Nördlich vom australischen Festland liegt Papua-Neuguinea. Das tropische Inselland zählt zu den artenreichsten Ländern der Erde. Seine wohl ungewöhnlichsten und sicher auch possierlichsten Bewohner sind die Baumkängurus. Manchmal kann man den neugierigen Beuteltieren ganz nahekommen.
Am Rand des Regenwalds, unweit von Rondon Ridge, regt sich an diesem späten Nachmittag kein Lüftchen. Doch was bewegt sich da im dichten Blätterdach? In der Krone eines hohen Baumes macht sich offenbar ein Tier zu schaffen – und zwar ein kräftiges, das Zweige auseinanderbiegen kann. Allerdings ist es nicht sichtbar und deshalb vermutlich eher klein. Auch schwer kann es nicht sein, sonst würden es die dünnen Äste gar nicht tragen können.
Die Forscherlust erwacht in mir. Nur heißt es jetzt: Am besten stehen bleiben, still sein und Geduld bewahren. Warten. Dann, endlich, in einer Lücke zwischen Laub und Zweigen kommt der rätselhafte, schwindelfreie Kletterer zum Vorschein. Es ist … ein Teddybär?
Besäße er nicht einen puscheligen Katzenschwanz, könnte man den rundlichen Gesellen mit seinem dicken, braunen Fell tatsächlich für ein lebendig gewordenes Spielzeug halten. Doch in Neuguinea gibt es keine wilden Kuscheltiere. Was dort hoch über mir an seiner grünen Rohkost knabbert, ist ein Baumkänguru.
Der wissenschaftliche Name dieser Gattung ist Dendrolagus – das vom Altgriechischen abgeleitete Wort für „Baumhase“. Mit einem langohrigen Nagetier kann ich jedoch kaum Ähnlichkeit entdecken. Später werde ich erfahren, dass „mein Exemplar“ ein Dendrolagus notatus ist: ein Ifola-Baumkänguru. 1916 von dem deutschen Zoologen Paul Matschie erstmalig beschrieben, galt es für lange Zeit als Unterart des Doria-Baumkängurus (Dendrolagus dorianus). Erst 2018 erklärte man die Spezies als eigenständig.
Auf dem benachbarten australischen Festland leben über 50 verschiedene Känguru-Arten. Nur zwei davon – das Bennett-Baumkänguru (Dendrolagus bennettianus) und das Lumholtz-Baumkänguru (Dendrolagus lumholtzi) – haben sich dort dem Leben im Geäst des Waldes angepasst.
Insgesamt 14 Baumkänguru-Arten
So auch in Neuguinea, wo man mit elf der insgesamt 14 Baumkänguru-Arten die meisten Vertreter dieser Gattung findet. Sechs davon sind ausschließlich in Papua-Neuguinea zu Hause, dem Westteil der Insel. Das weiß ich von Paul Api. Der Natur- und Wanderführer aus Mount Hagen erzählte es mir am Vortag bei einer Erkundungstour, bei der wir jede Menge Vögel sahen, jedoch keine Beuteltiere.
„Anders als die meisten Arten der Familie sieht man Baumkängurus nur selten am Boden – zur Paarung etwa“, hatte er erklärt. Wie alle Kängurus tragen und säugen sie ihre winzigen Jungen nach kurzer Schwangerschaft viele Monate in einem Bauchbeutel. Zahlreiche Details ihrer Biologie sind noch nicht erforscht.
Als bekannte Unterschiede zu ihren Verwandten zählt Paul Api auf: „Statt Gras, der Hauptnahrung der meisten Arten der Familie, ernähren sich die Baumbewohner überwiegend von Blättern. Sie leben meist als Einzelgänger, und statt mit kraftvollen Hüpfern langer Hinterfüße bewegen sie sich mit kurzen, kräftigen Beinen am Boden eher hopsend vorwärts.“
In den Wipfeln aber seien sie großartige Springer, überwinden flink und sehr geschickt selbst Abstände von mehreren Metern. Sie in der Natur zu treffen, sei leider nicht mehr selbstverständlich. „Obwohl Ifolas wie die meisten Baumkänguru-Arten vom Aussterben bedroht und deshalb streng geschützt sind, werden sie gejagt. Bei vielen Einheimischen gilt ihr Fleisch als Leckerbissen. In manchen Bergdörfern sind sie so begehrt, dass man sie als Brautpreis verwendet“, so der Insider.
Die weitverbreitete Missachtung der entsprechenden Gesetze kommentiert Tony Kandata vom nationalen Fremdenverkehrsamt so: „Auf dem Land bei uns ist heute noch die Urgesellschaft sehr lebendig. Alter Glauben, Tradition und Stammesregeln stehen oft über staatlichen Sanktionen.“
Ich persönlich hoffe sehr, dass sich die klugen Tiere vor den Jägern oder Bräutigamen immer gut verstecken können. Das Ifola über mir checkt vermutlich noch die Lage, will sich von seinem Hochsitz aus erst davon überzeugen, dass ich ihm nichts Böses will. Vorläufig gilt sein Hauptinteresse einer ausgiebigen Blättermahlzeit. Nur ab und zu schenkt es mir einen Blick von oben.
Die Luft ist sanft und klar, der Himmel wolkenrein. Jenseits des Waldes setzen sich die Kubor-Gebirgskette und das Wahgi Valley wirkungsvoll in Szene. Majestätisch breitet sich um mich herum das Hochland Neuguineas aus. Ich stehe mittendrin. Denn jeweils rund 2.200 Höhenmeter trennen mich von den Gipfeln der Gebirge und der Bismarcksee, einem kleinen Randmeer des Pazifiks. Als „Kaiser-Wilhelms-Land“ war die Region von 1885 bis 1919 Teil des deutschen Kolonialreichs.
Starke Krallen als Waffe und zum Greifen
Immer noch im Sprachgebrauch sind in dem seit 1975 unabhängigen Inselstaat Papua-Neuguinea sonderbare Namen wie Friedafluss und Kaiserin-Augusta-Bucht, Heuschoberinseln und Seeadler Harbour. An das imperiale Erbe erinnert auch das Bismarckgebirge mit dem Mount Wilhelm oder Wilhelmsberg (benannt nach Wilhelm von Bismarck, jüngerer der beiden Söhne des späteren preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck), den ich von meinem Standort sehen kann. Mit 4.509 Metern ist seine Spitze Neuguineas höchster Punkt.
Die nach Grönland zweitgrößte Insel der Erde, geografisch Teil des australischen Kontinents, gehört etwa zur Hälfte zu Indonesien (im Osten) und zu Papua-Neuguinea. Zerklüftet von vulkanischen Gebirgen ist sie an vielen Stellen gar nicht oder nur schwer zugänglich, ein Großteil ihrer Fläche gänzlich unberührt. Und genau in diesen traumhaft schönen Berg- und Flusslandschaften hütet Neuguinea seinen kostbarsten Schatz: eine einmalige Tier- und Pflanzenwelt mit jeder Menge wunderbarer Sonderlinge.
Es raschelt wieder im Geäst. Das Geräusch wird deutlicher, kommt näher. Nun will es das Ifola wissen. Seine Neugier hat gesiegt, mein Warten hat sich gelohnt. Das Tier hat seine Komfortzone in einer Astgabel verlassen und ist auf dem Weg nach unten. Ohne Eile, aber zielbewusst, klettert es den Stamm hinab, seinen Schwanz von circa einem halben Meter Länge als Stütze nutzend.
Es ist ein Männchen, Waschbär-groß, mit dunklen Kulleraugen und kleinen, dichtbehaarten Teddyohren. Ist es ausgewachsen, könnte es mehr als neun Kilogramm auf die Waage bringen und eine Kopf-Rumpf-Länge von bis zu 70 Zentimetern haben. Weibchen sind ein bisschen kleiner und mit maximal sechseinhalb Kilogramm auch etwas leichter.
Wie ich nun gut erkennen kann, helfen dem Tier beim Klettern seine imposanten, starken Krallen. Fest umklammert es damit den eher glatten, sehr geraden Stamm des Baumes und bewegt sich Stück für Stück nach unten. Wie mir Paul Api erklärt, nutzen Ifolas diese scharfen Hornwerkzeuge auch als Waffe zur Verteidigung sowie zum Greifen oder Festhalten der Nahrung.
Auf einem waagerechten Ast in meiner Augenhöhe angekommen, inspiziert der knuffige Waldbewohner ohne jede Scheu zunächst die Kamera, dann mich. Ich stehe reglos da – sehe, höre, spüre, wie seine Bärennase mein Gesicht beschnuppert. Er selbst riecht nicht nach Teddy, eher stark nach Känguru.
Als feststeht, dass bei mir nichts Essbares zu holen ist, springt der Ifola-Mann beherzt ins Gras und kaut frustriert an ein paar Halmen. Während ich vor Glück und Überraschung immer noch versteinert bin, erklimmt er schon den nächsten Baum und ist im Nu im Tropengrün verschwunden.