Die WM in Finnland und Lettland war für die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft in dreifacher Hinsicht ein Riesenerfolg. Die erste WM-Medaille seit 70 Jahren und die Olympia-Qualifikation sind sportliche Glanzlichter, der Sieg bei der Vergabe der WM 2027 hilft langfristig.
Marcel Noebels personifizierte die ganze innere Zerrissenheit, die die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft am Ende einer denkwürdigen Weltmeisterschaft packte. „Es fühlt sich für mich wie eine heftige Niederlage an“, sagte der Stürmer der Eisbären Berlin nach dem 2:5 im Finale gegen Rekordweltmeister Kanada. Aber er wusste auch: „Ich werde wohl in ein paar Tagen realisieren, dass wir doch Historisches erreicht haben.“ Erstmals seit 70 Jahren konnte eine Auswahl des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) wieder eine WM-Medaille holen. „Silber gewonnen! Oder Gold verloren?“ – schrieb der DEB auf seinem Twitter-Account. Dieser Gedanke könne sich bei den WM-Helden zwar „noch nicht komplett auflösen“, aber: „Wir können euch nur eins zurufen: Wir sind stolz auf Euch! Genießt die Tage zu Hause mit euren Familien und Freunden.“
Dass es wie schon fünf Jahre zuvor bei den Olympischen Spielen in Südkorea im Endspiel nicht ganz zum Gold-Coup gereicht hatte, war spätestens nach der Landung in Deutschland nicht mehr so wichtig. Hunderte in Schwarz-Rot-Gold gekleidete Fans begrüßten die Vizeweltmeister bei den Landungen in München, Düsseldorf und Berlin mit großem Applaus sowie mit Sprechchören und Bannern. Im Münchner Flughafen wurde sogar der rote Teppich ausgerollt und eine Blaskapelle organisiert, dazu flogen bunte Schnipsel aus einer Konfetti-Kanone. Ein höchst ungewöhnlicher Empfang für Eishockeyspieler, die sonst weitestgehend unerkannt durchs Leben gehen. „Es fühlt sich einfach unglaublich an, hier so empfangen zu werden“, sagte John-Jason Peterka, Deutschlands Topscorer beim WM-Turnier in Finnland und Lettland. Und während Peterka und Co. fleißig Autogramme schrieben und Selfies mit den Fans machten, schienen sie langsam zu realisieren, dass sie in der Heimat mit ihren Leistungen einen kleinen Eishockey-Hype ausgelöst hatten.
Mediales Interesse wächst
Beim TV-Sender Sport1, der neben der Bezahl-Plattform MagentaSport live von der WM berichtete, schalteten allein beim Endspiel bis zu drei Millionen Zuschauer ein, im Schnitt waren es 1,9 Millionen vor den Fernsehern. Der Marktanteil betrug 8,8 Prozent, was vor allem mit Blick auf die starke TV-Konkurrenz an einem Sonntagabend zur Primetime bemerkenswert ist. Erst einmal in der Geschichte des Senders hatte er eine noch bessere Quote verzeichnet: Vor 13 Jahren beim Halbfinale der Heim-WM zwischen Deutschland und Russland. Auch die Zeitungen waren voll von Artikeln über die deutschen WM-Stars, in den Internetportalen waren Eishockey-Meldungen ungewohnt prominent platziert. „Ich bin mir sicher, dass die Nationalmannschaft in den letzten Tagen für viele neue Eishockeyfans gesorgt hat“, meinte Superstar Leon Draisaitl.
Er selbst hatte vor dem Fernseher in Kanada begeistert mitgefiebert. Die Auftritte der DEB-Auswahl seien „unfassbar“ gewesen, meinte der NHL-Star der Edmonton Oilers, es sei „definitiv ein Turnier für die Geschichtsbücher“. Und viele Fans fragen sich: Wäre mit Draisaitl sogar der Titel drin gewesen? Der beste deutsche Eishockeyspieler seiner Generation hatte sich nach dem erneut frühen Play-off-Aus mit den Oilers in der NHL dagegen entschieden, zur WM nach Finnland nachzureisen. Dafür habe man „volles Verständnis“, wie DEB-Sportdirektor Christian Künast unmittelbar nach der Entscheidung erklärte: „Nach 92 NHL-Spielen inklusive zweier intensiver Serien braucht er jetzt einfach Zeit, um sich von den Strapazen zu erholen und sich körperlich zu regenerieren.“
Doch Draisaitl war nicht der einzige Topspieler, der Harold Kreis bei dessen WM-Premiere als Bundestrainer absagte. Auch Angreifer Tim Stützle und Torhüter Philipp Grubauer waren aus der NHL nicht dabei, insgesamt musste Kreis auf 15 Leistungsträger verzichten. Früher hätte das fast zwangsläufig zu einem Leistungsabfall geführt, doch die Zeiten haben sich geändert im deutschen Eishockey. Die Qualität und Quantität im Kader haben sich deutlich verbessert, das Selbstvertrauen speist sich nicht nur aus der Zusage zum Beispiel eines Leon Draisaitl. „Es ist kein Eishockeywunder mehr“, sagte NHL-Verteidiger Moritz Seider über WM-Silber. Auch nach dem unglücklichen Start ins Turnier blieb der Glaube an die eigene Stärke groß. Nach drei knappen Niederlagen gegen die Titelanwärter Schweden (0:1), Finnland (3:4) und die USA (2:3) stand Deutschland in den restlichen vier Gruppenspielen stets unter gehörigem Druck. Das Team hielt diesem auf beindruckende Weise stand. Das 6:4 gegen Dänemark in Spiel vier war der Schlüsselmoment, die Euphorie wuchs mit jedem weiteren Sieg und trug das Team bis ins Finale.
„Jedes Spiel, auch wenn es die Niederlagen am Anfang waren, hat uns gezeigt, wie gut wir sind“, sagte Torhüter Matthias Niederberger: „Die Mannschaft ist Spitzenklasse.“ Und sie hat einen Spitzencharakter. Auf dem Eis kämpften alle füreinander, auch in der Kabine und im Teamquartier war die Stimmung dem Vernehmen nach exzellent. Dafür wird vor allem Bundestrainer Kreis verantwortlich gemacht, der mit seiner Art gut ankommt: souverän, kompetent, fokussiert – aber nicht verbissen. „Harry hat eine sehr große Erfahrung und er hat diesen Weitblick und die Gelassenheit, die strahlt er aus“, sagte Niederberger: „Er gibt uns Spielern die Verantwortung. Ich glaube, das hilft der Mannschaft, deswegen haben wir auch so eine starke Brust.“ Er spiele „sehr, sehr gerne“ unter Kreis, berichtete Frederik Tiffels. Der Münchner Angreifer erklärte auch, warum: „Er ist einfach ein toller Mensch mit einer tollen Ausstrahlung und einem tollen Charakter.“ Und einer Bärenruhe. Vor allem vor und während des richtungsweisenden Spiels gegen Dänemark, das bei einem anderen Ausgang eine missratene WM bedeutet hätte, übertrug sich diese auf seine Spieler. „Wenn man merkt, dass der Bundestrainer den Druck an sich ranlässt oder unsicher wird, dann überträgt sich das natürlich“, sagte Kapitän Moritz Müller: „Aber Harry war immer souverän in der Situation.“
Tolle Ausstrahlung, toller Charakter
Der erfahrene Coach durchlebte bei seiner WM-Feuertaufe als Bundestrainer heftige Emotionen. Nach dem Viertelfinalsieg gegen die favorisierten Schweizer, die als Tabellenerster durch die Gruppenphase gerauscht waren, kämpfte der Haudegen sogar mit den Tränen. „Das berührt mich“, sagte er in einem TV-Interview. Es gebe „nichts“, worüber er sich habe ärgern müssen, er fühle sich „unglaublich gut aufgehoben bei dieser Mannschaft“. Für den guten Teamgeist hatte der frühere Mannheimer Meistercoach auch mit einer im Vorfeld durchaus kritisch beäugten Kaderzusammenstellung gesorgt: „Man kann nur hoffen, dass sich eine Mannschaft in der Kabine zusammenfindet, dass dieser Spirit sich bildet. Dass die Mannschaft sich so zusammenfindet und so ein Spirit entwickelt, das freut mich riesig.“ Genauso wie die Silbermedaille und die erfolgreiche Qualifikation für die Olympischen Spiele 2026 in Italien. „Ich bin unheimlich stolz auf diese Mannschaft und das, was sie geleistet hat“, sagte Kreis.
Mit Recht – fand auch der Bundeskanzler. „Ihr habt alle begeistert!“, ließ Olaf Scholz nach dem Finale über die sozialen Medien verlauten: „Und Gratulation an Kanada zum Titel! Ich freue mich auf die Heim-WM 2027.“ Schon vor dem Halbfinale gegen die Schweiz hatten im Lager des DEB sprichwörtlich die Sektkorken geknallt. Beim Jahreskongress des Weltverbandes IIHF in Tampere war die Austragung der WM 2027 an Deutschland vergeben worden. Das Votum fiel eindeutig aus: 103 zu 34 Stimmen gegenüber Mitkonkurrent Kasachstan. Damit findet exakt zehn Jahre nach den bislang letzten Titelkämpfen wieder eine Eishockey-Weltmeisterschaft auf deutschem Boden statt. Damals war Köln gemeinsam mit Paris Gastgeber gewesen, diesmal trägt der DEB das Großevent alleine aus. Gespielt wird in der SAP Arena von Mannheim, in der auch die deutsche Mannschaft ihre Gruppenpartien austragen soll, und im PSD Bank Dome in Düsseldorf. Ob wie bei der Heim-WM 2010 erneut ein Spiel in einem Fußballstadion stattfinden wird, ist noch offen. Intern gibt es längst die Überlegungen und Planungen eines Freiluftspiels, das im Fall der Fälle zum Auftakt von der deutschen Mannschaft bestritten werden soll. Bei den Titelkämpfen 2010 hatte das Spiel Deutschland gegen die USA (2:1 nach Verlängerung) rund 78.000 Zuschauer in die Fußballarena von Schalke 04 gelockt.
Heim-WM im Jahr 2027
So oder so sei die WM-Vergabe „ein Meilenstein für den DEB“, sagte Verbandspräsident Peter Merten: „Eine Heim-WM ist für die Spieler sicherlich mit das Größte.“ Doch vor allem für den DEB selbst war die Entscheidung essenziell. Der Verband ist auf die Einnahmen regelmäßig in Deutschland stattfindender Weltmeisterschaften angewiesen, um seine vor Jahren begonnene Strukturreform fortsetzen zu können und die Finanzen in den Griff zu bekommen. Das wird angesichts der Energiekrise, die vor allem eine energieintensive Sportart, wie es zum Beispiel auch Eishockey ist. hart trifft, nicht einfacher. „Aktuell haben wir noch ordentlich Liquidität, aber wir müssen natürlich haushalten mit steigenden Kosten“, sagte Merten. Mehreinnahmen durch die WM sollen in die Jugendarbeit und ins Frauen-Eishockey fließen, „damit wir auch in sechs, acht Jahren wieder Nationalmannschaften haben, die in ein Halbfinale oder Finale kommen“.
Das Bundesinnenministerium unterstützt den DEB auf diesem Weg. Sportministerin Nancy Faeser gratulierte dem Verband unmittelbar nach Bekanntgabe der WM-Vergabe „herzlich“. Die SPD-Politikerin ist sich sicher: „Dies ist auch ein weiterer Erfolg für die Sportnation Deutschland und wird noch mehr Menschen in unserem Land für den Eishockey-Sport begeistern.“ Die Weltmeisterschaften in den Jahren 2010 und 2017 hätten gezeigt, „mit welcher Leidenschaft und Fairness sie den Eishockey-Sport feiern können“.