Wie unsere Autorin als 16-Jährige über Nacht den „Osterspaziergang“ von Johann Wolfgang von Goethe lernte – und ihn bis heute nie wieder vergaß.
Wir treffen uns morgen im Rosengarten zum Unterricht“, teilte unser Deutschlehrer Heinz Richter am Ende der Stunde mit und entließ seine 10. Klasse mit ratlosen Gesichtern. Länger als 50 Jahre liegt das nun zurück, doch dieser Satz hat sich mir fest ins Gedächtnis eingegraben. Denn an jenem kalten Märztag, als diese denkwürdige Unterrichtsstunde stattfand, stellte sich eine Weiche für meinen weiteren Lebensweg. Davon allerdings ahnte ich noch nichts, als ich mich früh am Morgen auf den Weg zum hoch über der Stadt gelegenen Rosengarten machte, von dem aus man einen fantastischen Blick auf meine Heimatstadt Naumburg an der Saale hat.
Der Naumburger Dom mit seinen weltberühmten Stifterfiguren, heute Unesco-Weltkulturerbe; die Wenzelskirche mit ihrer Hildebrandt-Orgel, der weltweit einzigen erhaltenen, die Johann Sebastian Bach maßgeblich mitkonzipiert und 1746 persönlich abgenommen hat; die verwinkelten mittelalterlichen Straßen und Gassen mit ihren stattlichen Bürgerhäusern, die Weinberge im Hintergrund, und die Saale, die sich gemächlich durchs Tal schlängelt – all das präsentierte sich dem Auge wie ein wunderschönes Spielzeugland. Der Anblick war uns allen wohlvertraut, doch wozu, um Himmels Willen, sollten wir uns das morgens um 8 Uhr anschauen? Was hatte unser Lehrer vor?
Eine Erklärung gab er nicht, stattdessen begann er, den Rücken zur Stadt, ein Gedicht vorzutragen:
„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche,
durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
im Tale grünet Hoffnungs-Glück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
zog sich in raue Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
ohnmächtige Schauer körnigen Eises
in Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.“
Ein Schauer lief mir über den Rücken, denn was Herr Richter rezitierte, konnte ich sehen: die erwachende Natur, Krokusse und Schneeglöckchen auf den Wiesen, erste zaghafte grüne Spitzen an den vielen Rosenbüschen der Parkanlage. Beim Weitersprechen drehte er sich um, und wir folgten ihm wie „ferngesteuert“.
„Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
denn sie sind selber auferstanden,
aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
aus Handwerks- und Gewerbes Banden,
aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
aus Straßen quetschender Enge,
aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
sind sie alle ans Licht gebracht.“
Einige meiner Mitschüler kicherten, andere langweilten sich sichtlich. Die meisten jedoch hingen an den Lippen unseres Lehrers. Obwohl von unserem Beobachtungspunkt aus in der Stadt weder ein buntes Gewimmel zu sehen war, noch Menschen, die ihre Gesichter den ersten Sonnenstrahlen des Tages entgegenstreckten: Das Kopfkino spielte den Film vom Frühlingserwachen. Beim „Zuschauen“ muss ich wohl gedanklich kurz in eine andere Zeit abgedriftet sein, denn ich schreckte zusammen, als Herr Richter, mich anschauend, euphorisch ausrief:
„Sieh nur sieh! wie behend sich die Menge
durch die Gärten und Felder zerschlägt,
wie der Fluss, in Breit’ und Länge,
so manchen lustigen Nachen bewegt.
Und, bis zum Sinken überladen
entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
hier ist des Volkes wahrer Himmel,
zufrieden jauchzet gross und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“
Für einen Moment herrschte völlige Stille. Alle starrten wir auf unseren Lehrer und warteten darauf, was wohl als nächstes passiert. Das sei „Der Osterspaziergang“ von Johann Wolfgang von Goethe, sagte er dann mit seiner gewohnten Stimme, eine Ballade, die der Dichter 1779 geschrieben habe und die Bestandteil seines großen Werkes „Faust I“ sei, das demnächst auch für uns als Pflichtliteratur auf dem Unterrichtsplan stehe. Vorerst aber bestünde unsere Hausaufgabe nur darin, bis zur nächsten Stunde die Ballade zu lernen.
Noch auf dem Heimweg gingen mir die Verse nicht aus dem Kopf. Zu Hause las ich mir den „Osterspaziergang“ noch ein paarmal durch, immer die Bilder vom Rosengarten im Kopf. Am nächsten Morgen begleiteten sie mich auf dem Weg zur Schule, der durch die historische Innenstadt führte. „Wer will freiwillig?“, fragte Herr Richter. Wie selbstverständlich hob ich die Hand und erschrak im gleichen Moment darüber. Denn: Ich war zwar alles andere als schüchtern, aber reden vor vielen anderen war nicht so mein Ding. Doch diesmal war alles ganz anders: Die Bilder vom Tag zuvor und Goethes Ballade wurden eins. Die Worte purzelten nur so aus meinem Munde. Ich rezitierte fehlerfrei und ohne zu stocken.
„Sehr gut“, lobte Herr Richter, und ich war selbst überrascht. Denn bislang hatte ich mich mit dem Auswendiglernen von Gedichten immer sehr schwer getan. Dieser Lehrer musste ein Magier sein! Das stellte er später noch öfter unter Beweis. Als Goethes „Zauberlehrling“ sprang er plötzlich auf den Lehrertisch und schrie panisch:
„O, du Ausgeburt der Hölle!
Soll das ganze Haus ersaufen?
Seh ich über jede Schwelle
doch schon Wasserströme laufen.
Ein verruchter Besen,
Der nicht hören will!
Stock, der du gewesen,
Steh doch wieder still!“
Seine Panik klang so echt, dass man fast spüren konnte, wie das Klassenzimmer geflutet wurde. Beim „Erlkönig“ spielte er so mit seiner Stimme, dass man glaubte, vier Personen wären in den Raum getreten: der verführerische Erlkönig, der angstvolle Sohn, der beruhigende Vater und der sachliche Erzähler. Und zum „Prometheus“ erzählte er uns eine sehr emotionale persönliche Geschichte aus seiner Kindheit, die ihm den bis dahin festen Glauben an einen Gott nahm.
Stets ließ sich unser Lehrer Neues einfallen, um seine Schüler an vermeintlich „verstaubte“ Literatur heranzuführen. Sogar „Faust“ habe ich nach seiner Einführung mit großer Begeisterung gelesen. Heute weiß ich, dass neben meinem Deutschlehrer Goethe, der ja viele Jahre seines Lebens in Weimar – nur rund 30 Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt – lebte und diese viermal besuchte, mit „Schuld“ daran trägt, dass ich Journalistin geworden bin. Die Faszination, Bilder in Worte zu fassen, hat mich seit dem Morgen im Rosengarten nicht mehr losgelassen. Den „Osterspaziergang“ kann ich bis heute aus dem Gedächtnis rezitieren und hätte nicht einmal ein Problem damit, wenn man mich dafür nachts wecken würde.