Nach Welttorhüter Manuel Neuer drohe Deutschland ein Torwart-Problem, unken viele seit Jahren. Die Verletzung von Marc-André ter Stegen hat nun tatsächlich schnell für eine knifflige Situation gesorgt. Doch der Bundestrainer vertraut zwei Kandidaten, die zuvor noch nie gespielt hatten.
Manuel Neuer? Nach der EM zurückgetreten. Marc-André ter Stegen? Nach der Ernennung zur neuen Nummer Eins schwer verletzt. Kevin Trapp? Auch verletzt. Und Bernd Leno? Der Keeper des FC Fulham, für viele die logische nächste Nummer eins, wurde von Bundestrainer Julian Nagelsmann offenbar nur als Nummer Drei angesehen und sagte dann ganz ab.
Von den vier Torhütern, die sich in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft seit Juni 2015 alle 130 Länderspiele aufgeteilt hatten, stand im Oktober 2024 plötzlich kein einziger mehr im Kader. Und so ergab sich die höchst ungewöhnliche Situation, dass von dem Trio, das Nagelsmann in diesem Oktober für das Tor nominierte, kein einziger auch nur ein einziges Länderspiel absolviert hatte. Dreimal stand die Null bei den Einsätzen, und das erschwert die Lage für den Bundestrainer, für mindestens die nächsten etwa acht bis neun Monate eine neue Nummer eins zu finden. Der nach Jahren im Schatten von Neuer endlich aufgerückte Barcelona-Stammkeeper ter Stegen, das hat Nagelsmann schon klargestellt, wird der Platzhirsch bleiben und soll Deutschland als Nummer eins zur WM 2026 in Nordamerika führen. Sofern der 32-Jährige nach seinem Riss der Patellasehne im rechten Knie nicht nur rechtzeitig gesundet, sondern auch wieder seine Bestform findet.
Ter Stegen bleibt die Nummer eins
Alexander Nübel, Oliver Baumann und Janis Blaswich, so hieß das Trio, das sich vor den Spielen in Bosnien (1:2) und gegen die Niederlande (1:0) in Frankfurt einfand. Und alle hatten eine kuriose Historie. Nübel spielte bis kurz vor der EM im eigenen Land in diesem Sommer gar keine Rolle, dabei war er da schon 27. Die Bayern holten ihn 2020 aus Schalke, der damalige Sportvorstand Hasan Salihamidzic versprach ihm langfristig den Status als Nummer eins. Doch Neuer spielt und spielt und spielt und Nübel verlor fast die Geduld. Zunächst ließ er sich nach Monaco ausleihen, dann nach Stuttgart, wo er sich durch die überragende letzte Saison ins Blickfeld spielte. Und wegen der Verletzung von Leno fast noch ins EM-Aufgebot gerückt wäre. Nagelsmann nominierte ihn als vierten Torwart nach Neuer, ter Stegen und Baumann und verkündete zunächst, mit vier Torhütern in die EM zu gehen. Dann strich er Nübel aber doch, weil Leroy Sané angeschlagen war und der Bundestrainer wegen der zu großen Unsicherheit um ihn einen Feldspieler mehr haben wollte.
Baumann im 27. Anlauf im Tor
Baumann war bereits im September 2020 erstmals für die Nationalmannschaft berufen worden, damals noch von Jogi Löw. Auch Hansi Flick und Nagelsmann nominierten ihn immer wieder. Nur eingesetzt wurde der Hoffenheimer nie. Bei 26 Spielen der Nationalelf hatte er auf der Bank gesessen, ohne je eine Minute gespielt zu haben. Das reichte aber zum Status als Nummer Drei bei der EM nach Neuer und ter Stegen.
Und Blaswich? Nun, dessen Nominierung überraschte am meisten. In seinem Heimatverein in Mönchengladbach hatte er sich nie durchsetzen können, war erst nach Dresden und dann nach Rostock verliehen und schließlich ablösefrei zu Heracles Almelo abgegeben worden. 2022 kam er als Nummer Zwei zu RB Leipzig, absolvierte wegen Verletzungen von Peter Gulacsi 64 Pflichtspiel-Einsätze, wurde dann aber wieder von Gulacsi verdrängt und zum Schwesterclub Red Bull Salzburg abgegeben. Nagelsmann hatte ihn im November 2023 schon mal nominiert und nun wieder. Ohne Chance auf einen Einsatz.
Und die meisten fragten sich: Was war mit Leno? Der hatte immerhin schon neun Länderspiele absolviert, ist seit Jahren Stammkeeper in der englischen Premier League und wäre bei der EM eben der Mann hinter Neuer und ter Stegen gewesen. Viele Experten hinterfragten sein Fehlen offiziell, für die meisten wäre er die logische Nummer eins gewesen. Und Nagelsmann hätte ihn nominiert, aber eben nicht als neuen Stammkeeper – woraufhin Leno auf die Reise zur Nationalmannschaft gänzlich verzichtete. Er habe mit dem Bundestrainer und Torwarttrainer Andreas Kronenberg telefoniert, bestätigte Leno: „Sie haben mir gesagt, dass ich dabei wäre, aber kein Spiel bekomme. Deshalb habe ich mich dazu entschieden, in London zu trainieren. Julian weiß, dass ich natürlich immer da bin, wenn sie mich brauchen und ich dem Team wirklich weiterhelfen kann.“ Er sei aber „mit mittlerweile 32 Jahren kein Newcomer mehr“.
So unverständlich für viele die Rangfolge von Nagelsmann war, so unverständlich war für sie auch die Reaktion Lenos. „Es muss für jeden etwas ganz, ganz Besonderes sein, hier dabei sein zu wollen. Ob man 100 Länderspiele hat oder drei. Ob man 34 ist oder 19“, sagte der neue DFB-Kapitän Joshua Kimmich. Allgemein gelte: „Wenn einer nicht dabei sein möchte, dann muss er auch nicht kommen. Wir wollen Spieler haben, die hier dabei sein wollen.“ Nagelsmann erklärte, Leno habe „in den Gesprächen Forderungen gestellt, die ich nicht erfüllen kann. Ich habe ihm eine sehr interessante Perspektive aufgezeigt. die nicht in der Kurzfristigkeit liegt, sondern in der Mittelfristigkeit. Damit war der Spieler aber nicht so zufrieden, dass er sich dazu entschieden hat, jetzt nicht zu kommen.“ Damit sei die Tür Leno nun nicht zu, „aber sie ist jetzt auch nicht weiter aufgegangen. Er ist ja keine 25 mehr und hat eine gewisse Reife. Wenn er die Dinge so für sich bewertet, dann darf er das gern so machen.“
Also blieben am Ende Nübel und Baumann. Und Nagelsmann nahm den Druck von beiden. „Sie sollen keine anderen Dinge machen als die, die sie auch im Verein machen. Wir haben einen fußballerischen Ansatz, das können Alex und Olli sehr gut umsetzen.“ Jeder würde im Oktober ein Spiel bekommen und damit sein Debüt, das zeichnete sich schnell ab. Nübel durfte in Bosnien ran, Baumann gegen die Niederlande. Mit 34 wurde er zum drittältesten Debütanten in der DFB-Auswahl und dem ältesten seit 65 Jahren. 14 Jahre nach seinem Bundesliga-Debüt und 1.502 Tage nach seiner ersten DFB-Berufung. Und kurioserweise war er nach Bundesliga-Einsätzen auch der Spieler mit der größten Erfahrung im ganzen Kader.
Beide hatten das Problem, dass die deutsche Mannschaft trotz großen verletzungsbedingten Aderlasses – am Ende gehörten nur noch elf Spieler aus dem EM-Kader vom Juni zum Aufgebot – konzentrierte und disziplinierte Leistungen bot und den Torhütern so kaum Gelegenheiten zum Auszeichnen zuließen. Nübel bekam gegen Bosnien dann aber ein Kopfballtor, das nicht ganz unhaltbar aussah. „Schwierig“ sei die Situation nach dem Kopfball des Ex-Wolfsburgers Edin Dzeko gewesen, sagte er: „Er köpft ihn direkt neben den Pfosten. Ich versuche alles, halte ihn nicht.“ Der Bundestrainer sprach ihn jedoch von Schuld frei: „Er sieht den Ball leider sehr spät, weil zwei Spieler vor ihm stehen. Er steht auf der Torlinie und kann sich nicht so richtig abdrücken, sonst springt er gegen den Pfosten.“ Und so war Nübel am Ende „sehr stolz und zufrieden und sehr happy, dass wir das Ding gezogen haben“.
Baumann erlebt perfekten Tag
Baumann bekam gegen die Niederländer bis zur 90. Minute quasi überhaupt keinen Schuss aufs Tor. Dann hielt er einen guten Schuss des Dortmunders Donyell Malen mit dem rechten Arm und wurde damit sogar zum Matchwinner. „Geil war‘s. Perfekter hätten der Tag und das Spiel nicht sein können“, sagte Baumann: „Es war wie vorher gedacht: Ein Traum ist in Erfüllung gegangen. Das muss ich erst mal wirken lassen.“ Nagelsmann gab ihm nachher ohne zu zögern „die Note 1. Den Flatterball muss man erstmal haben“.
Doch wie geht es nun weiter? „Beim nächsten Mal werden sicher wieder beide ein Spiel bekommen. Sie haben es definitiv verdient“, mutmaßte ZDF-Experte Per Mertesacker. Für den früheren Torwart-Titan Oliver Kahn war aber schon vor den beiden Spielen Nübel der Favorit. „Ich sehe aktuell keine eindeutige Rangfolge“, sagte er zwar der „Bild“-Zeitung. Aber: „Alex Nübel hatte vergangene Saison ein sehr gutes Jahr in Stuttgart. Er hat im Gegensatz zu Oliver Baumann die Chance, sich auf internationalem Niveau in der Champions League zu beweisen. Das ist ein Vorteil.“ Auch Ex-Nationaltorhüter René Adler sagte: „Stand jetzt würde meine Wahl aufgrund des Alters auf Alex Nübel fallen.“
Doch das Pendel scheint eher in Richtung von Baumann auszuschlagen. „Die aktuelle Saison ist Olli einen Tick stärker als Alex“, sagte Nagelsmann. Dass Baumann, den er schon in Hoffenheim trainierte, das Spiel gegen den vermeintlich stärkeren Gegner bekam und das größere Lob nach dem Spiel, sind ebenfalls Indikatoren. Aber, so Nagelsmann, er sei „kein Hellseher“, wie sich die Leistungen der beiden entwickeln. Und wer weiß, vielleicht mischt ja bald auch Trapp wieder mit. Der war bei Nagelsmann zwar lange außen vor, im Oktober aber erst mal wegen einer Verletzung nicht dabei. Und ist mit neun Länderspielen neben Leno der erfahrenste.