Nach dem Tod des Hamas-Chefs hätte Israels Premier die Chance zum großen Wurf
Es ist ein Fenster der Gelegenheit, wenn auch nur für kurze Zeit. Die Tötung von Hamas-Chef Jihia Sinwar durch israelische Soldaten liefert Premierminister Benjamin Netanjahu das langersehnte Siegesbild. Der Drahtzieher des grausamen Massakers vom 7. Oktober 2023 ist ebenso ausgeschaltet wie seine engsten Vertrauten. Die Terrormiliz ist empfindlich geschwächt. Zusätzlicher Triumph: Die Leitung der Hisbollah-Miliz im Libanon rund um Scheich Hassan Nasrallah wurde eliminiert.
All dies zusammengenommen böte nun die Chance für eine Entschärfung des Krisenbogens Nahost. Netanjahu könnte mit einem strategischen Wurf einen Neustart für Israel und seine Nachbarn wagen, der die Gefahren für sein Land vermindert. Was er dafür bräuchte, wäre ein politisches Konzept und den Willen zu einer diplomatischen Offensive.
Ein Weg zur politischen Befriedung bestünde darin, einer reformierten Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland mehr Gestaltungsspielraum zu geben. Netanjahu müsste auf den PA-Langzeitpräsidenten Mahmud Abbas einwirken, einen Regierungschef zu ernennen, der für frischen Wind sorgt. Dieser könnte ein Technikratenkabinett aus unabhängigen Experten leiten. Ein Kandidat, der der Korruption unverdächtig ist und auch in Israel Vertrauen genießt, wäre zum Beispiel der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Ministerpräsident Salam Fayyad.
Eine runderneuerte Palästinensische Autonomiebehörde könnte eine internationale Friedenstruppe für den Gazastreifen anfordern, die aus arabischen und möglicherweise auch EU-Ländern besteht. Sie würden israelische Verbände ersetzen, die sich Zug um Zug aus dem Gazastreifen zurückziehen.
Die Autonomiebehörde würde den Wiederaufbau der stark zerstörten Küstenenklave koordinieren. Gelder für den Fonds kämen vor allem aus den reichen arabischen Golfstaaten, aber vermutlich auch aus der EU und den USA. Das würde der internationalen Initiative Legitimation in der palästinensischen Bevölkerung verschaffen. Die Reste der Hamas würden an den Rand gedrängt.
Der Schlüssel für eine derartige Vision ist jedoch: Die Palästinenser müssten die Aussicht auf einen unabhängigen Staat erhalten, wie dies von der überwältigenden Mehrheit der UN-Mitglieder gefordert wird. Israel könnte Sicherheitsgarantien wie etwa eine Demilitarisierung des neuen Staates für eine lange Zeit verlangen. Aber die Perspektive für eine Zwei-Staaten-Lösung ist unerlässlich.
Wenn sich Netanjahu auf eine solche Vision einlassen würde, könnte er einen Durchbruch in der Krisenregion Nahost erreichen: Es bestünden gute Chancen, dass die Ölgroßmacht Saudi-Arabien Israel endlich anerkennt. Ein Ziel, das Netanjahu seit Langem anstrebt – auch, um die feindliche Regionalmacht Iran zu isolieren.
Kurz vor dem 7. Oktober wäre den Vereinigten Staaten der historische Ausgleich zwischen Israel und Saudi-Arabien fast gelungen. Die Saudis waren bereit, Beziehungen zu Israel aufzunehmen – im Gegenzug gegen amerikanische Waffen und US-Unterstützung beim Aufbau eines zivilen Nuklearprogramms. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman wäre noch immer bereit, diesen Deal zu machen. Aber im Gegensatz zur Zeit vor dem 7. Oktober 2023 pocht er heute darauf, dass Israel die Weichen für einen unabhängigen Palästinenserstaat stellt.
Netanjahu sendet jedoch kein Signal aus, dass er darauf eingehen würde. „Israel ist entschlossen, alle seine Kriegsziele zu erreichen und die Sicherheitslage in unserer Region für die kommenden Generationen zu verändern“, lautet sein Credo. Netanjahu will die Hamas im Gazastreifen ebenso auslöschen wie die Hisbollah im Libanon. Deshalb bombardieren seine Streitkräfte mit brachialer Härte und nehmen hohe Zahlen ziviler Opfer in Kauf. Darüber hinaus sieht er den Sturz des iranischen Mullah-Regimes als seine historische Mission.
Diese Fundamental-Forderungen seiner rechtsextremen Koalitionspartner hat Netanjahu verinnerlicht. Ein Bruch dieses Bündnisses ginge für ihn mit enorm hohen innenpolitischen Risiken einher, weil ihm bei Amtsverlust Gerichtsverfahren wegen Korruption und Bestechlichkeit drohen. Doch mit rein militärischer Logik verharrt Israel in der Endlosschleife des Krieges. Der einzige Weg aus dem Teufelskreis führt über die Perspektive für einen Palästinenserstaat.