Nach seinem Abschluss in Modedesign an der Westminster University gründete Steven Stokey-Daley sein Label S.S Daley und revolutionierte mit seinen märchenhaften Designs die Traditionen der Modebranche.
Kaum eine Gesellschaft ist so besessen von Klasseneinteilungen wie die britische. Viele Soziologen behaupten, dass die Briten ihr Gegenüber auch heute noch innerhalb weniger Sekunden anhand der Aussprache oder wegen der Verwendung bestimmter Begriffe der Ober- oder Unterschicht zuweisen können. Nicht einmal die Bildungsexpansion konnte die Klassenunterschiede wesentlich nivellieren. Weil es noch immer die Elite-Einrichtungen gibt, zu denen die Sprösslinge ärmerer Bevölkerungsschichten schon allein aufgrund der gigantisch hohen Gebühren keinerlei Zugang haben und deren Absolvierung letztendlich die entscheidende Basis für eine spätere berufliche Karriere bilden. Vor diesem Hintergrund ist es schon erstaunlich, dass sich ein junger, noch dazu homosexueller Designer aus einem Liverpooler Arbeitermilieu ausgerechnet diese Elite-Schulen und deren traditionelle Bekleidungsvorgaben gleichermaßen als Inspirationsquelle und als Angriffsfläche auserwählt hat, um daraus einen persönlichen und queeren modischen Neuansatz zu entwickeln.
Werbeträger Harry Styles
Sein geradezu märchenhaftes Glück sollte darin bestehen, dass sich mit dem britischen Sänger und Schauspieler Harry Styles ausgerechnet die männliche Stil-Ikone Nummer eins für die Kreationen von Steven Stokey-Daley begeistert hatte und in dem im Oktober 2020 veröffentlichten, millionenfach geposteten Video zu seinem Song „Golden“ unglaubliche sechs Pieces aus der Studien-Abschlusskollektion des Newcomer-Designers getragen hatte. Der daraus unter dem Titel „The Inalienable Right“ nur wenige Monate nach seinem Menswear-Studienende und dem BA an der Londoner University of Westminster seine erste eigene Kollektion für den Herbst/Winter 2020/2021 entwickeln sollte. Dank dem durch Harry Styles Mitwirken ausgelösten Hype konnte Stokey-Daley die schweren Corona-Zeiten geschäftlich bestens bewältigen, weil er von Nachfragen vor allem nach seinen ultraweit ausgestellten und aus Vintage-Vorhängen gearbeiteten Hosen samt blauem Blumendruck und einem bauschig-wallenden weißen Hemd geradezu überschwemmt worden war.
Mit Mode hatte der als Sohn eines im Baugewerbe tätigen Vaters sowie Großvaters und in einer unscheinbaren Wohnsiedlung aufgewachsene Steven Stokey-Daley rein gar nichts am Hut. Wenn man davon absieht, dass er schon zu Schulzeiten gemobbt wurde, weil er in klassischer Montur aus Hemd und Hose statt in den damals in seinem Umfeld üblichen Klamotten von North Face, Jogginghosen und Turnschuhen zum Unterricht zu erscheinen pflegte.
Zunächst sah Steven seine Zukunft in den Bereichen Grafik und Kunst, folgte aber einem Rat seiner Lehrer, sich vielleicht besser mit der Mode zu beschäftigen. Obwohl er sich „nie für Mode interessiert“ hatte, sich „nie mit Textilien beschäftigt hatte und auch nicht nähen konnte“, bewarb er sich schließlich doch erfolgreich für ein Studium an der University of Westminster in London. „Das Modestudium war für mich eine Möglichkeit“, so Stokey-Daley, „Theater und Literatur durch Kleidung, Kleidungsstücke und Präsentationen zu erkunden.“ Wobei das dem Westminster-Campus benachbarte Elite-Internat Harrow School, mit Gebühren von mehr als 14.000 Pfund pro Semester eine der teuersten Schulen der Insel, seine eigentliche Studienbühne werden sollte. Genauer gesagt, deren Schüler und noch präziser deren traditionelle Uniformen und Klamotten, in denen Stokey-Daley schier atemberaubend Theatralisches entdecken konnte.
Designs mit einem queeren Touch
Seine geniale Idee, die er bis zu seiner Sommerkollektion 2022 perfektionierte , bestand darin, diesen traditionellen Kleidungsstücken, den langen archaischen Fracks, den Blazern, den taubengrauen Hosen mit weitem Beinschnitt oder den aus der Zeit gefallenen Strohhüten einen queeren Touch zu verleihen. Wofür er zusätzlich auch noch das einzigartige Archiv historischer Herrenmode der University of Westminster durchforstet hatte und sich durch die Lektüre querer und teils verfilmter Literaturklassiker wie „Maurice“ von E. M. Forster, „Ein anderes Land“ von James Baldwin oder „Wiedersehen mit Brideshead“ von Evelyn Waugh hatte inspirieren lassen.
Nach und nach eignete sich Stokey-Daley dadurch ein riesiges Insiderwissen über britische Mode-Klassiker an: wie die Oxford Bags mit ihren geradezu absurd weiten Beinen aus den 1920er-Jahren, über die typische Old-School-Cricket-Ausrüstung oder die doppelte nach vorne gerichtete Hosenfalte aus den 1930er- und 1940er-Jahren. Und absolvierte zwei nach seinen eigenen Angaben ungemein lehrreiche jeweils sechsmonatige Praktika bei den Labels Alexander McQueen und Tom Ford. Seine Abschlussarbeit im Sommer 2020 sollte schließlich historische und literarische Bezüge vereinen. „Meine Arbeit dreht sich thematisch um die High Society, um Bildung, das Patriarchat und die von Männern dominierte Elite der öffentlichen Schulen“, so Stokey-Daley gegenüber der „Vogue“, „Ich glaube, da ich aus der Arbeiterklasse stamme, ist das genau das, wovon ich so unendlich weit entfernt bin, von dieser Fantasie und Frivolität, die sich in einem vollständig mit Blumen geschmückten Bootsrennhut oder den Fracks im täglichen Schulleben dokumentiert. Für mich hat das etwas so Theatralisches und etwas so von Natur aus Weibliches, dass ich glaube, dass ich davon hingerissen war, weil es sich so wie eine literarische Anspielung anfühlte.“
Dass überhaupt jemand Notiz von dieser Abschlussarbeit genommen hatte, war mehr oder weniger dem Zufall zu verdanken. Denn das kleine Studio von Steven Stokey-Daley in East-London lag direkt neben dem von Harry Lambert, dem Stylisten von Harry Styles. Obwohl der Jungdesigner Lambert nicht persönlich kannte, schickte er ihm doch per Mail aus seinem Schlafzimmer in Liverpool einige Fotos von seinen Hosen und Hemden zu. Lambert fand die Kreationen zwar hochinteressant und gab einige Stücke davon im Namen von Styles in Auftrag, wobei er jedoch gleich die Einschränkung machte, dass er keinerlei Garantie dafür geben könne, dass sein Klient die Klamotten auch wirklich tragen werde. Als der Popstar dann tatsächlich in seinem Video die blumengeschmückte Hose und das frei fließende weiße Hemd präsentierte, war S.S. Daley mit einem Schlag in aller Munde und konnte die Bestellungen kaum bewältigen.
Sein Debüt auf der London Fashion Week im September 2021 für die Sommersaison 2022 mit dem Titel „Class“ lockte dann auch eine ganze Reihe von Stars an, von Ben Aldridge über Jessica Henwick bis zu Lauren Lyle. Wobei das traditionelle Laufstegformat durch eine Art Theateraufführung ersetzt wurde, weil die Kreationen, die größtenteils wieder aus Vintage-Stoffen oder Deadstock-Materialien geschneidert waren, nicht von Models, sondern von Mitgliedern des National Youth Theatres vorgeführt wurden. Zu den Highlights zählten fraglos ein besticktes Rugby-Shirt, ein Cutaway-Gehmantel, hoch taillierte Rugby-Gobelin-Shorts, eine rote Paisley-Bomberjacke und Badeanzüge im Vintage-Look oder scharfe Doppelfaltenhosen. Und natürlich durften auch die übergroßen Hemden im Stil von Harry Styles mit gespreiztem Kragen und voluminösen Dichterärmeln wieder nicht fehlen.
Preisgeld in Höhe von 300.000 Euro
Als Lohn für diese außergewöhnliche Kollektion wurde der 25-jährige Stokey-Daley im Juni 2022 mit dem weltweit wichtigsten Nachwuchspreis, dem LVMH-Prize, ausgezeichnet. „Er eignet sich die Codes der Schneiderei an, indem er mit den Klischees der englischen Kultur der Oberschicht spielt“, so die Laudatio. Das Preisgeld in Höhe von 300.000 Euro benutzte er dazu, um in London ein größeres Studio zu beziehen, womit er auch dem rasanten Umsatzwachstum Rechnung trug. In weniger als zwei Jahren war es dem Newcomer der als LVMH-Preisträger auch ein Jahr lang die Betreuung durch Experten des Luxus-Mega-Konzerns in allen geschäftlichen Belangen nutzen konnte, gelungen, ein profitables Geschäft aufzubauen. Auch Nobel-Einzelhändler wie Matchesfashion standen bei ihm nun Schlange, auch wenn sich das Label den Direktvertrieb an den Verbraucher noch immer als wünschenswert offengehalten hatte. Die Produktion konnte nicht mehr nahezu komplett aus Naturfasern oder Material-Restbeständen und auch nicht mehr allein in Großbritannien bewältigt werden, sondern musste teilweise ins Ausland verlagert werden, Schneiderei nach Italien, Jersey nach Portugal. „Als junger Designer ist es ziemlich schwierig“, so Stokey-Daley gegenüber der „Vogue“, „Schneiderei zu machen, wenn man nicht über Savile-Row-Erfahrung oder entsprechende Kontakte verfügt.“ Damit nicht genug, kündigte der Designer, der gestrickte gelbe Enten beispielsweise als Deko-Motiv auf Trenchcoats oder Strickjacken zu seinem Markenkennzeichen gemacht hat, für den Winter 2022/2023 auch erstmals Damenmode in seinem Programm an. Und wurde als Krönung des Jahres 2022 auch noch mit dem Award des British Fashion Councils für aufstrebende Talente bedacht.
Für seine im Februar 2022 auf der Londoner Fashion Week präsentierte Kollektion für den Herbst/Winter 2022/2023 nannte Stokey-Daley britische Herrenhäuser der frühen 1900er-Jahre und die hinter deren Mauern zu dieser Zeit als schwere Sünde angeprangerte Homosexualität als seine Inspirationsquelle. Zudem teilte er mit, dass ein Großteil der Kollektion mithilfe von ausgemusterten Materialien bewältigt werden konnte, da es ihm gelungen war, ein gigantisches Restelager in Großbritannien zu entdecken. Tatsächlich gab es erste Ausflüge Richtung Damenmode beispielsweise mit einem bordeauxroten Cordanzug oder glänzenden Blusen. Doch der Schwerpunkt lag nach wie vor auf der Menswear mit schokoladenbraun karierten Anzügen, seidigen Hemden mit Vorhangquasten, schwarzen Lederwesten, hautengen Pulloverwesten, marineblauem Rippstrick samt Cut-outs, cremefarbenem Grobstrick, gurkengrünen Mänteln oder einem knielangen Coat aus malvenfarbenem Karo-Stoff. „Es macht mich emotional, dass Männer einst und mancherorts immer noch dafür bestraft wurden, beziehungsweise werden, schwul zu sein. Ich wollte daher wirklich mit dieser Kollektion diesbezüglich ein klares Zeichen setzen.“ Seine Sommerkollektion 2023 kam dann als Ode an die lesbische Liebe daher. Wofür er wieder Schauspieler engagiert hatte, die aus den intimen Briefen zwischen der britischen Schriftstellerin Vita Sackville-West und ihrer Kollegin Violet Trefusis vorlasen. In der Kollektion gab es viel Tragbares in Gestalt von Blusen samt Streifen- oder Ballonärmeln, weit geschnittenen Sommerhemden aus irischem Leinen, Pullovern mit blau-weißer Wegdewood-Plattenstickerei, Pulloverwesten, Morgenmäntel, adretten gestreiften Roben oder Strickjacken mit Reißverschluss.
Oxford-Bags als stetige Begleiter
Zur Präsentation seiner Winterkollektion 2023/2024 war diesmal das Theater selbst zu Stokey-Daley gekommen – in Gestalt des legendären britischen Schauspielers Sir Ian McKellen, der sich selbst zum Mitwirken bei der Veranstaltung angeboten und eine Lesung aus Alfred Tennysons „The Coming of Arthur“ gehalten hatte. „Es ist keine Überraschung“, so das Männermagazin „GQ“, „dass der Schauspieler bei Stokey-Daley mitmachen wollte. In nur drei Saisons hat dieser sich von einem Neuling auf der Bühne der London Fashion Week zu einem der meistdiskutierten Designer der Hauptstadt entwickelt.“ Nach eigenem Bekunden ist der Designer diesmal zu neuen Ufern aufgebrochen, wobei seine Kreationen an Relikte nach einem Schiffbruch auf hoher See erinnern: zerrissene, bauschige Hemden, zerschlissene Strickwaren und zerfetzte, schalartige Wolloberteile. Dazu übergroße Anzüge mit hübschen Matrosenkragen, ballonige Faltenhosen oder marineblaue Peacoats aus Moleskin. Und noch etwas ist neu, nämlich der Vorstoß in die elegante Abendmode, wofür Stokey-Daley schmückende Pailletten auf kastenförmigen Anzüge oder Krawatten in die Männermode einführte. Recht schräg hingegen die nackten männlichen Pin-ups auf Satinhemden oder Roben. Auch für die Damen hatte der Designer wieder einiges im Angebot, beispielsweise ein schräg geschnittenes Seidenkleid in dunklem Ozeanblau oder ein locker aufgeknöpftes Hemdblusenkleid, das in einen bodenlangen Rock überging. In seiner Sommerkollektion 2024 hat sich Stokey-Daley schließlich die Würdigung britischer Künstler und Handwerker zum Ziel gesetzt. Es finden sich klar geschnittene Anzüge neben plissierten Shorts oder übergroße Wollpullover mit Hunde- oder Entenstickereien. Die gehäkelten Baumwollhemden, die Wappenröcke und natürlich seine längst zur Marken-DNA gewordenen weiten Oxford-Bags nicht zu vergessen.