Rund jeder Zehnte leidet unter einem Mangel an sexuellem Verlangen. Abhilfe gegen diese Störung könnte die Vergabe des Hormons Kisspeptin schaffen, das nicht nur als Tumor-Suppressor, sondern auch als Modulator des menschlichen Hormonhaushalts gilt.
Kisspeptin ist ein hauptsächlich im Hypothalamus produziertes Hormon und kommt vor allem in für Fortpflanzung und emotionales Verhalten zuständigen limbischen Hirnarealen vor. Gleichwohl wurde erst 2006 entdeckt, dass Kisspeptin über seine Funktion als Tumor-Suppressor hinaus auch mit der menschlichen Sexualität zu tun haben könnte. Man erkannte, dass Kisspeptin beim Startschuss der Pubertät mit der Ausschüttung des Hypothalamus-Hormons Gonadoliberin eine elementar wichtige Rolle spielt. 2018 konnten dann Forschende der Universität des Saarlandes gemeinsam mit belgischen Kollegen in Tierversuchen mit Mäusen nachweisen, dass Kisspeptin als Signalmolekül das menschliche Sexualverhalten, speziell die Appetenz, sprich das sexuelle Verlangen oder die Lust, ganz entscheidend steuern kann. „Bis jetzt war wenig darüber bekannt, wie das Gehirn Eisprung, Anziehung und Sex miteinander verbindet“, so seinerzeit Ulrich Böhm, Professor für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie an der Universität des Saarlandes. „Jetzt wissen wir, dass ein einzelnes Molekül – Kisspeptin – all diese Aspekte durch verschiedene, parallel zueinander laufende Gehirn-Schaltkreise steuert.“ Diese Erkenntnis ermöglicht neue Ansätze zur Therapie von verschiedenen psychosexuellen Störungen, beispielsweise beim Vorliegen einer verminderten sexuellen Appetenz. „Es gibt derzeit keine guten Behandlungen für Frauen mit geringem sexuellem Verlangen“, so Prof. Julie Bakker von der Universität Lüttich, Mitautorin der im Januar 2018 im Fachmagazin „Nature Communications“ veröffentlichten Studie. „Die Entdeckung, dass Kisspeptin sowohl die Anziehung als auch das sexuelle Verlangen kontrolliert, hilft uns dabei, neue Therapien für solche Störungen zu entwickeln.“
Psychosexuelle Störungen
Etwa zeitgleich mit der saarländisch-belgischen Studie hatten Forschende des britischen Imperial College London unter Federführung von Prof. Waljit Dhillo die Wirkung von Kisspeptin an 29 männlichen Probanden mit intaktem sexuellem Verlangen untersucht. Wobei insbesondere herausgefunden werden sollte, ob das Hormon emotionales Verhalten als Reaktion auf sexuelle Reize beeinflussen kann. Dazu erhielt eine Gruppe der Männer in zwei Durchläufen Kisspeptin injiziert, die Vergleichsgruppe bekam Placebos verabreicht. Anschließend wurden den Probanden Bilder von Paaren mit oder ohne sexuelle Inhalte gezeigt, wobei jeweils die Hirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) gemessen wurde. Dabei konnte bei den Probanden der Kisspeptin-Gruppe eine deutliche Zunahme der Hirnaktivitäten im limbischen System registriert werden – in dem Bereich also, dem Gefühle, Sexualität und Liebe zugeordnet werden. Bei der Placebo-Kontrollgruppe gab es hingegen keine neurologischen Veränderungen. Daraus zog das Forscherteam den Schluss, dass Kisspeptin zur Behandlung von sexuellen Dysfunktionen oder Störungen des Lustempfindens eingesetzt werden könnte. Der Stoff sollte aber zuvor in weiteren klinischen Studien getestet werden. Vor allem auch sexuelle Funktionsstörungen, die physische oder psychische Ursachen haben können, könnten mit Kisspeptin womöglich erfolgreich therapiert werden. Das Gehirn spiele eine zentrale Rolle bei der Fortpflanzung, sei aber dahingehend bislang noch nicht ausreichend erforscht. Prof. Dhillo bezeichnete Kisspeptin als „mentales Viagra“, weil das Hormon Lustsignale im Gehirn aktivieren könne. Der Botenstoff führe zwar „nicht notwendigerweise dazu, dass Menschen mehr Sex haben, aber sie haben auf jeden Fall mehr Spaß dabei.“
Das Imperial College London war unter Federführung von Prof. Waljit Dhillo und seines Kollegen Dr. Alexander Comninos dann auch gemeinsam mit dem Imperial College Healthcare NHS Trust an zwei neuen Studien bezüglich Kisspeptin beteiligt. Wobei diesmal in zwei getrennten Untersuchungen die Auswirkung der Verabreichung des Hormons auf Männer und Frauen mit geringem sexuellen Verlangen – genauer gesagt: mit sogenannter Hypoaktiver Störung des sexuellen Verlangens (HSDD, Hypoactive Sexual Desire Disorder) – überprüft wurde. Den Wissenschaftlern zufolge leiden unter dieser Störung weltweit rund zehn Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer. Diese sexuelle Dysfunktion wird als anhaltender Mangel oder als komplettes Fehlen von Interesse an sexuellen Aktivitäten, Gedanken oder Fantasien definiert. HSDD wird allerdings erst dann als gesundheitliche Störung angesehen, wenn die Betroffenen sie als ausgeprägte Belastung und Beeinträchtigung ihrer zwischenmenschlichen Kontakte empfinden. Eine Person mit HSDD reagiert normalerweise nicht auf sexuelle Stimulationen und erlebt meist nur eine geringe Libido. Um eine HSDD, die plötzlich auftreten oder auch lebenslang anhalten kann, diagnostizieren zu können, müssen alle anderen möglichen Ursachen der Störung des sexuellen Verlangens vorab ausgeschlossen werden, beispielsweise psychische Ursachen wie Stress, körperliche wie andere Erkrankungen oder auch die Einnahme bestimmter Medikamente. Bislang ist in der Forschung noch kaum bekannt, was für HSDD wirklich ursächlich ist.
Ursache für HSDD noch unklar
Eine erfolgreiche Behandlung ist, den beiden aktuellen Studien zufolge, die im Oktober 2022 und im Februar 2023 im Fachmagazin „JAMA Network Open“ veröffentlicht wurden, derzeit noch kaum möglich. „Geringes sexuelles Verlangen kann belastend sein und so zu HSDD führen“, so Dr. Alexander Comninos. „Dies kann erhebliche nachteilige Auswirkungen auf Beziehungen, psychische Gesundheit und Fruchtbarkeit haben. Obwohl HSDD relativ häufig auftritt, sind die Behandlungsmöglichkeiten bei Frauen begrenzt, haben erhebliche Nebenwirkungen und können in einigen Fällen schon beim Versuch gesundheitsschädlich sein. Und leider haben diese Behandlungen eine begrenzte Wirksamkeit. Für Männer gibt es derzeit keine zugelassenen Behandlungen, und es sind auch keine am Horizont zu erwarten. Daher besteht ein echter ungedeckter Bedarf, neue, sichere und wirksamere Therapien für diese belastende Erkrankung für Frauen und Männer zu finden, die eine Behandlung suchen.“
Die Vergabe von Kisspeptin, das die Freisetzung anderer Fortpflanzungshormone im Körper stimuliert und zur Regulierung des Pubertätsprozesses und des weiblichen Menstruationszyklus beiträgt, könnte die erste wirksame Therapieform gegen HSDD sein. Zu diesem Schluss kommen die Forschenden nach Auswertung der Ergebnisse der beiden Studien, die separat für Männer und Frauen mit nahezu deckungsgleichen Untersuchungsanordnungen durchgeführt wurden. Jeweils 32 Frauen (prämenopausal mit einem Durchschnittsalter von 29,2 Jahren) und Männer (Durchschnittsalter 37,9 Jahre) mit HSDD waren bis zum Ende der beiden Studien dabei geblieben. Bei ihnen wurden die Auswirkungen der Verabreichung von Kisspeptin auf Gehirnaktivitäten mittels fMRT und zusätzlicher Blut- und Verhaltenstests gemessen. Dabei wurden die Reaktionen beim Betrachten von neutralen beziehungsweise erotischen Videos sowie bei den weiblichen Probandinnen zusätzlich beim Blick auf mehr oder weniger attraktive Gesichter des anderen Geschlechts beobachtet. Beim Studienstart wurde zunächst die neurologische, physiologische und hormonelle Reaktion aller Probanden auf diese visuellen Hilfsmittel vor der Kisspeptin-Vergabe registriert. Den Männern wurden sodann bei zwei Studienaufenthalten im Abstand von mindestens sieben Tagen zunächst in zufälliger Reihenfolge einmal eine Injektion mit Kisspeptin und eine Placebo-Injektion verabreicht. Weder die Forschenden noch die Probanden wussten dabei, wann sie welchen Inhaltsstoff erhalten hatten. Vor dem zweiten Termin wurde den Probanden dann jeweils das andere Präparat verabreicht. Bei den weiblichen Versuchsteilnehmerinnen erfolgten die zweimaligen Untersuchungen in einem Abstand von mindestens einem Monat.
Auswirkungen auf Gehirnaktivität
Beide Untersuchungen lieferten eindeutige Belege dafür, dass Kisspeptin die Hirnaktivität beeinflussen konnte. Bei den Frauen konnten die Forschenden feststellen, dass unter Kisspeptin-Einfluss die Aktivität des Hippocampus, eines für das Gefühl der sexuellen Anziehung wichtigen Zentrums, beim Betrachten erotischer Videos stark zugenommen hatte, während andere Hirnregionen wie der hintere cinguläre Cortex deutlich mehr beim Blick auf attraktive männliche Gesichter angesprungen war. Gleichzeitig hemmte das Kisspeptin den linken frontalen und mittleren Gyrus, ein Hirnareal, das die Lust herunterfahren kann und bei Frauen mit einer sexuellen Erregungsstörung oft hyperaktiv ist. „Die Deaktivierung dieses Hirnzentrums durch das Kisspeptin kann ablenkende, negative innere Monologe und Schuldgefühle dämpfen“, so Prof. Dhillo. Zudem könne dadurch eine zu starke Unterdrückung sexueller Impulse aufgehoben werden. In Fragebögen hatten die Probandinnen zudem zu Papier gegeben, dass sie sich unter Kisspeptin-Einfluss „sexy“ gefühlt hatten.
Weitere Forschungen
Bei den Männern nahm die Hirnaktivität vor allem beim Anschauen von Erotikvideos stark zu. Zudem konnte in einer Sekundäranalyse infolge der Kisspeptin-Injektion eine „signifikante Zunahme der Penisschwellung“ festgestellt werden, die bis zu 56 Prozent über dem Wert bei der Placebo-Vergabe gelegen hatte. „Auch wenn HSDD auf eine Vielzahl von Auslösefaktoren zurückgehen kann“, so Prof. Dhillo, „sind die neurophysiologischen Ursachen doch ähnlich: eine Überaktivität in selbstüberwachenden Hirnschaltkreisen und eine Unteraktivität in Schaltkreisen der sexuellen Reaktion.“ Laut den britischen Wissenschaftlern könnte Kisspeptin eine erfolgversprechende Behandlungstherapie bei HSDD sein: „Unsere beiden Studien liefern“, so die Forschenden, „ein Proof-of-Concept für die Entwicklung von Kisspeptin-Behandlungen, da wir den ersten Nachweis dafür liefern konnten, dass Kisspeptin eine potenziell sichere und wirksame Therapie für Frauen und Männer mit belastend niedrigem sexuellem Verlagen sein kann. Bei Männern konnten wir außerdem nachweisen, dass Kisspeptin nicht nur im Gehirn, sondern auch im Penis positive Effekte haben kann. Darüber hinaus wurde Kisspeptin sowohl von Frauen als auch Männern gut vertragen, ohne dass über Nebenwirkungen berichtet wurde – was aus Sicht der Arzneimittelentwicklung von entscheidender Bedeutung ist. Wir planen nun, die Forschung weiter voranzutreiben, um hoffentlich das Potenzial von Kisspeptin-Therapeutika bei psychosexuellen Störungen ausschöpfen zu können.“