Politik im Saarland ist seit einem Jahr lebendiger und diskussionsfreudiger geworden. Die Landtagswahl vor einem Jahr hat für klare Verhältnisse gesorgt. Das Land steht mitten in großen Umbrüchen. Das ambitionierte Ziel: ein klimaneutraler Industriestandort im Herzen Europas.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich nicht nur bei seinem Besuch und nach Gesprächen mit Saarstahl beeindruckt. Mit „Zuversicht und Optimismus“ würden die Umbrüche angepackt, die in diesem Land zu bewältigen seien. Der Eindruck bestätigte sich dem Staatsoberhaupt auch bei anderen Gesprächen während seines dreitägigen Aufenthalts im Rahmen der „Ortszeit Deutschland“ in Völklingen (s. auch Bericht ab S. 42). An Umbrüchen und Herausforderungen herrscht kein Mangel im kleinsten Flächenland der Republik.
Vor einem Jahr hat die Landtagswahl dem Land zudem einen einschneidenden Wechsel beschert. Mit einem eindrucksvollen Votum zeigten die Saarländerinnen und Saarländer, wem sie am ehesten zutrauen, die Transformation des Automobil- und Stahlstandortes in einen CO2-neutralen Industriestandort der Zukunft zu schaffen. Die Frage hat die Wahl entschieden, andere klassische landespolitische Fragen traten eher in den Hintergrund.
Die Wahl am 27. März 2022 brachte einen klaren Sieger hervor und viele Verlierer. Bei aller Zurückhaltung mit dem Attribut „historisch“ war es in mehrfacher Hinsicht eine Wahl der besonderen Art. Dass eine Partei in Deutschland jemals wieder eine absolute Mehrheit erringen könnte, galt bis dahin nach den Entwicklungen der Parteienlandschaft als praktisch ausgeschlossen. Dreier-Koalitionen oder GroKos galten als politischer Normalfall. Ebenso galt als ausgemacht, dass ein Juniorpartner einer Großen Koalition immer den Kürzeren ziehen würde. Die Saar-SPD widerlegte nicht nur diese beiden angenommenen Grundgewissheiten, sie beendete zugleich eine über zwei Jahrzehnte währende klare CDU-Dominanz im Land.
Für den Rest der Republik schien einmal mehr klar: Das kleine Land am westlichen Rand der Republik tickt eben anders. Was auch dadurch bestätigt schien, dass Grüne und FDP, die damals nach der Bundestagswahl und im Zuge der Ampel im Aufwind waren, einmal mehr den Einzug in den Landtag verpassten, die Grünen extrem hauchdünn (4,995 Prozent, es fehlten 23 Stimmen), die FDP mit 4,8 Prozent. Dass die Linken nach internem Streit und dem Rückzug Lafontaines in die Bedeutungslosigkeit versanken (2,6 Prozent), war eher eine Randnotiz.
Letztlich führte das dazu, dass die SPD mit 43,5 Prozent der Stimmen eine absolute Mehrheit der Sitze im Landtag bekam. Spitzenkandidatin Anke Rehlinger konnte ein Plus von knapp 14 Prozentpunkten einfahren. Vier Wochen später musste Ex-Ministerpräsident Tobias Hans seiner bisherigen Stellvertreterin nach der Wahl zur Ministerpräsidentin gratulieren. Er hatte mit seiner CDU gerade noch 28,5 Prozent erreicht, ein Absturz um mehr als zwölf Prozentpunkte.
Die politische Landkarte im Saarland war damit gründlich umgekrempelt. Nach zehn Jahren GroKo (unter CDU-Führung) gibt es seither wieder klare Verhältnisse. Der SPD-Alleinregierung steht die andere Volkspartei als klare Opposition gegenüber. Die AfD mit drei Abgeordneten spielt im parlamentarischen Geschäft kaum eine Rolle.
Wählerinnen und Wähler haben angesichts der enormen Herausforderungen für diese Verhältnisse gesorgt und damit ein Stück weit gegen die bis dahin verbreitete Auffassung verstoßen, wonach besonders große Herausforderungen eigentlich nur in breiter Kraftanstrengung und folglich am besten in einer Großen Koalition zu bewältigen seien.
Klare politische Verhältnisse
Ministerpräsidentin Anke Rehlinger hatte noch im Wahlkampf das Ziel von 400.000 „guten“, also sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen ausgegeben. Das schien ihrem Vorgänger Tobias Hans nicht gerade überambitioniert, waren es doch „nur“ einige Tausend mehr als zum damaligen Zeitpunkt. Die ehemalige Wirtschaftsministerin Rehlinger aber ahnte, was kommen würde. Die Entscheidung von Ford gegen den Standort Saarlouis (und für Valencia) war ein erstes dickes Ausrufezeichen zur Dimension der Herausforderung. Der Automobilstandort, fokussiert auf den Verbrenner, schien auf dem absteigenden Ast.
Noch kein halbes Jahr später kamen Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Vize, Wirtschaftsminister Robert Habeck ins Saarland, um die Präsentation einer geplanten Halbleiter-Chipfabrik (der weltweit größten für Siliziumkarbid-Chips) zu begleiten. Die kleine saarländische Gemeinde, einst letzter aktiver Grubenstandort, wird nun als Zukunftsstandort bundes- und europaweit bekannt. Eine Investition mit hoher Symbolkraft. Die großen Aufgaben aber bleiben (s. Interview S. 30).
Die CDU bemüht sich mit Stephan Toscani an der Spitze als Nachfolger von Wahlverlierer Tobias Hans um eine Neuaufstellung. Der frühere Finanzminister und Landtagspräsident hat im Landtag schnell die Rolle des Oppositionsführers angenommen und in einer Reihe von Themenfeldern (Finanzen, Bildung, Kommunen) CDU-Positionen geschärft. Die Partei steht aber noch ziemlich am Anfang einer Neuaufstellung, programmatisch ausgezehrt in einer Reihe von wichtigen Politikfeldern, was letztlich auch zur Wahlniederlage beigetragen hatte.
Wenn der Bundespräsident bei seinen Gesprächen „Optimismus und Zuversicht“ ausgemacht hat, ist das nicht nur eine freundliche Momentaufnahme für den hohen Besuch. Das Saarland ist geübt in großen Umbrüchen. Trotzdem sind die Dimensionen diesmal ungleich herausfordernder. Trafen frühere Umbrüche vor allem bestimmte Wirtschaftsbereiche, geht es jetzt im Grunde um einen kompletten Umbau, mit Automotive, Stahl und Energie im Zentrum.
Mit einem Drei-Milliarden-Sondervermögen (Transformationsfonds), das durchaus umstritten ist, zeigt die Regierung von Ministerpräsidentin Anke Rehlinger Entschlossenheit. Gelingen kann es angesichts der Dimensionen nur mit Begleitung aus Berlin und Brüssel.
Dass die Ministerpräsidentin zugleich als Beauftragte der Bundesrepublik für die deutsch-französischen Beziehungen mit am Kabinettstisch in Berlin sitzt, wird sie in ihrer bekannten zupackenden Art als Chance nutzen. Kanzler und Vizekanzler gemeinsam in Ensdorf hatte eine eigene Symbolkraft. Entscheidend wird aber auch die europäische Dimension sein. Die gleichzeitigen Transformationen im Automobilbereich und in Sachen grüner Stahl auf engstem Raum im Herzen Europas, eingebettet in der Großregion im Dreiländereck mit Frankreich und Luxemburg können auch zu einem Symbol für das Gelingen der europäischen Ziele werden: ein klimaneutraler Industriestandort, der im globalen Zusammenhang nicht nur wettbewerbsfähig, sondern Vorreiter ist.