Früher leitete er selbst eine Haftanstalt, heute spricht er sich offen gegen die Institution Gefängnis aus: Die Idee sei oberflächlich betrachtet sicherlich eine gute – doch gehe man mehr in die Tiefe, habe sie dringenden Reformbedarf, sagt Thomas Galli.
Herr Galli, die Justizvollzugsanstalten in Deutschland platzen derzeit zunehmend aus allen Nähten. Ganz salopp gefragt: Sperren wir zu viel ein?
Wir sperren ganz eindeutig zu viele ein! Die meisten Menschen denken, dass in den Haftanstalten hauptsächlich Schwerstverbrecher sitzen, die Körperverletzung, Tötungs- oder Sexualdelikte begangen haben, aber tatsächlich verbüßen ungefähr die Hälfte der Inhaftierten in Deutschland nur Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr. Etwa 50.000 Menschen pro Jahr werden für Ersatzfreiheitsstrafen inhaftiert. Das sind Leute, die schwarzgefahren sind oder ähnliche Delikte begangen haben und eine Geldstrafe dafür erhalten haben, die sie aber nicht bezahlen können und deswegen in Haft müssen. Ein wesentlicher Reformansatz muss daher sicherlich sein, bestimmte Delikte nicht mehr mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden, sodass am Ende deutlich weniger Menschen überhaupt eingesperrt werden müssen und man sich auf die schwersten Fälle konzentrieren kann.
Wie sollten solche Dinge Ihrer Meinung nach geahndet werden?
Ein Problem unseres Strafrechts ist, dass es viel zu täterzentriert ist. Die Opfer und Geschädigten spielen nur eine ganz geringe Rolle. Gerade bei Vermögensdelikten, also bei Diebstahl, Betrug und so weiter, ist das Hauptinteresse der meisten Geschädigten, dass sie den Schaden wieder gutgemacht bekommen, soweit es möglich ist. Diese Schadenswiedergutmachung, der Täter-Opfer-Ausgleich – den Täter also in die Pflicht zu nehmen, tatsächlich bestmöglich Verantwortung zu übernehmen – muss in den Vordergrund kommen! Die Opfer haben auch nichts davon, wenn der Täter in Haft kommt. Klar ist aber auch: Bei schlimmsten Straftaten wie Tötung ist eine Wiedergutmachung nicht möglich.
Schwerstverbrecher klammern Sie hierbei aus, sagen Sie. Sind Gefängnisse, wie wir sie heute kennen, für diese der geeignete Ort oder müsste auch für sie ein Systemwechsel her?
Es gibt Menschen, bei denen ich sage, ihnen muss schon allein zur Sicherung der Allgemeinheit die Freiheit entzogen werden. Notfalls auch lebenslänglich. Man muss auch ganz ehrlich sein und sagen, dass nicht jede Störung wegtherapierbar ist. Diesen Menschen muss die Freiheit entzogen werden, ja, aber es muss wohlgemerkt in einem menschenwürdigen Kontext passieren. Diese Leute, von denen wir hier sprechen, sind aber ein ganz kleiner Prozentsatz der Inhaftierten. Derzeit liegt er bei etwa fünf Prozent, auf die man sich dann viel besser konzentrieren könnte. Ich habe zu meiner Zeit als Anstaltsleiter viele dieser Menschen kennengelernt und engsten Kontakt gehabt, teilweise habe ich das auch heute als Rechtsanwalt noch. Nach meiner Erfahrung sind die, die schwerste Straftaten begehen oft Personen, denen selbst etwas Schlimmes zugestoßen ist. Daraus müssen wir auch lernen, Rückschlüsse zu ziehen. Wir müssen hier und heute Ressourcen einsetzen, damit sich heutige Kinder und Jugendliche gut entwickeln. Wir denken oft, wir können durch Strafe Gerechtigkeit schaffen. Es gibt uns das Gefühl, damit alles getan zu haben, was uns möglich ist. Aber im Grunde genommen hilft das ja nicht viel und wird auch für die Zukunft nicht verhindern, dass solche schlimmen Strafen begangen werden. Mit Strafe allein lösen wir das Problem nicht. Wir kommen dem nur näher, wenn wir mehr hinschauen, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass ein Mensch eine solche Tat begeht.
Sie haben es gerade angesprochen: Sie waren selbst einmal Leiter einer Haftanstalt. Hat Ihre Zeit damals Sie in Ihrer heutigen Meinung geprägt?
Ein ganz wichtiger Aspekt ist mir damals klar geworden. Sie müssen sich vor Augen führen: In einer Haftanstalt sind einige Hundert meist jüngere Männer – egal, welche Straftat sie begangen haben – über Monate und Jahre zusammen eingesperrt. Dort entsteht eine Subkultur. Eine Gegenkultur mit einer Oppositionshaltung zu Staat und Gesellschaft. Dort werden nicht die Normen und Werte übernommen, die wir eigentlich als Ziel haben. Oberflächlich betrachtet ist diese Gefängnisidee vielleicht eine ganz gute, aber wenn man das Ganze in Zusammenhängen denkt, ist das überhaupt keine gute Idee mehr, sondern letztlich eine sehr schädliche.
Ist eine Resozialisierung im Gefängnis in Ihren Augen denn überhaupt möglich?
Möglich ist sie schon. Man muss ja auch sagen, dass innerhalb von den Gefängnissen viel versucht wird und Angebote im Bereich Ausbildung, Weiterbildung oder auch Therapie gemacht werden. Das hängt von den einzelnen Persönlichkeiten der Inhaftierten ab. Da gibt es auch immer wieder welche, die diese Angebote dazu nutzen, auf einen besseren Weg zu kommen. Was aber den Großteil der Sträflinge angeht, so funktionieren diese Angebote eben nicht. Natürlich sind auch alternative Wege kein Patentrezept, aber sie könnten immerhin die Strukturen so verändern, dass die Chance, möglichst viele zu erreichen und mitzunehmen, steigt und man so tatsächlich zu einer Resozialisierung betragen kann.
Obwohl deutlich mehr Insassen die Anforderungen dafür erfüllen, sind gerade einmal etwa 17 Prozent der Strafgefangenen in Deutschland in einem offenen Vollzug. Warum wird dieses Mittel so selten genutzt?
Das ist letztlich ein gesamtgesellschaftliches Thema. Die Vollzugsanstalten selbst würden vielleicht gerne deutlich mehr lockern, aber wir kennen das alle: Wenn dann irgendwas passiert, wenn aus dem offenen Vollzug heraus weitere Straftaten begangen werden, wird es schnell medial und öffentlich infrage gestellt. Dann gerät dieses Sicherheitsversprechen des Staates – das ohnehin so gar nicht einzuhalten ist – ins Wanken. Das sorgt dafür, dass man dieses Risiko minimieren will. Aber ehrlicherweise: Was nach der Entlassung mit den Menschen passiert, ob sie dann noch einmal straffällig werden, das wird nicht auf die Justiz zurückgeführt. Dabei gibt es gerade zum Thema offener Vollzug eine relativ aktuelle Studie vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, die besagt, dass die Unterbringung im offenen Vollzug einen signifikant positiven Einfluss auf die künftige Legalbewährung hat, also dass es weitere Straffälligkeit vermeidet. Ziel sollte also ganz rational sein, viel mehr Inhaftierte im offenen Vollzug unterzubringen. Aber der Umgang mit Kriminalität ist noch zu wenig rational. Er ist geprägt von Emotionen, von Angst und Sorge, aber auch Wut. Deswegen wird letztlich irrational gehandelt.
Sehen Sie da Wege, wie man die Gesellschaft ein bisschen sensibilisieren könnte?
Ein Weg ist natürlich Aufklärung. Fakten vermitteln. Ich bekomme das bei Vorträgen und Diskussionen so mit, dass viele Menschen durchaus nachvollziehen können, warum wir nicht jeden Schwarzfahrer einsperren sollten. Nicht jeden, der – selbst wiederholt – für wenige Euro im Supermarkt geklaut hat. Nicht jeden Drogenkonsumenten. Die Mehrheit wäre durchaus bereit, andere Wege zu gehen. Aber das ist dennoch mit Überzeugungsarbeit verbunden – und die muss auch von politischer Seite aus kommen.
Ein Weg wäre beispielsweise auch die elektronische Aufsicht, also das Anbringen einer elektronischen Fußfessel. Schauen wir einmal über die Grenze nach Österreich: Dort wird diese elektronische Aufsicht deutlich häufiger angewandt als hier bei uns in Deutschland. Wie sehen Sie das?
Ich halte das für eine sinnvolle Alternative zur Unterbringung in Gefängnissen. Ich vertrete als Rechtsanwalt viele Inhaftierte, die absolut bereit dafür wären, eine Fußfessel zu tragen. So könnten sie wenigstens mit ihren Familien zusammenleben, sie könnten in geeigneten Fällen auch weiter zur Arbeit gehen. Es bringt aber auch nichts, den Leuten eine Fußfessel zu verordnen und sie dann sich selbst zu überlassen. Die Straffälligkeit passiert ja selten ohne Grund, sondern meistens, weil Menschen in verschiedenen Bereichen Probleme haben. Man muss also mit den Leuten arbeiten, dann aber in einem ambulanten Kontext. Hier könnten wir auch von den Ländern lernen, die schon Erfahrung haben. Das sind neben Österreich gerade auch viele skandinavische Länder. Dort sehen wir übrigens auch, dass diese elektronische Überwachung den Steuerzahler deutlich weniger belastet als die Unterbringung in der Haftanstalt. Aber auch hier müsste die Gesellschaft entsprechend aufgeklärt und sensibilisiert werden.
Dennoch wird das bestehende Strafsystem von vielen gerne als alternativlos dargestellt …
Man muss sich anschauen, wer das Strafsystem als alternativlos darstellt. Das sind in erster Linie Vertreter des Strafsystems oder der Justizpolitik, die in Regierungsverantwortung sind. Natürlich ist der Aufbau von Alternativen mit viel Arbeit verbunden, auch mit viel gedanklicher Arbeit. Es ist nicht einfach, neue Wege zu beschreiten, und da fällt es manchem leichter zu sagen: Wir lassen es so, wie es ist und behaupten, es gibt gar keine Alternativen. Aber natürlich gibt es die. Es gibt viele denkbare Alternativen. Die müsste man aber eben auch beschreiten. Vor allem halte ich es dabei für wichtig, dass wir alle unsere Strafimpulse reflektieren und uns fragen, inwieweit durch die Zufügung eines Übels tatsächlich etwas Sinnvolles erreicht werden kann. Die Energie, die das uralte Strafbedürfnis noch immer in uns auslöst, sollten wir zunehmend in konstruktivere Richtungen lenken.
Sie haben zu dem Thema bereits ein paar Bücher veröffentlicht, das neueste erschien Anfang des Monats. Wie sieht die Resonanz aus, die Sie hierzu bekommen?
Ausgesprochen positiv. Ganz selten bekomme ich mal Rückmeldungen von Menschen, die eigentlich nur irgendwo eine Überschrift gelesen haben. „Ehemaliger Gefängnisdirektor will Gefängnis abschaffen.“ Das hinterfragen die nicht weiter, haben das Buch auch nicht gelesen und dann sagen sie, das sei unverantwortlich und Unsinn. Aber von den Menschen, die sich wirklich näher damit befassen, bekomme ich wirklich fast ausschließlich positive Rückmeldung. Die sind nicht alle eins zu eins meiner Meinung, aber sie sind doch überzeugt, dass es so wie es jetzt ist, kein optimaler Zustand ist. Und das sind nicht nur Menschen, die ich im fachlichen Bereich kennengelernt habe, sondern auch Leute auf meinen Lesungen, die beruflich oftmals gar nichts mit dem Thema zu tun haben. Insofern bin ich auch optimistisch, dass sich etwas ändern wird. Aber das dauert eben seine Zeit.
Wie lang ist „seine Zeit“? Sprechen wir hier von fünf Jahren oder eher von 50?
Es ändert sich ja derzeit schon ein bisschen. Teilweise Dinge, bei denen wir vor zehn Jahren vielleicht auch nicht gedacht hätten, dass sie möglich sind. Beim Bundesjustizministerium gibt es derzeit Ideen dazu, verschiedene Delikte zu entkriminalisieren. Kleinere Dinge, wie auch beispielsweise Unfallflucht oder Beförderungserschleichung, also Schwarzfahren. Wir haben die teilweise Legalisierung von Cannabis. Die Ersatzfreiheitsstrafen sind quasi halbiert worden. Das alles geht ja genau in die Richtung, für die ich unter anderem eintrete. Es gab zunächst in Baden-Württemberg und in Sachsen einen Vollzug in freien Formen für jugendliche Straftäter. Diese wurden zu einer Strafhaft verurteilt, wurden aber dann in Wohngruppen untergebracht, die an eine Hausfamilie angebunden sind. Das gibt es nun seit ungefähr zwei Jahren in Sachsen auch für Erwachsene – und zwar für Männer und Frauen. Das sind allerdings nur sehr wenige Plätze, etwa vier bis sechs. Sie erhalten dort Betreuung durch Sozialarbeiter, die versuchen, ein Arbeitsverhältnis zu vermitteln und Ähnliches.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Bis diese Gefängnisse mit Mauern und Gittern endgültig verschwinden, da reden wir wahrscheinlich schon eher von 50 Jahren. Aber wenn die Entwicklungen, die wir zurzeit schon sehen, in den nächsten Jahren so weitergehen, dann wird sich zumindest signifikant etwas verändern.