Als Mittelfeldstratege beherrschte er bei Gladbach, Real Madrid und der deutschen Nationalelf die „Tiefe des Raumes“. Er wurde je zweimal Meister in Deutschland und Spanien sowie zweimal Fußballer des Jahres. Am 14. September wird er 80 Jahre alt.
Im Vergleich zu heute war das Steinzeit“, beschreibt Günter Netzer in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) die fußballerische Realität seiner Glanzzeit in den 70er-Jahren. Manche Abläufe im Profifußball seien zwar über die Jahre ähnlich geblieben, „aber den Beruf des Sportarztes gab es nicht, keinen Athletiktrainer, keine Physiotherapeuten“. Zum Glück auch noch nicht die derzeit für Spieler unverzichtbare Medien- und Sponsorenarbeit. Und im Vergleich mit den heute immensen Gehältern seien damalige Verträge bescheiden ausgefallen: Angefangen habe er bei Gladbach mit 160 D-Mark monatlich bezogen und als gestandener Nationalspieler nur etwa ein Viertel des Gehalts von Franz Beckenbauer. Und selbst nach seinem Wechsel zu Real Madrid seien seine Jahresbezüge mit 295.000 DM im Rahmen geblieben. Netzer hat sich deshalb in Gladbach mit der Herausgabe einer Stadionzeitung, einem 3.000-Mark-Nebenjob als Versicherungsmakler und zwei Jahre lang mit der Diskothek „Lover´s Lane“ etwas hinzuverdient.
„Ich war kein Revoluzzer“
Der kultige Spielmacher galt als erster Popstar des deutschen Fußballs: Mit wehender Mähne, eleganten Frauen, extravaganten Autos und schicken Klamotten war er ein Liebling der Boulevardpresse. Heute darauf angesprochen, sieht Netzer sich total verkannt. Für sein Outfit sei damals seine Freundin verantwortlich gewesen: „Ich schämte mich teilweise, wie ich herumlief“, verriet er der „NZZ“. Er sei immer ein sehr sensibler Mensch gewesen und habe „lieber fernab der Öffentlichkeit“ gelebt: „Das traut man mir überhaupt nicht zu, aber es ist so!“ Er habe mit seinem Verhalten nie auf öffentliche Wirkung abgezielt, sondern sich nur mit Instinkt und Intuition durchs Leben manövriert. Heute im fortgeschrittenen Alter, so Netzer, habe er auch „den Nerv“, mit den Leuten über sein damaliges Image zu reden und manches zurechtzurücken. Klar ist er sich darüber, dass sein fußballerisches Können die Eintrittskarte in sein hervorgehobenes Leben gewesen ist: „Wenn ich den Ball nicht getroffen hätte, hätte man mich hundertfach zum Teufel gejagt.“
Selbst- und Fremdwahrnehmung hätten sich früher sehr unterschieden: „Ich war kein Revoluzzer.“ Das hätten die Medien „erfunden“, betont Netzer. Seine Konfrontation mit Trainer Hennes Weisweiler sei lediglich „eine fachliche Auseinandersetzung“ gewesen, weil die offensive Spielweise seines „etwas sturen“ Vorgesetzten nicht dem Wohl der Mannschaft gedient hat. Wirklich „gehasst“ hat er aber immer nur seine Konditionstrainer, am meisten den von Real Madrid: „Der war jugoslawischer Meister über 1.500 Meter. Das war die absolute Hölle.“ Inzwischen hat Netzer sich aber mit früheren Kontrahenten wieder versöhnt und auch sein lange Zeit gestörtes Verhältnis zu Borussia Mönchengladbach normalisiert, „weil die Führung seit einigen Jahren wieder sehr gute Arbeit macht“ und auch ehemalige Spieler mit einbindet. Er sei gerührt gewesen, dass die Borussia ihn 2019 anlässlich seines 75. Geburtstages mit einer Ausstellung geehrt habe, auch wenn er selbst kein Nostalgiker sei und keinerlei „Fußball-Reliquien“ zu Hause aufbewahre. Erinnerungen an seine Fußballjahre und die damit verbundenen Annehmlichkeiten hat Netzer allerdings jede Menge, weil er dadurch ein privilegiertes Leben führen konnte. So habe er beispielsweise zahlreiche Künstler kennengelernt und viel von ihnen profitieren können, nicht nur weil ihm Frank Sinatra mal in Las Vegas einen Ehrenplatz bei einem Elvis-Presley-Konzert verschafft hat.
Liebt Familienzeit auf Sylt
Netzer beendete mit 32 Jahren seine Fußball-Karriere beim Schweizer Grasshopper Club Zürich: „Ich hatte bereits große Schmerzen, hatte viele Verletzungen, die man nicht richtig gepflegt hatte. Alles blieb im Körper stecken.“ Zurückblickend habe er die Zeichen der Zeit stets richtig erkannt und in all seinen Karrieren „zum richtigen Zeitpunkt ein Ende gefunden. Ich bin demütig und dankbar, dass ich ein solches Leben führen durfte“, betonte der bekennende Familienmensch in der „NZZ“. Er habe lange Zeit eigentlich drei bis vier Leben geführt: „Doch vor zehn Jahren habe ich alle meine Leben aufgegeben, bis auf das reale“, erklärte Netzer kürzlich im WDR-Podcast „Einfach Fußball“. Er übe keine TV-Tätigkeit mehr aus, habe seinen Beruf aufgegeben und nehme in der Presse so gut wie nie zu aktuellen Fußballthemen Stellung. Weil er eigentlich alles schon gesagt habe, könne es ja nur Wiederholungen geben: „Und ich hasse Wiederholungen!“
Eine Ausnahme scheint jedoch die Wahl des Urlaubsortes zu sein: Seit über 40 Jahren erholt er sich mit seiner Familie auf Sylt: „Meine Höhepunkte des Jahres.“ Ansonsten lebt Netzer seit den 80er-Jahren in der Schweiz und hatte dort auch seine berufliche Existenz. Dass er seit 2015 sogar die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzt, hat ihn kürzlich davor geschützt, im „Sommermärchen-Prozess“ in Deutschland aussagen zu müssen.