einen Titelkonkurrenten wieder auf. Der Kräfteverschleiß ist unübersehbar und kostet die Tabellenführung.
Der Spitzname für den THW Kiel geht weit ins vorherige Jahrhundert zurück. „Irgendwann zwischen 1925 und 1927“, so steht es in der Vereinschronik, hatten die Handballer des norddeutschen Clubs das bis dahin bevorzugte weiße Shirt gegen ein schwarz-weiß gestreiftes getauscht. Fortan wurden sie „Zebras“ genannt, was sich später als Branding gut vermarkten ließ. Im Heimspiel gegen die Füchse Berlin erwartete Bob Hanning aber die Qualitäten einer ganz anderen Tierart auf Seiten des Gastgebers. „Kiel kämpft wie ein angeschlagener Löwe“, hatte der Geschäftsführer der Berliner vor dem Anpfiff gesagt und gewarnt: „Da wird einiges auf uns zukommen.“ Und auch Rückraumspieler Mathias Gidsel sprach von der „immer noch schwersten Auswärtsfahrt der Liga“. Der Däne erwartete „vielleicht nicht das beste Handballspiel, aber auf alle Fälle einen großen Fight“. Und sowohl Gidsel als auch Hanning behielten Recht. Die Kieler kämpften leidenschaftlich um ihre vermutlich letzte Titelchance – und sie waren damit erfolgreich.
Zu viele Fehler in der Offensive
Das 30:26 bedeutete ein wenig Wiedergutmachung für den THW und die erste Saisonniederlage für die Füchse. Und nicht nur das: Weil zur gleichen Zeit der SC Magdeburg sein Heimspiel gegen Eisenach gewann, thront jetzt der Champions-League-Gewinner in der Bundesliga an der Spitze. Der Verlust der Tabellenführung schmerzte die Berliner aber nicht so sehr wie die Prestige-Pleite beim Titelverteidiger. „Kiel hat uns heute viele Waffen genommen, die uns sonst so stark gemacht haben“, haderte Trainer Jaron Siewert. Im Offensivspiel hätten sich seine Spieler „zu viele Fehler geleistet“. Dies musste auch Gidsel zugeben, der mit neun Treffern erneut bester Torschütze seines Teams war: „Zum ersten Mal in dieser Saison hatten wir vorne im Angriff echte Probleme, zum Torerfolg zu kommen.“ Die Leistungssteigerung in der zweiten Hälfte sei angesichts des Vier-Tore-Rückstands zur Halbzeit nicht mehr spielentscheidend gewesen.
Von Beginn an war zu spüren gewesen: Die Kieler wollten es etwas mehr. Zuletzt hatte der emotionale Ausbruch von Abwehrchef Hendrik Pekeler für große Aufregung beim THW gesorgt. „Jeder muss sich jetzt die Grundsatzfrage stellen: Was will er? Will er erfolgreich sein oder ein bisschen hier und da spielen? Dann kann er gehen“, hatte Pekeler nach der 18:27-Heimpleite in der Champions League gegen Aalborg Håndbold gewettert. Für ihn ist es generell zwar die Aufgabe von Leistungsspielern, Kritik zu üben und das Team wachzurütteln. Allerdings war es problematisch, dass der Defensivmann die Offensive verbal massiv angriff: „Vorne haben wir keine Männer. Kinder haben wir da.“ Pekeler vergriff sich auch bei einem Vergleich mit Ligakonkurrent MT Melsungen im Ton: „Wollen wir das neue Scheiß-Melsungen sein, das nach einem guten Spiel wieder ein beschissenes Spiel macht?“ Für diesen Satz entschuldigte sich der langjährige Nationalspieler später, der grundsätzliche Inhalt seiner Wutrede schien Kiel aber motiviert zu haben.
Die etwas müde wirkenden Berliner konnten dieser Power und Leidenschaft nur wenig entgegensetzen. Doch ein Drama ist die Niederlage und somit der Fall auf Tabellenplatz zwei nicht, es folgen fünf Gegner aus der unteren Tabellenhälfte: zuerst am Sonntag gegen den HSV Hamburg, dann in Wetzlar (1. Dezember), gegen Göppingen (10. Dezember), in Lemgo (16. Dezember) und gegen Stuttgart (19. Dezember). Die Chance auf den ersten Meistertitel der Clubgeschichte ist weiter realistisch, auch wenn die Verantwortlichen sich mit Aussagen dazu zurückhalten. „Ich glaube, dass wir gut daran tun, die momentane personelle Situation nicht damit zu befeuern, noch mehr von der Mannschaft zu erwarten und zu verlangen“, sagte Hanning.
Doch auch ohne klaren Titelanspruch komme er nicht umhin, dem bisherigen Saisonverlauf das Prädikat „sehr zufriedenstellend“ zu verpassen. „Die Art und Weise, wie wir in den letzten Wochen aufgetreten sind, und wie wir mit dem Verletzungspech durch Moral und Bereitschaft entgegengetreten sind, und wie wir aus den Fehlern des letzten Jahres gelernt haben“, sagte Hanning, „stimmt mich schon sehr zufrieden.“
Die Eingespieltheit, der Teamzusammenhalt nach den Hiobsbotschaften um die schweren Verletzungen von Paul Drux und Fabian Wiede sowie das Leistungshoch von Stammkräften wie Gidsel haben die Füchse zu einem heißen Titelanwärter gemacht. „Es ist schwierig, sich auf die Füchse vorzubereiten“, sagte Torwart Nebojša Simić vom Tabellendritten MT Melsungen. Das Team sei „schwer auszurechnen“, weil es „keine klaren Wurfbilder“ gebe. „Aber ich sage auch: Sie sind nicht unschlagbar“, behauptete Simic und verwies auf die nur knappen Siege gegen Hannover, Stuttgart und Leipzig: „Das hat mir gezeigt: Man kann gegen sie gewinnen.“ Kiel hat es nun auch bewiesen.
Die Berliner waren reise- und spielgestresst im hohen Norden angetreten. „Eigentlich habe ich in den letzten Tagen nur geschlafen, gegessen und Wäsche gewaschen“, berichtete Gidsel: „Das Reisen, nicht im eigenen Bett zu schlafen, kostet eigentlich die meiste Kraft.“ Der Auftritt des Teams bei der Club-WM im saudi-arabischen Dammam brachte dem Club zwar reichlich Renommee und auch eine Viertel Million Euro allein an Prämien ein, doch er zehrte auch an den Kräften. Zudem konnte sich die Mannschaft aufgrund der Final-Niederlage gegen Ligakonkurrent SC Magdeburg für die Strapazen nicht mit einem internationalen Titel belohnen.
Führung in der Gruppe G
Dass nur zwei Tage später bereits das Euro-League-Spiel gegen Dinamo Bukarest angesetzt war, erschwerte die Regeneration. Zumal sich die Berliner gegen einen der „Topfavoriten auf den Titel“, wie Sportvorstand Stefan Kretzschmar den Gegner aus Rumänien einschätzt, keine Blöße geben wollten und konnten. Dank einer starken ersten Hälfte fuhren die Füchse einen relativ ungefährdeten 33:30-Sieg ein und übernahmen die Führung in der Gruppe G. Die zwischenzeitliche Neun-Tore-Führung erlaubte es Trainer Siewert, fast alle Stammplätze etwas zu schonen. Auch die Tage danach standen vor allem im Zeichen der Erholung. „Wir sind jetzt etwas zur Ruhe gekommen“, sagte Hanning, der aber auch zu bedenken gab: „Den Motor jetzt wieder anzuschmeißen, wird eine ganz neue Herausforderung.“
Auch das verlorene Finale bei der Club-WM hallte bei den Berlinern noch nach. Vor allem, weil sie ausgerechnet gegen den Erzrivalen aus Magdeburg knapp den Kürzeren gezogen hatten. „Ich bin schon ein bisschen traurig. Ich hätte es gern gewonnen, denn es war möglich“, sagte Hanning. Der Geschäftsführer machte den Kräfteverschleiß aufgrund der personellen Lage als Hauptgrund aus. „Hintenraus hat einfach die Kraft gefehlt.“ Das Fehlen von Leistungsträgern wie Drux, Wiede und Max Darj machte sich bei dem kurzen, aber intensiven Turnier mit vier Spielen in fünf Tagen bemerkbar. „Wir haben einen extremen Fight geliefert“, lobte daher Trainer Siewert: „Die Jungs haben alles reingehauen, was sie jetzt noch im Tank hatten.“ Das erkannte auch Hanning an, der der Mannschaft eine „überragende Leistung bis ins Finale“ und viel Kampfgeist bescheinigte. „Ich müsste also schon krankhafte Züge haben, das Turnier in unserer Situation als Malus zu bezeichnen“, sagte er.