Vor knapp 40 Jahren wurde im luxemburgischen Schengen das gleichnamige Abkommen geschlossen. Auf einer Brücke 25 Meter oberhalb der historischen Stätte wird Europas größte Errungenschaft derzeit auf die Probe gestellt.
Erst im letzten Moment sind die beiden Bundespolizisten zu sehen. Obwohl sie sich weit in den weißen Metallcontainer zurückgezogen haben, pfeift ihnen auf dem Schengener Viadukt ein regnerischer Februarwind um die Ohren. Mit hochgestelltem Mantelkragen und angezogenen Schultern sind sie in ein Gespräch vertieft und scannen dabei den auf der Autobahn 13 im Schritttempo an ihnen vorbeifahrenden Verkehr. „Komische Figuren in komischen Autos“, wie der designierte CDU-Bundeskanzler Friedrich Merz mutmaßlich illegale Migranten vergangenen Herbst nannte, sind offenbar keine unterwegs, sodass sich der Feierabend für Tausende saarländische Grenzpendler an diesem Tag nur um ein paar Minuten verzögert.
Nicht selbstverständlich, seitdem die scheidende Bundesregierung im vergangenen September Ernst machte und Grenzkontrollen einführte. Jahrzehntelang galten solche an europäischen Binnengrenzen als ein Relikt aus Zeiten, in denen man für den Croissant-Kauf im Nachbarort noch einen Reisepass brauchte. Es ist wohl die Ironie der Geschichte, dass das Schengen-Abkommen gerade einmal 25 Meter unter den Füßen der beiden durchnässten Beamten – die nun Europas größte Errungenschaft von Amts wegen auf die Probe stellen – unterzeichnet wurde. 40 Jahre wird der Vertrag dieses Jahr alt, der Moselort wird das Jubiläum ausrichten. „Das soll eine Big Party und keine Trauerfeier werden“, wird Innenminister Léon Gloden (CSV) nicht müde zu betonen und reiht sich damit in den Tonus seiner Landsleute ein. Über alle Parteigrenzen hinweg sieht sich das Land historisch geradezu verpflichtet, das nach dem Moselort benannte Abkommen zu verteidigen. „Effiziente Kontrollen an den Außengrenzen und offene Binnengrenzen“, lautet die traditionelle Forderung.
Ob immer allein aus Liebe zu Europa, darf bezweifelt werden. Denn kaum ein Land ist so auf Reisefreiheit und einen offenen Binnenmarkt angewiesen wie Luxemburg. Fast jeder zweite Arbeitnehmer ist Grenzgänger, in Schlüsselbereichen wie dem Gesundheitssektor sind es sogar über die Hälfte: „Wenn wir die Grenzen zumachen, können wir die Krankenhäuser gleich mit schließen“, erklärte Anfang 2020 der damalige Premierminister Xavier Bettel (DP), als während des ersten Corona-Lockdowns entsprechende Forderungen laut wurden. „Jede Behinderung der Mobilität beeinträchtigt die Attraktivität des luxemburgischen Arbeitsmarktes“, konstatiert auch die Handelskammer („Chambre de commerce“) besorgt.
Geburtstag soll „keine Trauerfeier werden“
Dass diese derzeit in nicht unerheblichem Ausmaß behindert ist, weiß die Luxemburger Bahngesellschaft zu bestätigen. Mangels Bahnverbindung pendeln täglich Busse für die CFL zwischen Luxemburg-Stadt und Saarbrücken: „Besonders spürbar sind die Kontrollen für Fahrgäste mit Anschlussverbindungen“, erklärt ein Unternehmenssprecher. Dass die Verzögerungen unregelmäßig seien, erschwere es, die Probleme durch Fahrplananpassungen aufzufangen. Und das, obwohl die Verkehrssituation in Luxemburg ohnehin schon angespannt ist und Arbeitswege oft entsprechend zeitaufwendig sind. Darunter leidet die Work-Life-Balance, wodurch etwaige finanzielle Vorzüge an Gewicht verlieren. Aus Deutschland pendelten im vergangenen Jahr 52.000 Menschen und somit erstmals weniger als zuvor.
Das Großherzogtum ist außerdem extrem vom Außenhandel abhängig. Es importiert mehr Waren und Dienstleistungen, als im Land verbraucht werden, und exportiert mehr, als im Land produziert werden. Mit einer Außenhandelsquote von 185 Prozent übersteigen Importe und Exporte das Bruttoinlandsprodukt bald um das Doppelte, womit die luxemburgische Wirtschaft zu den offensten weltweit zählt. „Alles, was den Außenhandel behindert, kann negative Auswirkungen auf die Wirtschaft haben“, warnt die Handelskammer.
Sie fürchtet, dass eine Normalisierung von Grenzkontrollen dazu führen könnte, dass der bisherige Standortvorteil zum Nachteil wird. Wenn Grenzen zu Engpässen werden, verlängern sich die Transportzeiten, was wiederum zu höheren Kosten führt. Im schlimmsten Fall würde Luxemburg bei der Routenplanung einfach umfahren. Die Folgen wären kaum auszumalen, zumal das Großherzogtum in den vergangenen Jahrzehnten mit seinen Wasserwegen, dem Ausbau von Straßen- und Schienennetzen, zwei Eurohubs, einem Cargo-Flughafen und einem Platz im Herzen Europas auf die Logistikbranche setzt, um sein Wirtschaftsmodell zu diversifizieren. Befürchtungen, die das Transportunternehmen Dachser, das einen Standort im Grenzort Grevenmacher unterhält, teilt, auch wenn bislang noch keine nennenswerten Auswirkungen zu spüren seien.
Insofern überrascht es wenig, dass sich die Begeisterung unter Luxemburgs Politikern in Grenzen hielt, als Deutschland vergangenen Sommer zunächst anlässlich der Fußball-Europameisterschaft Grenzkontrollen einführte. Ausgehend davon, dass diese zeitlich und aus Sachgründen befristet seien, begnügte sich Innenminister Gloden damit, zu betonen, dass die Kontrollen nur minimale Einschränkungen nach sich ziehen dürften. Eine Forderung, die sich nicht erfüllen sollte, denn zu Behinderungen kam es durchaus. Aber immerhin wurden die Kontrollen nach dem Finale wieder eingestellt. Schleierfahndungen seien nun ausreichend, hieß es aus Berlin. Doch nach nur 60 Tagen freier Fahrt legte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) eine Kehrtwende hin. Mit der Rückkehr der Kontrollen auf der A 8 bei Perl und der A 64 in Richtung Trier endete die Luxemburger Nachsichtigkeit. Premier Luc Frieden und Parteikollege Gloden ließen Bundeskanzler Olaf Scholz und Parteikollegin Faeser unumwunden an ihrer Ablehnung der Kontrollen teilhaben und drohten im November offen damit, bei einer Verlängerung der Kontrollen über den März hinaus, bei der EU-Kommission Beschwerde über die Bundesrepublik einzureichen – und taten dies am 14. Februar schließlich tatsächlich.
Luxemburg stellt infrage, dass irreguläre Migration ein rechtmäßiger Grund für Kontrollen an Binnengrenzen ist und bezweifelt, dass Deutschland das Grundprinzip der Verhältnismäßigkeit des Schengener Grenzkodexes einhält. Auch der ehemalige Luxemburger EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV) hat mehrfach seine ablehnende Haltung gegenüber festen Kontrollpunkten und seine Zweifel an deren Effektivität deutlich gemacht. Dass an nur zwei Stellen der 135 Kilometer langen deutsch-luxemburgischen Grenze kontrolliert wird, spreche für sich: „Banditen, Kriminelle und Banden nutzen keine offiziellen Grenzübergänge, die sind nicht dumm“, spöttelte Juncker. Die bessere Wahl seien mobile Kontrollen im Inland, denn Identitätsüberprüfungen und Kriminalitätsbekämpfung seien überall möglich. Dafür müsse man keine Landesgrenzen blockieren: „Wenn Sie eine große Straße in Metz blockieren, finden Sie genauso viele Menschen, die gegen Regeln verstoßen.“
Innenminister Léon Gloden schlägt alternativ zu Straßensperren Kontrollen mit bereits existierenden und geplanten Computersystemen wie dem „Schengener Informationssystem SIS“ für den Austausch sicherheitsrelevanter Daten oder dem „Entry Exit System“ zur elektronischen Erfassung von Ein- und Ausreisen vor. Außerdem will er der nächsten Bundesregierung ein „modernes Abkommen über polizeiliche Zusammenarbeit vorschlagen, um die umständlichen Kontrollen an den Binnengrenzen durch eine optimale Nutzung der Kooperationsmittel zu ersetzen“.
Sollte die EU-Kommission die Beschwerde Luxemburgs ablehnen, bliebe noch der Gang vor den Europäischen Gerichtshof, der quasi vor der eigenen Haustür liegt. Linke, Grüne und Piraten im Luxemburger Parlament befürworten diesen Schritt, um den europäischen Rechtsrahmen eindeutig zu klären. Die CSV-DP-Koalition sowie die ADR – und damit die Mehrheit des Parlaments – lehnen diese Eskalationsstufe bislang jedoch ab. Stattdessen hoffen die Abgeordneten auf einen proeuropäischen Kurs des mutmaßlich nächsten Bundeskanzlers Friedrich Merz. Auch wenn dieser mit seinen bisherigen Ankündigungen zu dauerhaften Kontrollen nicht wirklich Anlass zur Hoffnung gegeben hat.