Die deutsch-französischen Beziehungen sind auf höchster politischer Ebene unterkühlt. Und in den Grenzregionen werden die Chancen des Aachener Vertrags längst nicht voll ausgeschöpft. Der Historiker Landry Charrier über Gründe, Chancen und Perspektiven.
Herr Charrier, warum ist die deutsch-französische Freundschaft so wichtig für den Zusammenhalt in Europa?
Die Geschichte zeigt uns, dass die großen Entscheidungen über die Zukunft der Europäischen Union Führung erfordern und dass Deutschland und Frankreich in den meisten Fällen diese Rolle übernommen haben. Meist ist es aber so, dass beide Länder von sehr unterschiedlichen Positionen ausgehen. Dadurch entsteht oft der Eindruck, dass sie nicht miteinander können. Dieses Narrativ wurde in den letzten Monaten von vielen gerne verbreitet. Dabei wurde verschwiegen, dass die Themen, die jetzt auf dem Tisch liegen, äußerst komplex sind und dass die Fragen, die sich jetzt stellen, schon immer da waren. Der Krieg in der Ukraine, der geopolitische Stress lassen uns aber keine Wahl: Wir müssen jetzt Antworten darauf finden. Fortschritte gibt es aber bereits bei schwierigen Themen wie der Reform des europäischen Strommarkts und der des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Es bleibt aber noch viel zu tun.
Wo lauern die Gefahren für die deutsch-französische Freundschaft?
Das sind vor allem die Gleichgültigkeit, das wachsende Desinteresse für den anderen. Wer sich nicht kennt, kann nicht verstehen, wie der andere tickt. Das erschwert dann die Kooperation. Einer Umfrage des Allensbach-Instituts zufolge interessieren sich 63 Prozent der Franzosen kaum oder gar nicht für Deutschland, deutlich mehr als noch vor fünf Jahren. Auch das Interesse der Deutschen an dem, was in Frankreich passiert, ist rückläufig. Das ist besorgniserregend.
Was heute fehlt, sind emotionale Bezugspunkte, zumindest auf höchster politischer Ebene. Die Zusammenarbeit funktioniert in etlichen Bereichen sehr gut, aber die Beziehung wirkt manchmal wie ausgetrocknet. Dabei geht es nicht um Symbolik, sondern um Elan, persönlichen Einsatz.
Wie kann man trotz Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Ländern für mehr Verständnis werben?
Es muss in erster Linie darum gehen, die Voraussetzungen zu schaffen, damit beide Länder einander besser verstehen. Mit dem Aachener Vertrag und der Erklärung vom 22. Januar 2023 zum 60. Jubiläum des Elysée-Vertrags wurden die Weichen dafür gestellt. Leider passiert es immer wieder, dass der eine oder andere sich darüber hinwegsetzt und den Partner bei wichtigen Entscheidungen nicht einbezieht. Das sorgt für Frust, Misstrauen, Spannungen.
Die deutsch-französischen Beziehungen sind nicht in einem schlechten Zustand, nur weil es Meinungsverschiedenheiten gibt. Sie sind besser als ihr Ruf. Aber es ist nicht zu leugnen, dass es zwischen Olaf Scholz und Emmanuel Macron besser laufen könnte. Daher ist es gut, dass ein neues Format eingeführt wurde, um persönliche Kontakte zu fördern, losgelöst von einem strengen Korsett. Jacques Chirac und Gerhard Schröder hatten zum Beispiel mit dem Blaesheim-Prozess, also regelmäßige, informelle Gespräche, auf ein Instrument zurückgegriffen, um nach dem Zerwürfnis von Nizza zueinander zu finden.
Welche Fortschritte wurden durch den Aachener Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich für die Grenzregionen erreicht?
Dass der Aachener Vertrag sich des Themas entschieden angenommen hat, kann nur begrüßt werden. Es hätte allerdings längst passieren sollen.
Mit dem Deutsch-Französischen Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit verfügen die Grenzregionen über ein einzigartiges Instrument, das es ihnen erlaubt, konkrete Lösungen zu entwickeln für die Probleme des Alltags. Es geht dabei um kleine Projekte, aber auch um ganz große Dinge wie die Reaktivierung der Bahnstrecke Freiburg–Colmar. Die Verbindung ist seit der Zerstörung der Breisacher Eisenbahnbrücke über den Rhein 1945 unterbrochen. Wir reden seit Jahren darüber. Der Aachener Vertrag hat sich nun das Projekt auf die Fahnen geschrieben. Ein Durchbruch hätte große Signalwirkung und das nicht zuletzt in einer Region, in der der Rassemblement National nicht selten gute Wahlergebnisse einfährt. Denn am Ende geht es auch um die Glaubwürdigkeit der Politik.
Die Sprachen Deutsch und Französisch sind im jeweils anderen Land nicht sonderlich beliebt. Wie kann man das ändern?
Das Problem ist nicht neu. Auch hier reden wir seit vielen Jahren darüber. Geändert hat sich allerdings sehr wenig. Warum? Weil die Entscheidungsträger oft nicht zu dem stehen, was sie ankündigen. Kapitel 3 des Aachener Vertrags nennt ehrgeizige Ziele, die allem Anschein nach nicht erreicht werden. Die Strategie zur Förderung der Partnersprache, die am 24. November 2022 veröffentlicht wurde, enthält viele interessante Ideen, aber keiner weiß, was daraus geworden ist.
In Frankreich hat der Lehrerverband der französischsprachigen Deutschlehrer ADEAF vor Kurzem auf die Situation des Deutschunterrichts in Frankreich aufmerksam gemacht. Sie ist dramatisch. Nur noch 14,1 Prozent lernen Deutsch gegenüber 16,1 Prozent im Jahr 2018. Es gibt 40 Prozent weniger Lehrer als 2008. 72 Prozent der Stellen im Sekundarschullehrerbereich (CAPES) sind nicht besetzt. Die Arbeitsbedingungen der Lehrer verschlechtern sich kontinuierlich, der Beruf wird unattraktiv. Ein Teufelskreis.
Wir brauchen mehr Engagement seitens beider Regierungen und einen breitangelegten Ansatz, der das ganze Spektrum in den Blick nimmt von der Kita bis hin zu Fortbildungsangeboten. Das setzt Mut voraus, den Mut zu sagen, Deutsch und Französisch sind prioritär und wir werden entsprechend handeln auch in Zeiten knapper Ressourcen. Die angekündigte Schließung von drei Goethe-Instituten in Frankreich – ein fatales Signal – ist allerdings ein Beleg dafür, dass wir noch weit davon entfernt sind.
Wie kann man mehr Begeisterung für Deutschland und Frankreich entfachen?
Durch eine größere Unterstützung der Einrichtungen, die an der Basis arbeiten und die durchaus das Potenzial hätten, noch mehr zu leisten. Wir müssen den deutsch-französischen Dialog in die Regionen transportieren und in der Fläche arbeiten. Paris und Berlin sind nicht das Maß aller Dinge.
Deutschland und Frankreich haben dieses Jahr jungen Erwachsenen insgesamt 60.000 kostenfreie Bahntickets fürs Nachbarland spendiert. Ein Riesenerfolg, der zeigt: Die wachsende Entfremdung ist nicht alternativlos. Wir können handeln und Begeisterung durch Maßnahmen dieser Art erzeugen. Wir müssen nun daran anknüpfen und mehr Initiativen dieser Art ergreifen!