In Berlins erstem Tageshospiz können unheilbar kranke Menschen Kraft tanken und aus ihrer Isolation herauskommen. Betreut werden sie von Fachpersonal und engagierten Freiwilligen.
Sybille strickt. Noch vor ein paar Wochen hätte sie selber über sich gelacht: „Ich und stricken“. Aber nun geht es ihr recht flott von der Hand. Über den Kopfhörern, mit denen sie Musik hört, trägt sie einen feschen schwarzen Hut. Kein modisches Statement, er ist Ersatz für die fehlenden Haare. Die hat sie nach mehreren Chemotherapien verloren. „Bis es dann eines Tages hieß – Feierabend. Ich hörte das Wort Hospiz und hatte sofort ‚Siechenhaus‘ im Kopf. Aber ich dachte, ich guck’ mir das mal an – und sah freundliche Gäste und eine mit dem Chef lachende Schwester! Das hier ist einfach ein Ort, wo Menschen sich treffen, die an ihrem Lebensende angekommen sind.“ Seit April 2022 ist sie im Tageshospiz der Ricam Hospiz gGmbH. Die unterhält in Neukölln eine stationäre Einrichtung und den ambulanten Hospizdienst Delphin. Das Tageshospiz mit seinen acht Plätzen im Ricam Hospiz Zentrum öffnete 2020 als Erstes in Berlin. Zusätzlich gibt es zehn Plätze im stationären Bereich. Im ganzen Bundesgebiet sind es 13 Tageshospize, zwölf sind derzeit im Bau.
In palliativ-medizinischen Tageskliniken, von denen es in Deutschland nur fünf gibt, werden die körperlichen oder seelischen Schmerzen gelindert. Im Gegensatz dazu geht es in den Tageshospizen darum, die unheilbar kranken Menschen aus ihrer Isolation zu holen und Kraft tanken zu lassen.
Nur fünf Tageskliniken in Deutschland
Sybille, die inzwischen stationär aufgenommen wurde, hat ihre Entscheidung nicht bereut: „Ich freue mich auf jeden Tag. Alle geben sich so viel Mühe. Die Bilderausstellung auf dem Flur, da habe ich auch mitgemacht. Und jetzt stricken wir an einer Patchworkdecke für die Wand im Aufenthaltsraum.“
Dort hat sich an diesem Freitagvormittag eine kleine Runde zusammengefunden. Auch Doris und Helga stricken. Eine Mitarbeiterin verteilt Pflanzschilder aus Ton, entstanden in der Töpferwerkstatt nebenan. Eigentlich wollten sie jetzt dort sitzen und Ton kneten, aber der Töpferkurs fällt heute aus. Schade. Aber wo man gerade so nett beisammensitzt, kann man sich auch mit einer Journalistin unterhalten.
Für die meisten sind die Angebote im Hospiz eine willkommene Abwechslung im Alltag. Einige kommen täglich, andere einige Tage in der Woche von Montag bis Freitag. Auch vor Cornelia liegen einige Schilder. „Da wird sich meine Schwester freuen, die hat sie bei mir bestellt.“ Cornelia genießt die Zeit im Zentrum, „weil man hier eine Struktur hat“. Sie wohnt in einer Pflege-WG, und da passiert tagsüber nichts. Heute bekommt sie noch Massagen und freut sich wie die anderen auf das Mittagessen. Freitags gibt’s Fisch.
Doris ist dreimal die Woche da. Ihr Arzt meinte, er könne ihr nicht mehr helfen und machte sie auf das Hospiz aufmerksam. „Ich fühlte mich vom ersten Tag an gut aufgehoben. Es wird versucht, alle unsere Wünsche zu erfüllen. Zum Geburtstag bekommt man ein Lied gesungen und mittwochs haben wir einen Klavierspieler hier, der junge Mann macht sonst den Empfang. Erst kürzlich waren wir am Müggelsee. Den kannte ich vorher gar nicht, da fahre ich jetzt noch mal mit meinem Freund hin.“ Ja, die Zeit vergehe hier so schnell, anders, als wenn man allein zu Hause sei, stimmt ihr Helga zu und zieht ein Knäuel dicke, gelbe Wolle aus dem Karton mit vielen, bereits fertigen Wollstücken.
Am anderen Ende des Tisches sitzt Klaus, der einzige Mann in der Runde. Die Feststellung, dass er unheilbar krank ist, war ein Schock. Weil er wollte, dass im Hospiz die Palliativbehandlung weitergeht, wurde Kontakt zu seiner Palliativärztin aufgenommen. „Gleich beim ersten Gespräch hier ist mir Begleitung angeboten worden, die ich gern angenommen habe. Wenn ich mal etwas unruhig bin, ist jemand da und hört mir zu. Das ist für uns und die An- und Zugehörigen eine seelische Entlastung, das hat man bei einer normalen Pflege nicht. Wir bekommen hier auch Therapien und Anwendungen, zweimal in der Woche kommt eine Musiktherapeutin.“ Ihm tut besonders die Gemeinschaft gut, und da schmeckt dann auch das Essen besser als allein zu Hause. Er findet, dass Tageshospize mehr gefördert und auch finanziell unterstützt werden sollten.
Jeder Mensch wünscht sich einen würdevollen Abschied vom Leben, im Kreis von Familie oder Freunden. Aber das gelingt nur 20 Prozent von ihnen, drei Viertel aller Deutschen sterben im Krankenhaus oder Pflegeheim, zwei Prozent in Hospizen. Umso wichtiger ist die Begleitung beim letzten Lebensabschnitt. Tageshospize haben den Vorteil, dass die Menschen im gewohnten Umfeld leben können, tagsüber aber mit anderen zusammen sind und medizinisch versorgt werden. Betroffene kommen so aus ihrer Isolation und Angehörige werden entlastet. Ein interdisziplinäres Team aus Krankenpflegern, Sozialarbeitern und Therapeuten bietet physiotherapeutische Behandlungen, schmerztherapeutische Beratungen sowie die Möglichkeit für individuelle Gespräche an. Auch die behandelnden Ärzte der Gäste kommen ins Haus. Geholfen wird ebenso bei sozialrechtlichen Fragen oder beim Ausfüllen von Anträgen. Und wer möchte, kann dort auch zum Friseur oder zur Fußpflege gehen.
Das alles wäre nicht machbar ohne die Ehrenamtlichen, die Teil des Teams sind. Es werden viele Hände gebraucht, zum Beispiel in der Küche, da im Zentrum frisch gekocht wird. Aber auch Helfende, die sich um den Garten oder die Blumen kümmern, die mit den Gästen basteln oder Musik machen, sind immer willkommen. „Unsere Ehrenamtlichen, beispielsweise am Empfang, leisten eine wertvolle Arbeit“, betont Hospizleiter Philipp Freund. „Sie öffnen die Tür, nehmen Pakete entgegen und stellen Telefonate durch. Ebenso tragen die ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen in der Begleitung, der Küche und im Garten zum Gelingen des neuen Projektes hier in Rudow maßgeblich bei.“
Für pflegende Angehörige gibt es das Projekt „Sor Gal“
Ab diesem Jahr soll es regelmäßig einen Tag der offenen Tür geben, bei dem sich Interessierte informieren können. „Extra für pflegende Angehörige haben wir das Projekt ‚Sor Gal‘ gegründet, die sorgende Gemeinschaft am Lebensende. Das ist ein Hilfs- und Unterstützungsnetzwerk mit Partnern aus verschiedenen Bereichen.“ Wichtigstes Ziel ist es, die Lebensqualität von Menschen mit lebensverkürzenden oder chronischen Krankheiten zu verbessern. Darüber hinaus werden Angehörige zu Themen wie Pflege beraten und bekommen Unterstützung bei sozialrechtlichen Belangen. Da das Projekt vom Berliner Senat gefördert wird, sind die Angebote kostenlos.
Zum Team der Ehrenamtlichen gehört auch Grischa. Sie macht an diesem Freitag den Empfang. „Als mein Mann vor sechs Jahren starb, erzählte mir die Bestatterin vom Ricam Hospiz. Ich hatte schon vorher den Wunsch, ehrenamtlich zu arbeiten. Später habe ich eine Ausbildung zur ehrenamtlichen ambulanten Sterbebegleiterin abgeschlossen und eineinhalb Jahre eine Begleitung gemacht. Ich finde ja, Lebensbegleitung passt besser. Hier im Tageshospiz arbeite ich seit drei Monaten, alle 14 Tage freitags, weil ich noch berufstätig bin. Mir gefällt der Kontakt zu den Gästen. Wenn man mit Menschen zu tun hat, bekommt man immer etwas zurück. Und man wird als Ehrenamtliche wertgeschätzt und getragen. Die Arbeit hier sehe ich eher positiv. Natürlich ist es schmerzhaft, sich von jemandem zu verabschieden, aber Tod und Sterben hat gar keine Schwere für mich. Der Tod gehört zum Leben dazu, das ist ein Kreislauf, das wird häufig ausgeblendet. Man lernt fürs Leben, das ist für mich wertvoll.“
Inzwischen ist es Mittagszeit. Bunt gemischt sitzen die Gäste und das medizinische Personal am langen Tisch. Es gibt Lachs, Nudelsalat als Vorspeise und Erdbeercreme als Nachtisch. Die meisten Teller sind leer gegessen, es hat also geschmeckt. Während einige von Physiotherapeuten zur Behandlung geholt werden, setzen sich andere draußen auf die Terrasse oder in den Garten, um noch etwas Herbstsonne abzubekommen. In zwei Stunden gibt es Kaffee und Kuchen, dann werden alle vom Fahrdienst nach Hause gebracht. (Anmerkung der Redaktion: Sybille und Klaus sind kurz nach Fertigstellung dieses Artikels verstorben.)