Bei Union Berlin spielen sich zwei Jungprofis in den Vordergrund. Sie stehen für eine leicht abgewandelte Personalpolitik beim Fußball-Bundesligisten.
Dirk Zingler ist seit zwei Jahrzehnten der Präsident von Union Berlin. Ohne seine Zustimmung läuft beim Bundesligisten aus Berlin-Köpenick so gut wie nichts – trotz der inzwischen hochprofessionellen Strukturen im Verein. Seit dem Aufstieg 2019 äußert sich Zingler auch immer wieder zu sport- und gesellschaftspolitischen Themen, mal gefragt und mal ungefragt. Über die Fanproteste während des geplanten und am Ende doch gescheiterten Investoren-Einstiegs bei der Deutschen Fußball Liga („Ich halte den sozialen Frieden im deutschen Fußball für enorm gefährdet“), über die Kritik an der saudi-arabischen Milliarden-Offensive im Weltfußball („Diese moralische Überhöhung Europas geht mir richtig auf den Zeiger“), über die deutsche Politik währen der Corona-Pandemie („Wir sind im Vollchaos, in einem katastrophalen Zustand“) – zu allem scheint Zingler eine klare Meinung zu haben, über die sich nicht selten kontrovers diskutieren lässt. Zu sportlichen Dingen bei Union Berlin äußert sich Zingler aber nur selten öffentlich. Diese Dinge sieht er bei Trainer Bo Svensson und Sport-Geschäftsführer Horst Heldt aufgehoben. Doch kurz nach Saisonstart überraschte der Club-Boss doch mit einer sportlich sehr spezifischen Prognose: „Er wird sicherlich der zukünftige linke Außenverteidiger in der Nationalmannschaft.“ Gemeint war Tom Rothe.
„Er ist der beste 19-Jährige, den wir auf dieser Position haben“, begründete Zingler seine These: „Wenn er sich weiterentwickelt, wird er auch von unseren Nationaltrainern gesehen werden. So viel gute linke Außenverteidiger haben wir nicht.“ Wie richtig Zingler mit seiner Einschätzung damals lag, haben die ersten acht Saisonspiele gezeigt. Der Youngster ist aus der Startelf nicht mehr wegzudenken. Im schweren Auswärtsspiel am Samstag (2. November) bei Rekordmeister FC Bayern München kann Rothe beweisen, dass er womöglich tatsächlich schon zu Höherem berufen ist. Bundestrainer Julian Nagelsmann dürfte jedenfalls genau hinschauen, wie sich der Neu-Berliner gegen die Nationalspieler Serge Gnabry, Leroy Sané und Co. schlägt. In der U21 trumpft Rothe schon jetzt auf, zuletzt sorgte er mit starken Leistungen dafür, dass sich der deutsche Fußball-Nachwuchs in der Gruppenphase ungeschlagen für die EM-Endrunde in der Slowakei qualifizierte.
Rothe ist ein Paradebeispiel für die modifizierte Transferpolitik der Eisernen. Nach dem Aufstieg setzte der Club– auch aus finanziellen Zwängen heraus– weitestgehend auf erfahrene Profis als Soforthilfen. Mittlerweile ist der Club sportlich und finanziell so gefestigt, dass die Verantwortlichen eine Verjüngung des Kaders ohne allzu großes Risiko einleiten konnten. Rothe (19), Benedict Hollerbach (23), Leopold Querfeld (20) und auch Aljoscha Kemlein (20) haben bereits ihre Einsätze bekommen und sind teilweise sogar schon einen Schritt weiter. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung war der 2:0-Sieg bei Holstein Kiel: Kemlein aus dem eigenen Nachwuchs erzielte auf Vorlage von Rothe das erste Tor, den zweiten Treffer steuerte Rothe selbst bei. „Junge, Junge, Union!“, schrieb danach die „Bild“. Auch beim jüngsten 1:1 gegen Eintracht Frankfurt war der Jugend-Trend zu beobachten: Rothe, Kemlein und Hollerbach standen in der Startelf, Hollerbach gelang zudem der Treffer zum Ausgleich.
„Am Ende stellt der Trainer auf“
Kurios: Die beiden Jungstars Rothe und Kemlein waren im Vorjahr beide mit unterschiedlichen Vereinen in die Bundesliga aufgestiegen. Rothe war vom BVB an Holstein Kiel ausgeliehen, Kemlein in der Rückrunde von Union an den FC St. Pauli. Für beide war es kein Schritt zurück – im Gegenteil. In der zweiten Liga bekamen sie deutlich mehr Spielanteile, holten sich mehr Sicherheit und feierten am Ende einen großen Teamerfolg. Jetzt wollen beide Hoffnungsträger im deutschen Fußball-Oberhaus die nächsten Entwicklungsschritte in einem Team gemeinsam machen. Der schwache Saisonstart seines Ex-Clubs Kiel tut Rothe zwar leid, „weil mir schon noch was an ihnen liegt“. Doch über den Sieg im direkten Duell habe er sich gefreut. Während es Holstein wie erwartet schwer hat im Kampf um den Klassenerhalt, darf Rothe mit Union überraschenderweise vom Europapokal träumen. Aber dies öffentlich äußern, das tun auch die Jungprofis nicht. „Von Spiel zu Spiel zu denken, bei den Basics zu bleiben“ – das sei jetzt gefragt, äußerte Rothe. Man wolle versuchen, „in jedem Spiel die mannschaftliche Geschlossenheit auf den Platz zu bekommen“.
Bescheidenheit ist auch bei Kemlein gefragt. Anders als Rothe hat er sich noch keinen Stammplatz erobern können. Doch das soll sich schon bald ändern – so ist zumindest die Hoffnung der Verantwortlichen und auch Fans, die sich nach Identifikationsfiguren sehnen. „Eigengewächse spielen zu sehen, ist immer ein Genuss. Hoffe, der Junge wächst weiter!“, schrieb beispielsweise der in Berlin bekannte Rapper Finch als Kommentar zu einem Instagram-Post von Union. Der zeigte ein Jugendfoto von Kemlein, dazu schrieb der Club: „Wir sind unfassbar stolz auf dich, Joschi!“ Der 1,85 Meter große Mittelfeldspieler gilt als größtes Talent, das im Verein ausgebildet wurde. Seit der D-Jugend kickt Kemlein für die Eisernen, nachdem er 2016 vom SC Berlin ins Nachwuchsleistungszentrum gewechselt war. Seit September 2022 ist er offizieller Lizenzspieler bei Union, er soll mittelfristig zum Leistungsträger und Club-Idol entwickelt werden. Auch deshalb gab es von der Clubführung die Forderung, Kemlein stärker in die Erste Mannschaft zu integrieren.
„Nicht im Sinne eines Stammplatzes, aber im Sinne einer Ausrichtung“, wie Zingler betonte. Der Präsident stellte in dem Zusammenhang aber auch klar: „Am Ende stellt der Trainer auf, nicht der Präsident.“ Coach Svensson bemerkte in den vergangenen Wochen, wie sich Kemlein im Training „sehr auffällig“ präsentiert und „einfach gut“ performt habe. Außerdem sei er „reif und dran gewesen“. Eine Garantie auf weitere Einsätze sei das zwar nicht, so Svensson. Aber Kemlein sei auf einem hervorragenden Weg, sofern er die Leidenschaft und den Willen beibehalte: „Die Abstände zwischen unseren Spielern sind nicht groß. Joschi ist gefordert, Leistung zu bringen.“
Dass der Youngster heiß auf mehr Einsätze ist, davon kann man getrost ausgehen. „Es ist der Traum jedes kleinen Jungen, der bei Union spielt, in die Profimannschaft zu kommen. Das spornt mich jeden Tag an“, sagte Kemlein in der Sommer-Vorbereitung bei einem Medientag. Eigentlich hatten viele Experten schon im Vorjahr mit seinem Durchbruch gerechnet, doch Unions Horror-Saison 2023/24 hemmte die Entwicklung des großen Talents. Zwar gab er im August 2023 im Alter von 19 Jahren sein Bundesliga-Debüt und lief wenig später in der Champions League auch für ein paar Minuten gegen Real Madrid im legendären Bernabéu auf. Doch angesichts der zunehmenden Abstiegsangst wollten die Ex-Trainer Urs Fischer und Nenad Bjelica nicht auf einen Teenager setzen.
Das Trikot aus dem Real-Spiel, das er nicht mit einem der Madrider Starspieler tauschen wollte, hängt jetzt in seiner Wohnung. Als Beweis, wie weit er es schon geschafft hat. Doch da geht noch viel mehr, da sind sich intern viele einig. Genau wie bei Rothe. Aktuell stimmt die Mischung zwischen Jung und Alt, Erfahrung und Unbekümmertheit. „Momentan macht es sehr viel Bock mit der Truppe auf dem Platz zu stehen“, sagte Rothe.