Eingebettet zwischen weiten Salzfeldern, traumhaften Stränden und idyllischen Naturparks liegt Cervia in der Emilia Romagna. Ein Geheimtipp ist die Meereshochzeit, die auf eine alte Legende zurückgeht.
Der Tag in Cervia beginnt laut und süß. In den Cafés wirbeln die Kellner hinter dem Tresen und um die Tische. In der Glasvitrine liegen Croissants, mit einer dicken Schokoladenschicht überzogen und mit Salz bestreut, das besonders mild schmeckt. Es gibt kleine Brötchen mit Schinken und Käse und dazu Espresso. An den Tischen wird heftig über Politik und Sport diskutiert. Paare stehen auf dem Marktplatz, schießen Selfies und essen zwischendurch Piadina, ein Fladenbrot gefüllt mit geschmolzenem Mozzarella, Schinken und Tomate, die es in der Piadineria, den rot weiß gestreiften Hütten, zum Mitnehmen gibt.
Besonders dann, wenn es etwas zu feiern gibt, ist der Plaza de Pisacane ein beliebter Treffpunkt. Es ist mitten in der Stadt, und die Besucher können das alte Cervia erleben. Immer noch gibt es Geschäfte, die andernorts vermutlich längst verschwunden wären. Wie der alte Wollladen, in dem es seit Jahrzehnten nichts anderes zu kaufen gibt als Wolle. Oder der Inhaber des Feinkostladens in der Via XX Settembre hat Ciambelloni, ein typisch italienisches Dessert, mit Schokolade, Marmelade oder Rum gefüllt.
Bischofsring rettete Seeleute
Im Handwerksladen, in dem seit dem 17. Jahrhundert mit Naturfarben Leinen- oder Baumwolltücher bedruckt werden, zeigt und erklärt Mauricio Barbi seine Arbeit. In 20 Minuten hat Mauricio eine Tischdecke verziert. Dazu benutzt der 50-Jährige Stempel, in die er Blüten, Tiergesichter oder das Wappen von Cervia eingeritzt hat. Nach dem Drucken wird der Stoff mit einer Flüssigkeit aus Pflanzenextrakten, Rost, Mehl und Essig behandelt und getrocknet. In den kleinen bedruckten Baumwollsäckchen, die sich an der Ladentheke reihen, ist das berühmte süße Salz von Cervia. Die Kirchenglocke läutet zum Gebet. Der Bischof Lorenzo Ghizzoni aus Ravenna wird erwartet. Er wird die religiöse Zeremonie, die Meereshochzeit, mit einer Messe in der Kathedrale eröffnen. „Sposalizio del Mare“, geht auf das Jahr 1445 zurück. Der Legende nach ist der Bischof Pietro Barbo im Jahr 1445 auf dem Seeweg von Venedig kommend vor Cervia während eines Gewitters in Seenot geraten. Erst nachdem er seinen Bischofsring ins stürmische Meer geworfen hatte, beruhigte sich die See, und er und die Mannschaft waren gerettet. Der Bischof legte das Gelübde ab, jedes Jahr am Himmelfahrtstag die Zeremonie zu wiederholen.
Bis heute wird diese Tradition gepflegt. Seit Wochen bereitet sich Cervia auf die Meereshochzeit vor, damit am großen Tag auch alles perfekt aussieht. Die prächtigen Kostüme mit den edlen Stoffen aus Seide, Brokat und Samt vor der Kulisse des Rathauses, das ist Romantik pur. Entworfen hat sie der Kostümhistoriker Andrea Masoni. „Ich suche in Archiven nach historischen Persönlichkeiten, entwerfe Skizzen und drei Schneiderinnen nähen tagelang die mittelalterlichen Gewänder.“ Auf dem Festumzug werden die Frauen in silbern oder rot glänzenden 20er-Jahre-Kleidern und Männer in mittelalterlichen grünen Gewändern mit Hauben, bestaunt. Am Hafen gibt es ein Theaterstück unter freiem Himmel ohne Regisseur, ohne feste Rollen und doch folgen alle einer Choreografie.
Segelregatta und Bogenturnier
Eine riesige Menschentraube hat sich an der Kaimauer des kleinen Jachthafens gebildet. Alle wollen das Spektakel im offenen Meer verfolgen. Begleitet von historischen Booten und den leuchtenden Farben ihrer Segel, segnet der Bischof die Adria und die Boote und wirft den goldenen Ring über Bord. Bejubelt werden die jungen Cervesis, die in Taucherkluft der Trophäe hinterherspringen. Nur einige Sekunden vergehen, triumphierend schwenkt einer der jungen Cervesis den an einer Kette baumelnden Bischofsring. Er ist der Held des Tages und bringt Glück für ein Jahr. „Es ist schon ein Kraftakt, alles auf die Beine zu stellen“, sagt Giovanna Magrini, Vertreterin des Tourismusbüros der Stadt. Läuft alles nach Plan, ist die ganze Aufregung erst einmal vergessen. Diesem Höhepunkt gehen eine Reihe anderer Veranstaltungen voraus, unter anderem eine Segelregatta, ein Turnier für Bogenschützen und verschiedene Ausstellungen. Auf Tafeln am Kanalhafen zeigen Fotos das alte Fischerviertel und beschreiben es in kurzen Geschichten.
Im Borgo Marina erinnert kaum noch etwas an die einfachen Häuser der Familien. Nur die historischen Salzlager und der Salzlagerturm, die neben dem Kanal errichtet wurden, sind Zeugen vergangener Industriearchitektur. Von Frühjahr bis Mitte September mussten die Salzarbeiter auf Flachbodenbooten, den „burchielle“, das weiße Gold aus den Salzgruben zur weiteren Vermarktung hierher transportierten. 130.000 Tonnen Salz fanden einst in den riesigen Backsteinbauten Platz. Im Jahr 2021 renoviert und im Januar 2022 eingeweiht, wurde das ehemalige Salzlager „Darsena del Sale“ zu einem Treffpunkt mit Restaurant und Spa. Der Pizzateig wird per Hand geknetet und ist besonders knusprig. Dazu passt ein Bier mit Cervia-Salz. Auf der gegenüberliegenden Seite steht der Turm Sankt Michael, der zur Verteidigung gegen Piratenangriffe und zur Kontrolle des Salzhandels diente.
Heute gibt es von oben einen herrlichen Blick über die Stadt zwischen Adriaküste und hügeligem Hinterland der Emilia Romagna. Cervia war wegen der Salinen besonders im Mittelalter stark umkämpft. „Wir holen mehr aus der kleinen Stadt Cervia heraus als aus der ganzen Romagna“, notierte Kardinal Ostiense im 13. Jahrhundert. „Denn Salz wurde nicht nur zum Würzen, sondern vor allem zur Konservierung von Fleisch, Fisch, Käse und Butter genutzt. Die Lebensbedingungen der Fischer verschlechterten sich, sodass die Malaria einen Großteil der Bevölkerung dahinraffte.
Ornithologen zählen Hunderte Vogelarten
Um die Lebensumstände der Salzarbeiter zu verbessern, ließ Papst Innozenz XII. mit einem Teil der kirchlichen Gelder die Stadt Cervia an einem gesünderen Standort aufbauen. Die Salinen blieben erhalten“, erzählt Stadtführerin Claudia. Das Salzmuseum „Musa“ entstand auf Betreiben des Kulturvereins „Gruppo culturale Civiltà Salinare“, der die Erinnerung mit Dokumenten, Werkzeugen und Fotos an die schwere Arbeit in den Salinen am Leben erhalten hat. Vier Tage Anfang September wird es rund um das historische restaurierte Salzlager trubelig. Wieder wird der Adria für das Salz, das Cervia berühmt gemacht hat, gedankt. Wie die Spezialität der italienischen Küche zu alten Zeiten per Hand hergestellt wurde, zeigen Arbeiter von Mai bis in den Herbst in einem Freilandmuseum in der Camillone-Saline.
Vom Stadtzentrum fährt man mit dem Fahrrad nur ein paar Minuten. Immer am Kanal entlang und mitten durch ausgedehnte schattige Pinienwälder, die zum 1979 gegründeten Naturpark des Po-Deltas gehören. Weit weg, zwischen Schilfinseln, fliegen zartrosa Wattebäuschchen in der Luft. Es sind Flamingos, die sich in den Salinen von winzig kleinen Krebstieren mit rosa Schalen ernähren.
Doch nicht nur die grazilen Vögel fühlen sich hier wohl. Im Feuchtgebiet zählen Ornithologen 100 Vogelarten, darunter Stelzenläufer, Säbelschnäbler, Seeregenpfeifer und Zwergseeschwalben. Um die Vogelwelt intensiver zu betrachten, kann man die Kanäle mit dem Kanu befahren. Oder man wandert durch den riesigen Pinien-Naturpark.