In Brüssel startet Ursula von der Leyen in ihre zweite Amtszeit. Im saarländischen Otzenhausen feiert die Europäische Akademie 70 Jahre Basisarbeit für die europäische Idee. Die sei notwendiger denn je, sagen Stéphanie Bruel und Marco Wölflinger von der Akademie.
Frau Bruel, Herr Wölflinger, die Europäische Akademie ist gegründet worden in einer europäischen Aufbruchphase. Das Jubiläumsjahr findet in einem ganz anderen Umfeld statt. Vor welchen Herausforderungen stehen Sie heute?
Bruel: Es gibt einen enormen Zuwachs der Stimmen für rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien, in Frankreich, in Italien, in den Niederlanden, in Deutschland, egal wohin man schaut. Das europäische Projekt, wie es einmal gedacht und wie es bis vor vielleicht zehn Jahren noch war, steht schon auf der Kippe. Ich würde sehr gerne eine optimistische Perspektive abgeben, aber ich sehe durchaus Gefahren durch wachsende autoritative Systeme und Entwicklungen.
Wölflinger: Es geht meist nicht mehr darum, alles in der EU aufzulösen oder auszutreten. In Großbritannien sieht man: Der Brexit war ein Eigentor. Viele Parteien, die mit der europäischen Idee nicht im Einklang sind, haben verstanden, dass ein Exit keine Lösung ist. Also ist momentan das Bestreben, das Projekt Europa von innen zu ändern, hin zu mehr nationaler Souveränität. Die Überschrift heißt: Re-Nationalisierung. Das ist der politische Mainstream, wie er sich im Moment abzeichnet.
Bruel: Man sieht auch eine zunehmende Ablehnung von Migration und eine Zunahme von antisemitischen Akten, die einhergehen mit nationalistischen Tendenzen. Eine große Gefahr für die soziale Kohäsion, den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und das bekräftigt uns in unserem Ansatz: Wir machen politische Bildung nach unserem Motto: „Europa entsteht durch Begegnung“. Wir bringen Menschen aus unterschiedlichen Milieus und mit unterschiedlichen Nationalitäten an diesem schönen Ort zusammen, um Perspektiven auf das Leben und wichtige gesellschaftliche Themen auszutauschen. Eine essentielle Arbeit, aber die Rahmenbedingungen werden nicht einfacher.
Wölflinger: Die Existenzberechtigung politischer Bildung ist noch nie so evident gewesen wie jetzt. Deshalb muss sich Politik entscheiden, was ihr Demokratie wert ist. Wir erleben jetzt in einigen Ländern den Umbau der Medienlandschaft und das ergänzt mit einem Umbau des Rechtssystems und der Gerichtsbarkeit. Da müssen wir sehr aufpassen, ich glaube, wir sind vor einem Kipppunkt.
Was bedeutet diese Analyse für die Arbeit der EAO, was verändert sich?
Bruel: Diese Fragen und Themen spiegeln sich in unseren Seminaren: Was heißt Demokratie? Wie viel ist sie uns wert? Dabei meinen wir Demokratie nicht nur als Herrschaftsform, sondern als Gesellschaftsform. Welche Werte sind uns wichtig? Das sind Themen, die auch sehr stark nachgefragt werden von unserer Zielgruppe (zwischen 16 und 30 Jahren): Menschenrechte, Demokratie als Gesellschafts- und Lebensform, soziale Gerechtigkeit. Und es geht um die Frage: Wie bilde ich mir eine eigene Meinung? Wobei wir keine klassische Medienbildung machen, das macht etwa die LMS (Anm.: Landesmedienanstalt Saarland) sehr viel besser, aber: Politische Bildung heißt, sich eine Meinung bilden zu können, sie äußern zu können, damit aktiv Bürgerin, Bürger zu sein. Natürlich bieten wir weiter Themen wie die Rolle der EU in der Welt an, wobei da auch die Migrationsproblematik reinkommt und die Frage: Ist Frieden noch ein Wert für das europäische Projekt? Es geht aber zunehmend auch um Basics, etwas überspitzt: Demokratie – ja oder nein? Das ist eine Erweiterung unserer Bildungsarbeit, von der ich nicht glaube, dass sich das morgen wieder ändern wird.
Was kann politische Bildungsarbeit, was kann die Europäische Akademie Otzenhausen bewirken?
Bruel: Bei politischer Bildung geht es nicht nur um die Vermittlung von Wissen und darum, seine Meinungen auszutauschen, sondern auch darum, in Handlung und Gestaltung zu kommen, also die Frage: Was heißt das für mich und was kann ich tun? Viele der großen Themen wirken ja ziemlich erschlagend. Das muss man erst einmal herausfinden: Welche Möglichkeiten gibt es denn, und welche passt zu dir oder zu mir? Es geht um Handlung, raus aus dem Ohnmachtsgefühl! Wie viele Leute gehen nicht wählen? Und warum? Da spielt dieses Ohnmachtsgefühl eine große Rolle. Unsere Aufgabe als politische Bildner ist, dagegen zu „kämpfen“. Für uns ist wichtig, dass die Menschen, die Seminare besuchen, eine Form der Selbstwirksamkeit erleben. Wenn ich mich selbstwirksam erlebe, komme ich ins Handeln, ins Tun. Deshalb müssen wir sehr handlungs- und gestaltungsorientiert arbeiten.
Wölflinger: Es geht darum, Artikulationsfähigkeit zu fördern und damit auch Teilhabe am demokratischen Prozess, aktive Teilhabe am Entwicklungsprozess einer Gesellschaft.
Haben Sie Rückmeldungen, ob das funktioniert?
Bruel: Wir kriegen regelmäßig Rückmeldungen von unseren Kooperationspartnern, die ihre Gruppen länger begleiten. Ein langjähriger Kooperationspartner, der jedes Jahr eine Gruppe (meist 19-Jährige) schickt, sagt uns: „Es gibt ein vor Otzenhausen und ein nach Otzenhausen“, wenn die zurückkommen, sind das andere Menschen. Die haben in der knappen Zeit Selbstwertgefühl gewonnen, auch ein Stück Selbstsicherheit“ – nach einer Woche Europaseminar! Unser Ziel ist nicht, dass alle Europabegeisterte werden. Natürlich stehen wir für eine bestimmte Entwicklung der europäischen Integration, haben da eine klare Position und sind gerne bereit, die mit allen kritisch-konstruktiv zu diskutieren. Wir wollen Persönlichkeit entwickeln durch Begegnung von Jugendlichen mit Menschen aus anderen Ländern, anderen Ecken der Welt, die sonst so nie gehabt hätten. Dabei geht es um Achtsamkeit und Selbstsicherheit.
Wir sehen – neben den Themen – auch eine Veränderung im gesellschaftlichen Umgang. Spüren Sie das auch bei den jungen Menschen, die hierher kommen?
Bruel: Die Corona-Jahre sind an unserer Kernzielgruppe der 16- bis 20-Jährigen nicht spurlos vorübergegangen. Wir sehen veränderte Verhaltensmuster bis hin zu leichten psychischen Störungen, mit leichten Autismen, und das quer durch die Bank. Das ist manchmal schwer zu managen. Die Jugendarbeit hat sich schon sehr verändert.
Es gibt einerseits die Suche nach Orientierung, andererseits auch bei jungen Menschen eine Anfälligkeit für einfache Parolen. Wie gehen Sie damit um?
Bruel: Es ist eigentlich ein Miteinander: In unsicheren Zeiten ist es ein Stück normal, dass man sich zurückzieht auf Identitätsfragen: Wer bin ich, wer sind wir, wer gehört zu wem? Das ist eine normale Gegenreaktion bei großen Unsicherheiten. Was heute anders ist, ist, dass man gerade in der jüngeren Generation in kleine identitäre Schubladen fällt. Das ist ein Thema, das uns in den nächsten Jahren noch stärker betreffen wird. Wir versuchen, das rauszubekommen, also raus aus der Schwarz-Weiß-Schublade, in der viele stecken, um sich schnell zu einer Identitätsgemeinschaft aus Gleichgesinnten zusammenzufinden. Das aber verschärft die Gefahr einer sozialen Implosion. Wir arbeiten auch deshalb viel zu Fragen wie soziale Gerechtigkeit und Werteorientierungen, weil bei jungen Menschen Gerechtigkeitsfragen ohnehin besonders wichtig sind. Meine Prognose: Wenn wir diese Themen heute in zehn Prozent unserer Seminare machen, wird es in ein paar Jahren mehr als die Hälfte ausmachen. Je größer die Unsicherheit, umso schneller der Reflex: Was ist meine Insel? Es sind natürliche Prozesse, die Frage ist, die in richtige Bahnen und einen richtigen Kontext zu bringen.
Eine spannende Herausforderung …
Bruel: Finden wir auch. Aber wenn wir das Menschen ermöglichen wollen, ohne Hürden, soziale oder finanzielle, dann muss man an alle Türen klopfen, um die Finanzierung zu finden. Im Rahmen des allgemeinen Sparkurses wird schon mal gerne in solchen „Nischen“, wie der nonformalen Bildung gespart. Auf der einen Seite gibt es die schönen Reden, dass politische Bildung ganz wichtig ist, in Schulen und in der nonformalen Bildung. Aber wir müssen dann auf der anderen Seite ganz hart – und viel härter als vor Corona – um die Zuschüsse kämpfen, die wir brauchen.
Wölflinger: Uns geht es darum, Leuchtfeuer zu setzen und darauf zu setzen, dass es Multiplikatoreneffekte gibt. Gerade wenn es darum geht, Akzente gegen Alltagsrassismen zu setzen. Wir erleben, wie Alltagsrassismen langsam in die Gesellschaft einsickern und dann Damm für Damm so langsam erodiert. Die große Gefahr ist, dass es dann in der Gesellschaft legitim wird. Deshalb ist werteorientiert zu arbeiten eine ganz wichtige Aufgabe.
Bruel: Und wenn man dann so ein Seminar erlebt, weiß man, wofür man das tut.