Gewalt und verbotene Parolen bei Demonstrationen in Zusammenhang mit dem Krieg in Nahost: Die Berliner Polizei hat in den vergangenen Monaten rund 6.000 Strafverfahren eingeleitet.
Zu sagen, dass der Nahostkonflikt auf Berlins Straßen ausgetragen wird, wäre eine Verharmlosung dessen, was in Israel, im Gazastreifen und im Libanon gerade vor sich geht. Aber seitdem die Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres Israel überfallen, mehr als 1.000 Menschen getötet, vergewaltigt und verschleppt hat, ist die Berliner Polizei Teil des Konflikts. Seitdem gibt es in der Stadt nämlich fast täglich Demonstrationen – solche, bei denen Menschen ihre Solidarität mit Israel bekunden, und solche, bei denen Menschen gegen die heftige militärische israelische Reaktion auf den Angriff protestieren und ein „freies Palästina“ fordern. Während die Pro-Israel-Versammlungen weitestgehend friedlich verlaufen, werde die sogenannte propalästinensische Szene zunehmend aggressiver, heißt es in den Polizeiberichten der Hauptstadt.
Propalästinensische Szene aggressiver
Die Wut der Demonstrierenden treffe dabei vor allem die Berliner Polizei selbst. Sie leitete in den vergangenen zwölf Monaten 5.991 Strafverfahren ein. 4.405 wurden an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, um damit vor Gericht zu gehen. Die Polizei nahm in der Zeit 240 Personen fest und erteilte knapp 80 Platzverweise. Diese Zahlen nannte Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik vor einigen Tagen im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. Es geht dabei nicht nur um Gewalt gegen Beamte, sondern auch um das „Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen“. Die Hamas ist eine solche Organisation. Sie wird von der europäischen Union als Terrororganisation eingestuft. Infolge des Angriffs auf Israel am 7. Oktober vergangenen Jahres hat das Bundesinnenministerium die Hamas in Deutschland und als deren Kennzeichen auch die Parole „From the River to the Sea“ verboten. Die Forderung nach einem palästinensischen Staat „vom Fluss bis zum Meer“ – also vom Jordan bis zum Mittelmehr – würde die Zerstörung des Staates Israel bedeuten.
Ob diese Parole nach deutschem Recht strafbar ist, bewerten die Bundesländer unterschiedlich. Die Staatsanwaltschaft Berlin stuft die Parole – wie auch die Staatsanwaltschaften in Bayern, dem Saarland, Sachsen und Thüringen – als strafbar ein. Entsprechend muss die Polizei reagieren, wenn sie auf Versammlungen gerufen oder auf Transparenten gezeigt wird. Die Polizei versuche allerdings zunächst, auf die Problematik hinzuweisen. So heißt es in einem Polizeibericht von Anfang des Monats, dass während der Kundgebung mit dem Motto „Stoppt den Krieg“ „wiederholt israelfeindliche beziehungsweise Israel diffamierende Ausrufe“ zu hören waren. Man habe „zunächst die Versammlungsleitung aufgefordert, auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mäßigend einzuwirken“.
Bei dieser Kundgebung hat die Polizei auch „festgestellt, dass Redebeiträge gezielt von minderjährigen Kindern gehalten wurden“. „Dies wurde den Erkenntnissen zufolge gezielt von der Versammlungsleitung ermöglicht“, heißt es in einer Mitteilung der Polizei. Die Beamten haben daraufhin „die Identitäten einer Mutter und ihres elfjährigen Kindes festgestellt und leiteten dazu ein Strafermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht gegen die 40-Jährige ein“, heißt es in dem Bericht. In den Mitteilungen der Polizei ist aber auch von „Ausrufen, die den Holocaust leugneten“, „tätlichen Angriffen, Vermummungen und versuchter Gefangenenbefreiung“, die Rede.
Zu einer kritischen Situation kam es auch, als Mitte September der Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt Joe Chialo (CDU) angegriffen wurde. Chialo, der immer wieder seine Solidarität mit Israel bekundet und sich gegen Antisemitismus in der Kulturszene starkmacht, wurde bei der Eröffnung des „Zentrums für Kultur und Urbanistik“ bedrängt. „Mit Redebeginn sammelten sich unmittelbar vor dem Rednerpult ungefähr 40 Personen, die größtenteils sogenannte Palästinensertücher trugen. Die Personen skandierten verbotene gegen den Senator gerichtete Parolen und beleidigten diesen zudem“, heißt es im Polizeibericht. Die Gruppe drängte die Treppe zum Rednerpult hinauf und umringte den Senator. „Aus der Menge heraus wurde Pyrotechnik gezündet sowie ein vorher von der Treppe gezogener Mikrofonständer in Richtung des Senators geworfen, der eine direkt vor dem Senator stehende Frau traf“, teilt die Polizei mit. Weil der Senator bis dahin nicht unter Polizeischutz stand, dauerte es eine Weile, bis genügend Beamte vor Ort waren, um „die Gruppe zurückzudrängen und Chialo „unter Polizeischutz ein ungefährdetes Verlassen des Geländes“ zu ermöglichen. Der Senator blieb unverletzt.
Gebrauch von Vorab-Gewahrsam machen
Kurz darauf wurde die Fassade des Hauses in Pankow von Joe Chialo mit roter Farbe beschmiert. Er sei „als Senator gewohnt, auch in robuste Auseinandersetzungen zu gehen“, sagte Chialo danach. „Aber dass man mich in meinem privaten Umfeld aufsucht und auch meine Familie miteinbezieht, das ist eine Grenzüberschreitung, die mich schockiert hat.“ Chialo steht inzwischen unter Polizeischutz – was in Berlin für einen Kultursenator ungewöhnlich ist.
Die Aktionen gegen den Senator waren auch ein Grund für Hausdurchsuchungen Ende September. Am frühen Morgen hatte die Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft in Friedrichshain, Britz, Gropiusstadt, Tegel und Schöneberg fünf Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt. Dabei durchsuchten Ermittlerinnen und Ermittler des Polizeilichen Staatsschutzes des Landeskriminalamts mit Unterstützung von 125 Polizisten „die jeweiligen Wohnanschriften von fünf Beschuldigten, die im Verdacht stehen, sich durch mutmaßlich propalästinensisch motivierte Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt strafbar gemacht zu haben“, wie es im Polizeibericht heißt. Die Polizei glaubt, den Mann ausfindig gemacht zu haben, der den Mikrofonständer in Richtung des Senators geworfen und dabei eine Frau getroffen haben soll. Es handele sich um einen 18-Jährigen, der nun des Landfriedensbruchs in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung verdächtigt wird. Die Durchsuchungen sollen aber auch bei der Aufklärung anderer Vorgänge helfen. Ein 20-Jähriger ist des Landfriedensbruchs verdächtig. Er soll Teil einer Gruppe von etwa 150 Personen gewesen sein, die am Abend des 11. Juli durch die Sonnenallee in Neukölln zog und dabei verschiedene Gegenstände in Brand gesetzt haben soll. Gegen einen 31-Jährigen wird in zwei Fällen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt: Er soll am 12. Dezember auf Instagram einen Post der ARD-„Tagesschau“ mit dem „Wunsch nach einer Rückkehr Adolf Hitlers“ und einen anderen Post mit dem „Wunsch eines erneuten Holocaust kommentiert haben“. Gegen einen 40 Jahre alten Mann besteht ebenfalls der Verdacht der Volksverhetzung: Er soll am 9. Oktober auf Tiktok den Angriff der Hamas „mit Forderungen nach der Beseitigung des Staates Israel kommentiert, die beteiligten Attentäter und Terroristen der Hamas glorifiziert und deren Vorgehen als Sieg auf dem Weg hin zu einer islamischen Welt eingeordnet haben“.
Aus Sicht von Polizeipräsidentin Barbara Slowik machen es die Gerichte der Polizei unnötig schwer. „Wir würden uns wünschen, dass das, was wir Richtern vortragen, zur Begründung von Haftbefehlen und Anschlussgewahrsam genutzt wird. Das würde uns helfen, den einen oder anderen derer, die besonders zündeln, ab und an von Versammlungen fernzuhalten“, sagte sie im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. Es sei bisher nur einmal gelungen, einen Gewahrsam zu erwirken – und zwar im Zusammenhang mit einer gewalttätigen Versammlung am Vorabend des 7. Oktober. Dabei sehe das novellierte Polizeigesetz von Berlin die Möglichkeit vor, „Personen, von denen Straftaten zu erwarten sind, bis zu fünf Tage in Gewahrsam zu nehmen“.
Der Berliner Innenstaatssekretär Christian Hochgrebe (SPD) unterstützt die Polizeipräsidentin: „Wir wünschen uns, dass die Justiz intensiver von den Möglichkeiten Gebrauch macht, die der Gesetzgeber ihr an die Hand gegeben hat“, sagte er im Ausschuss. Und die Gewerkschaft der Polizei legte in einer Pressemitteilung nach: „Wir reden über ein paar Dutzend Extremisten, die die Lücken des Versammlungsfreiheitsgesetzes schamlos ausnutzen. Berlin braucht eine Novellierung dieses Gesetzes und endlich Urteile, um jene in die Schranken zu weisen, die unsere Grundrechte für Menschenfeindlichkeit und Hass missbrauchen.“