Deutschland ist auf dem besten Weg, „kranker Mann Europas“ zu werden. Aktuelle Daten und Prognosen sehen Deutschland als Schlusslicht. Jetzt suchen Politik und Wirtschaft Wege aus der Krise.
In jüngster Zeit häufen sich die Vorschläge, wie Deutschland wieder auf einen besseren Weg kommen soll. Der Kanzler hat zum großen Gipfel mit der Wirtschaft geladen. Im Vorfeld sahen sich viele veranlasst, ihre Konzepte als Grundlage für dieses Spitzentreffen aufzuschreiben oder auf Reden vor großen Jahresversammlungen, die üblicherweise im Herbst stattfinden, auszubreiten. Wobei sich in diesem Herbst einiges zusammenballt und kulminiert.
Alle schauen gebannt auf den 5. November. Der Ausgang der US-Wahlen wird Auswirkungen auf die geopolitische Lage und das transatlantische Verhältnis haben. Dass Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) die aktuelle Steuerschätzung ausgerechnet während einer USA-Reise erläuterte, wirkt ein bisschen wie ungeplant symbolisch.
Was er zu verkünden hatte, war wenig überraschend. Die Bundesregierung muss bei ihren Haushaltsplanungen mit deutlich weniger Steuereinnahmen auskommen, als es ursprüngliche Prognosen hätten erwarten lassen. Wenig überraschend, weil im Jahresverlauf ein ums andere Mal die Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung nach unten korrigiert worden sind. Das trifft im Übrigen nicht nur den Bund, sondern auch Länder und Kommunen.
Alle zusammen müssen im kommenden Jahr mit 12,7 Milliarden Euro weniger auskommen, als es noch die Steuerschätzung vor einem halben Jahr im Mai hätte erwarten lassen. Bis 2028 werden es dann insgesamt fast 60 Milliarden (58,1 Milliarden) weniger sein.
Die Steuerschätzung spiegelt das Bild eines Landes, das nun im zweiten Jahr in einer Rezession steckt. Und das, während die europäischen Nachbarn durch die Bank mit positiven Zahlen zum Wirtschaftswachstum aufwarten können.
Attraktivität schwindet
Wenige Tage zuvor hatte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger auf dem Deutschen Arbeitgebertag eine ziemlich schonungslose Bestandsaufnahme abgegeben: „Die Wirtschaft schrumpft. Die Arbeitslosigkeit steigt. Der Standort Deutschland hat für Investoren an Attraktivität verloren“, und er ergänzte: „Die Anerkennung, die Deutschland viele Jahre für seine Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit genossen hat, schwindet.“
Nun mangelt es nicht an Erkenntnis über den Zustand. Die Liste der Gründe, die zu dieser Entwicklung geführt haben, ist lang. Im Mittelpunkt steht immer wieder die Kritik an der Politik, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten versäumt hat, notwendige Investitionen zu veranlassen, Reformen umzusetzen und Weichen zu stellen. Bei aller Berechtigung an dieser Kritik ist es aber nur ein Teil des Bildes. Denn auch in der Wirtschaft selbst ist vieles schlicht entweder verschlafen oder zu halbherzig betrieben worden oder es sind Weichen falsch gestellt worden.
Der Verweis auf die bekannten Krisen samt ihren Folgen ist zwar berechtigt, aber diese Veränderungen haben andere eben auch getroffen. Sicher hat es Deutschland als Industrie- und Exportnation stärker gebeutelt. Aber eben dadurch ist auch klar geworden, dass es nicht mehr nur um kleine Kurskorrekturen mit ein paar Reformen geht, sondern dass das grundlegende Geschäftsmodell auf dem Prüfstand steht.
Dulger unterstreicht: „Trotz aller Diskussionen. Wir sind ein starkes Land. Die Karten werden allerdings neu gemischt.“ Und da brauche es eben eine „moderne Standortpolitik“. Was der Arbeitgeberverband darunter versteht, listet er in einer Reihe von Forderungen an die Politik auf: Die „missratene Bürgergeldreform“ müsse „korrigiert“, Beschäftigung „neu gedacht“ werden. Das Rentenpaket II gehöre „ins Museum für verkorkste Reformen“. Letztlich müssten mit Strukturreformen die Sozialabgaben begrenzt werden.
Zugleich forderte der Arbeitgeberchef „für unsere Beschäftigten ausreichenden und bezahlbaren Wohnraum“ und dass Bildung „im Zeitalter von ChatGPT und KI neu gedacht“ werden müsse.
Immerhin gab es auch schon fast versöhnliche Töne in Richtung Politik. „Im Vergleich zu den vergangenen Monaten scheint das Problembewusstsein in dieser Bundesregierung zumindest gestiegen zu sein“, attestierte Rainer Dulger der Koalition. Es habe Fortschritte gegeben bei der Fachkräftezuwanderung und mit „Ansätzen der Entbürokratisierung“, gestand der Arbeitgeberpräsident zu. Um dann, wenig überraschend, zu ergänzen: Das reiche bei Weitem nicht.
Das wiederum bezog Dulger auch auf die bereits im Sommer von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte „Wachstumsinitiative“. Diese beinhaltet 49 Maßnahmenbündel, allesamt mit dem Ziel, den Standort und die Wettbewerbsfähigkeit zu unterstützen. Konkret geht es darum, Investitionen, Forschung und Entwicklung stärker zu unterstützen. Gleichzeitig sollen die Bürgerinnen und Bürger durch steuerliche Maßnahmen (Stichwort: Vermeidung der „kalten Progression“ für 2025 und 2026) um gut 20 Milliarden Euro entlastet werden, was zur Stärkung der Binnenkonjunktur beitragen soll. Außerdem soll die Anwerbung qualifizierter ausländischer Fachkräfte erleichtert werden, es gibt mehr Anreize zur Arbeit im Alter, Beschäftigungsanreize beim Bürgergeldbezug, eine Wachstumsinitiative beim Wohnungsbau, eine Stromsteuersenkung für das produzierende Gewerbe und nicht zuletzt einen Abbau bürokratischer Regelungen.
Die Reaktionen darauf fielen erwartbar gemischt aus. Für die einen war es „kein großer Wurf“, „gut, aber nicht gut genug“, andere sahen darin immerhin ein klares Signal dafür, dass die Ampelkoalitionäre, bei allen sonstigen Unterschiedlichkeiten, zu dieser Verabredung in der Lage waren. „Die anhaltende Unsicherheit alleine war bereits ein Wachstumshindernis geworden“, betonte Sebastian Dullien, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung seinerzeit.
Unsicherheit wegen Dauerdiskussion
Die „Wachstumsinitiative“ gehörte zur Verständigung über den Haushaltsentwurf 2025, der aber schon damals in der Kritik stand. Grund war, dass im Entwurf eine „globale Minderausgabe“ in Milliardenhöhe stand, was nichts anderes heißt, als dass noch nicht klar war, wie diese Lücke gestopft werden soll, wo beispielsweise entsprechende Einsparungen erfolgen sollen. Oppositionsführer Friedrich Merz nannte das „einfach nicht mehr seriös“.
Diese Situation hat sich natürlich durch die jüngste Steuerschätzung noch einmal verschärft. Gleichzeitig nimmt der Druck wegen der wirtschaftlichen Entwicklung zu.
In diesem Zusammenhang ist nun Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) mit einem weiteren Vorstoß in die Diskussion getreten. Mit einem „Deutschlandfonds“ will er zwei Ziele unter einen Hut bringen. Einerseits sollen die dringend nötigen Investitionen in Unternehmen und für die Infrastruktur unterstützt und vorangetrieben werden, gleichzeitig soll es durch diese Konstruktion möglich sein, auch „Anhänger der Schuldenbremse zu versöhnen“. Der Kern des „Deutschlandfonds“ im Rahmen einer „Modernisierungsagenda“: Unternehmen (egal welcher Größe) sollen bei Investitionen zehn Prozent der Kosten als Investitionsprämie erhalten. Ansonsten gehe es um „Innovationen und Investitionen, Vereinfachungen und Verlässlichkeit“. Habeck wollte zwar noch keine konkrete Summe nennen: „Habe mit Absicht kein Volumen gesagt, aber es gibt Berechnungen des BDI (Bundesverband der deutschen Industrie) mit einem mittleren dreistelligen Milliardenbetrag“, sagte der Minister bei der Vorstellung des Konzepts. „Wir reden von großem Volumen – allerdings über viele Jahre.“
Das Fonds-Modell könnte nach seiner Ansicht auch bei Beibehaltung der Schuldenbremse ein „gangbarer Weg“ sein, weil es eine „zeitlich begrenzte Vereinbarung“ sei und keine grundsätzliche Öffnung. Die Grundsatzdiskussion um die Schuldenbremse wolle er vermeiden, obwohl „die allermeisten Ökonomen, die Europäische Zentralbank und viele Agenturen dazu raten, dass Deutschland seine Fiskalpolitik ändern muss.“
Mit dieser Randbemerkung trifft Habeck allerdings einige grundlegende Dilemmata. Denn auch ohne die Verschärfung durch die aktuellen Krisen (Krieg, Energiekosten, Inflation) und die Dauerherausforderungen (Klimakrise, Transformation) ist ziemlich unstrittig, dass die Ampelkoalition ein Land übernommen hat mit einem gigantischen Investitionsstau an so ziemlich allen Ecken und Enden. Immer wieder taucht dabei aus Expertenanalyse die gigantische Zahl von einer Billiarde Euro auf, davon allein einige Hundert Milliarden in öffentlicher Infrastruktur. Ziemlich überwiegend wird das als auch als eine Folge der Schuldenbremse angesehen. „Wir haben den Haushalt saniert. Das heißt nicht, dass wir keine Schulden gemacht haben, die sind nur nicht im Haushalt. Die sind bei mangelnder Sicherheitsfähigkeit, bei mangelnder Infrastruktur, mangelnden Ausgaben der Kommunen für ihre Infrastruktur und für die Bildung zu besichtigen“, bilanziert Habeck.
Als Folge hat Deutschland zwar im internationalen Vergleich einen Vorzeigehaushalt, was die Verschuldung des Landes angeht, befindet sich derzeit aber auch in vielen anderen Bereichen auf Absteigerplätzen.
Jedem sein eigenes Gipfeltreffen
Die grundsätzliche Diskussion um die Schuldenbremse ist allerdings allenfalls eine, die bereits im Zeichen des heraufziehenden Wahlkampfs für die Bundestagswahl im kommenden Jahr steht. Eine Änderung in dieser Legislaturperiode wird es kaum geben, eine verfassungsändernde Mehrheit dafür ist nicht in Sicht. Insofern ist allenfalls die Frage, ob es Wege gibt, im Rahmen der geltenden Lage Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Und die sind dringend nötig, worüber wiederum Einigkeit herrscht. Saar-Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) hatte unlängst von einem „letzten Weckruf“ gesprochen, nachdem der Chip-Hersteller Wolfspeed die Realisierung seines Ansiedlungsprojekts im saarländischen Ensdorf zwar nicht endgültig abgesagt, aber doch auf „unbestimmte Zeit verschoben“ hat (siehe auch Bericht S. 76/77).
Habeck hatte bereits im Frühjahr einen Vorschlag gemacht zu einem milliardenschweren Sondervermögen, war aber schon damals insbesondere bei Finanzminister Lindner nicht durchgedrungen. Und der hat auch jetzt ziemlich unwirsch auf Habecks neuerlichen Vorstoß reagiert. „Ein Hammer“ sei das, was sein Kabinettskollege da vorschlage. Und das zudem ohne jegliche vorherige Absprache.
Die habe es auch nicht mit dem Kanzleramt gegeben, räumte Regierungssprecher Steffen Hebestreit ein. Das müsse es aber auch nicht, wenn der Wirtschaftsminister das in seiner eigenen Ressortverantwortung tue. Habeck hatte zuvor schon eingeräumt, dass sein Vorschlag über Koalitionsvereinbarungen hinausgehe, aber die Entwicklung der Wirklichkeit halte sich nun mal nicht an Koalitionsverträge. Insofern verstehe er seinen Vorschlag als einen „pragmatischen Weg aus der verkeilten Situation“ und verbinde das mit der Hoffnung, dass man darüber Einigkeit herstellen könne, „bevor der Wahlkampf richtig losgeht“.
Wobei der Polit-Profi Habeck selbstverständlich weiß, dass das mit dem Wahlkampf längst der Fall ist. Was sich unschwer daran erkennen lässt, dass ein Kabinettskollege (Lindner) einem anderen (Habeck) „konzeptionelle Hilfslosigkeit“ vorwirft oder daran, dass Lindner seinerseits in Erwägung gezogen hat, kurzfristig einen eigenen Wirtschaftsgipfel mit dem Mittelstand einzuberufen. Kurz bevor wiederum Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Gäste zu seinem Industriegipfel erwartet (Termine nach Redaktionsschluss).
Einerseits dürfte sich die Wirtschaft angesichts der vielfältigen Einladungen inzwischen nicht mehr darüber beklagen können, sie würde nicht gehört, und andererseits angesichts der vielfältigen Vorschläge auch nicht darüber, dass sich „die Politik“ nicht bemühen würde. Zumal auch die Opposition, im Besonderen die Union, die Kritik der Wirtschaftsverbände an der Koalition dankbar aufnimmt.