Wenn die Babyboomer pflegebedürftig werden, steht der Sozialstaat vor riesigen Herausforderungen. Daher sei es wichtig, ehrenamtliche Strukturen zu schaffen, die das Risiko auf Pflegebedürftigkeit im Alter minimieren, sagt Saar-Gesundheitsminister Magnus Jung (SPD).
Herr Jung, wenn die Babyboomer nun älter werden, werden die bisher bestehenden Pflegestrukturen nicht ausreichen. Ihr Haus arbeitet daher an dem Projekt „Saar66“. Was ist das?
„Saar66“ ist ein neuer Ansatz in der Senioren-, Gesundheits- und Pflegepolitik, den wir hier im Land entwickeln wollen. Damit wollen wir eine Antwort auf die Frage geben: Wer pflegt denn eigentlich die Babyboomer? Aktuell ist die Situation so, dass die Familien den größten „Pflegedienst“ im Land darstellen, denn fast drei viertel der Menschen, die pflegebedürftig sind, werden von ihren Angehörigen versorgt. Das wird in Zukunft außerordentlich schwierig werden, weil zum einen die Geburtenrate mit den Jahren immer mehr abgenommen hat, zum anderen die Kinder häufiger nicht mehr im näheren Umfeld wohnen, sondern womöglich irgendwo in Deutschland. Sie können also nicht in die tägliche Pflege eingespannt werden. Die hier entstehende Kluft wird dann nicht so einfach mit Pflegefachkräften gefüllt werden können. Wir haben ja jetzt schon die Situation, dass das Pflegepersonal knapp aufgestellt ist. Wir betreiben große Anstrengungen, um die Zahl des Fachpersonals zu erhöhen, aber es wird sicherlich nicht ausreichen, um dieses Problem zu lösen.
Sie betonen aber zeitgleich, dass das Projekt kein Ersatz für die professionelle Pflege sein soll …
Genau! Es geht nicht darum, dass die Menschen zwischen 65 und 80 jetzt selber ehrenamtlich die Pflege von anderen übernehmen sollen. Das ist gar nicht der Punkt. Pflege ist eine Sache von professionellen Pflegediensten oder von Angehörigen. Wir verfolgen bei „Saar66“ den Ansatz der Prävention. Wir wollen Menschen dazu ermutigen und dabei unterstützen, in ihre eigene Gesundheit zu investieren und damit das Risiko, pflegebedürftig zu werden, zu verringern. Unsere Zielgruppe – also Menschen ab 65 – kann auch noch sehr viel dafür tun. Mit Sport, mit Bewegung. Aber auch mit Ernährung und – ein ganz wichtiger Punkt – sozialen Kontakten. Einsamkeit ist eines der größten Gesundheitsrisiken im Alter.
Wie soll das aussehen?
Man kann da individuell schon sehr viel tun. Insbesondere dann, wenn vor Ort - also in den Städten, Gemeinden und Dörfern - entsprechende Strukturen und Angebote vorhanden sind. Wir müssen das direkte Wohnumfeld der Menschen sozialpolitisch in den Blick nehmen und genau dort Strukturen fördern und entwickeln, die Menschen genau bei diesen präventiven Ansätzen unterstützen.
Sie haben es bereits angesprochen: In erster Linie richtet sich das Projekt an Menschen über 65. Warum genau diese Altersgruppe?
In dieser Altersgruppe kann man noch sehr viel präventiv tun, sie ist aber auch noch in der Lage, einen stärkeren Beitrag dafür zu leisten, dass diese Prävention auch für andere gelingt. Zum Beispiel durch Besucherdienste, durch Unterstützung beim Einkaufen, indem man sich ehrenamtlich engagiert, Seniorenvereine oder Seniorensport organisiert. Das alles sind Initiativen, die vor Ort angekurbelt und gesteuert werden müssen. Wir haben im Saarland über 100 Herzgruppen für Leute, die Herzerkrankungen haben. Das sind Angebote, die flächendenkend benötigt werden. Dafür brauchen wir aber auch die ehrenamtlichen Vereine oder Gruppen, die genau diese Angebote schaffen und dafür mobilisieren. Diese Idee der „Selbsthilfe“ möchten wir auch mit Hilfe des örtlichen Gemeinwesens, der Ortsvorsteher, den Gemeindeverwaltungen, aber auch den Ärzten und Pflegediensten vor Ort unterstützen. Dafür wollen wir als Land auch ein Förderprogramm auflegen, das in den Gemeinden mindestens eine halbe Stelle finanziert, die die dafür nötigen Prozesse vor Ort initiiert und koordiniert. Denn eines ist ja ganz klar: Ehrenamt braucht auch hauptamtliche Unterstützung.
Das Land haben Sie bereits angesprochen. Wird es auch Förderung durch den Bund oder die EU geben?
Wir haben das Projekt bereits dem Bundesgesundheitsministerium vorgestellt und gehen davon aus, dass wir im Rahmen des Pflegeunterstützungs und -entlastungsgesetzes finanzielle Unterstützung erhalten werden. Wir versuchen gerade eine recht komplizierte Mischfinanzierung aufzulegen. Die Kommunen sind gesetzlich für Senioren zuständig, sollen also auch Kosten mittragen. Wenn man durch Prävention eine Unterbringung in einem Heim verhindern kann, dann entlastet das die Kassen der Landkreise ja auch. Wir möchten mit unserem Förderprogramm unsere Hilfe und unsere Konzepte anbieten, die Umsetzung liegt am Ende aber in der Hand der Kommunen und der von ihnen beauftragten freien Träger.
Gibt es denn schon Feedback aus den Kommunen?
Die Kommunen, die hier ohnehin schon engagiert sind, sind natürlich sehr interessiert. Und auch sonst haben wir viel Zustimmung bekommen. Schwierig wird es natürlich immer dann, wenn es ernst wird. Wenn man also aktiv Dinge angehen und Mittel im Haushalt bereitstellen muss. Wir sind jetzt dabei, die Finanzierungsstrukturen zu realisieren und die Voraussetzungen zu schaffen, dass es im nächsten Jahr losgehen kann.
Kann man abschätzen, welche Kosten auf die Kommunen zukommen?
Das haben sie ein Stück weit selbst in der Hand. Je nachdem, in welchem Umfang sie personalisieren werden. Ganz grob gerechnet: Eine halbe Stelle mit Personal- und Sachkosten vor Ort ist mit 60.000 Euro sehr gut ausgestattet. Wie die Situation letztlich aussehen wird, erfahren wir gegen Ende des Jahres, sobald alle relevanten Vereinbarungen getroffen sind.
Mit wie vielen Freiwilligen rechnen Sie etwa?
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Wir haben 52 Städte und Gemeinden. Wenn ich an meinen Heimatkreis St. Wendel denke, da haben die meisten Gemeinden etwa 10.000 Einwohner. Da wird man immer ein solides Netzwerk haben. Dann gibt es aber eben auch die kleineren Dörfer. Ich würde mir wünschen, wir hätten in jedem Dorf mindestens eine Hand voll Ehrenamtliche. Aber: Wir fangen nirgendwo bei null an! Es gibt fast überall entweder einen Seniorenverein oder einen Ortsvorsteher. In vielen Gemeinden gibt es bereits jemanden, der für die Interessen von Senioren zuständig ist. Aber viele wissen eben nicht genau, welche Umsetzungsmöglichkeiten es gibt. Da fehlt sozusagen der fachliche Background in der Kommunalverwaltung. Der Wille ist aber da. Das merken wir auch immer wieder im Gespräch mit den Kommunalpolitikern. Wir wollen also Standards für eine aktive Seniorenpolitik entwickeln und diese in der Fläche ausrollen und somit wirklich gute Strukturen auf einem einheitlichen Niveau schaffen. Mit diesem präventiven, sozialpolitischen und innovativen Ansatz schlagen wir aus seniorenpolitischer Sicht einen neuen Pfad ein. Ich finde, das ist eine wirklich lohnenswerte Aufgabe und zudem auch eine, die das Saarland seniorenpolitisch nach vorne bringen kann.
Warum bietet sich gerade das Saarland dafür an?
Das Saarland ist Ehrenamtsland. Das Saarland ist auch das Bundesland mit der ältesten Bevölkerung in Westdeutschland. Wir haben letzten Endes auch großen Druck, etwas gegen diese demografische Entwicklung zu tun. Die eigentliche Frage ist: Warum machen wir das jetzt? Weil wir jetzt die Gelegenheit haben! Als Sozialdemokraten ist unser Verständnis von Sozialpolitik auch ein aktiver, präventiver Sozialstaat, der gesellschaftliche Entwicklungen in die Zukunft gerichtet annimmt.
Reicht „Saar66“ alleine aus, um Kommunen altersfreundlich zu machen?
Älteren Menschen ist eine ganze Reihe von Dingen wichtig, die wir so einfach politisch gar nicht regeln können. Vor allem brauchen sie eine gute Infrastruktur und Versorgung vor Ort, einen guten ÖPNV. Wir müssen für diejenigen Mobilität sichern, die kein Auto mehr fahren können oder wollen. Das betrifft auch die gesundheitliche Versorgung genauso wie die Versorgung mit Lebensmitteln. Mittlerweile muss man an manchen Orten schon schauen, wie man überhaupt noch an Bargeld kommt oder wie man einen Brief loswird. Eine intakte öffentliche Infrastruktur ist in den kommenden Jahren mit das wichtigste seniorenpolitische Ziel. Aber eben auch die soziale Teilhabe muss in den Fokus rücken. Ein Großteil der sozialen Interaktion findet im Arbeitsleben statt. Das fällt bei Rentnern schon einmal weg. Familie vor Ort wird immer weniger. Da fehlt was, und da müssen wir mit Vereinen und Gruppen ansetzen. Das alles gehen wir an, damit man im Alter auf Strukturen zurückgreifen kann, die man vorher selbst mit aufgebaut hat.