Nach 14 Jahren Tory-Chaos soll der nüchterne Keir Starmer seit vergangenem Sommer die britische Politik neu ausrichten. Das Erbe ist schwer, vor allem wenn es um die britische Energiewende geht.
David Cameron, Theresa May, Boris Johnson, Liz Truss und Rishi Sunak: Das jahrelange Chaos der Tories nach dem Brexit ist vorbei. An seine Stelle trat Keir Starmer, Brexit-Gegner, Ex-Staatsanwalt, ruhig, vielleicht ein bisschen langweilig, eben keine schillernde Figur wie seine konservativen Vorgänger, der exzentrische Boris Johnson oder Milliardär Rishi Sunak. Das Erbe, das Starmer als Regierungschef übernimmt, ist jedoch ein schwieriges: ein Land ohne Geld. Das Haushaltsloch beträgt 22 Milliarden Pfund, Großbritanniens Schuldenquote beträgt 101 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und ist damit so hoch wie in den 1960er-Jahren, die Wirtschaft begann bereits nach dem Finanzcrash 2007 zu lahmen, der Brexit und die Corona-Pandemie gaben ihr den Todesstoß. Die Finanzindustrie drohte abzuwandern, die von den Brexiteers versprochenen Hunderte Millionen Pfund für das völlig marode Gesundheitssystem blieben aus, nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine stiegen die Gas- und Strompreise in astronomische Höhen. Manch Rentner und Alleinerziehende mussten in diesen Tagen überlegen, ob sie lieber heizen oder etwas zu essen kaufen.
Starmers Start jedoch war von Querelen geprägt, Stabschefin Susan Grey trat nach wenigen Tagen im Amt bereits zurück. Rassistische Straßenkrawalle, ausgelöst durch Desinformationen im Netz, überschatteten die ersten Tage gleichfalls, die Polizei griff durch – auch mit Starmers Rückendeckung. Ankündigungen für eine neue Wohnungsbaupolitik folgten, das archaische House of Lords sollte reformiert werden, die grüne Transformation der UK-Wirtschaft vorangetrieben und die öffentlichen Dienste des Königreichs vor dem finanziellen Ruin bewahrt werden.
Große Gesten und kein Spielraum
Mittlerweile ist die Labour-Regierung sechs Monate im Amt. Der Brexit jährt sich zum fünften Mal. Das Land wartet auf einen Befreiungsschlag. Um das Leben der Menschen zu verbessern, wie es Labour im Wahlkampf versprochen hatte, bleibt jedoch kein Spielraum für große Gesten, ohne die Steuern zu erhöhen. Starmer muss sich auf das Wesentliche konzentrieren. Für mehr ist kein Geld da. Teure Sozialleistungen wie zusätzliches Geld für kinderreiche Familien wurden bereits abgeräumt, ebenso die beliebte „Winterhilfe“ für ärmere Rentner. Dafür erntete Starmer nicht nur Kritik, sondern offene Rebellion in den eigenen Reihen. Vor allem, als teure Privatgeschenke an ihn und seine Frau bekannt wurden. Das meiste davon hat Starmer mittlerweile zurückbezahlt. Das Unverständnis darüber, wie er es jedoch innerhalb so kurzer Zeit dazu kommen lassen konnte, blieb.
Die Umfragewerte verfielen rasch. Mittlerweile hat Reform UK, die rechtspopulistische Partei des Brexit-Befürworters Nigel Farage, in einer aktuellen YouGov-Umfrage sowohl die Tories als auch Labour knapp überholt. Starmer gilt als Getriebener der Rechtspopulisten, die erst jüngst wieder von einem Bestechungsskandal heimgesucht wurden, in den auch ein russischer Geschäftsmann verwickelt ist. Dennoch schafft es der britische Premier derzeit nicht, sich politisch zu befreien. Dafür wäre ein größerer Wurf nötig als er finanziell möglich ist. Wirtschaftswachstum muss her, dringend benötigte Investitionen sollen nach Großbritannien fließen. Allein die Skepsis der Investoren scheint noch groß. Steuern mussten steigen, etwa die auf Kapitalerträge, zu denen auch Kleinsparer gehören, sowie Unternehmenssteuern. Anders ist der immense Modernisierungsstau aus Sicht der Labour-Regierung wohl nicht zu stemmen. Das Ergebnis könnten 40 Milliarden Pfund (umgerechnet 48 Milliarden Euro) mehr Steuereinnahmen sein, die nicht nur für marode Krankenhäuser und Schulen, sondern auch für die steigenden Militärausgaben angesichts der russischen Aggression gebraucht werden. Verschont aber werden die hohen Einkommen, um Investoren nicht zu verprellen, während gleichzeitig der Mindestlohn etwas angehoben wurde. Ob das Konzept aufgeht, ist noch unklar, denn das Programm von Labour braucht Jahre um zu gedeihen.
Die Opposition hat sich mittlerweile neu aufgestellt. Da ist Kemi Badenoch, die neue Hoffnung der Tories, die die Partei weiter nach rechts rückt und gerne mal populistische Töne anschlägt: die Informatikerin gibt sich „anti-woke“ im Kulturkampf gegen den Linksliberalismus, gilt als Verehrerin der Tory-Ikone Margaret Thatcher und war Ministerin im Kabinett Johnson und kurzzeitig bei Kurzzeit-Premier Truss. Die Parteibasis liebt sie, weil sie kein Blatt vor den Mund nimmt und keinem Streit aus dem Weg geht – vor allem, wenn es um Kulturkampfthemen geht.
Störfeuer von Rechtspopulisten
Rechtspopulist Nigel Farage, der aus der Mini-Partei Reform UK eine ernstzunehmende politische Kraft formt, ist längst zu einem der einflussreichsten Politiker Großbritanniens geworden. Der langjährige Vorkämpfer für den Brexit, der einst die UKIP zur treibenden Kraft hinter dem EU-Referendum machte, nutzt geschickt die Unzufriedenheit mit der etablierten Politik. Bei den Parlamentswahlen im Juli 2024 erreichte Reform UK einen Stimmenanteil von 14,3 Prozent, was aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts zwar nur zu fünf Sitzen führte, aber das Potenzial der Partei deutlich machte. Farage hat es geschafft, die Unzufriedenheit vieler Wähler mit der Labour-Regierung zu kanalisieren, insbesondere in Bezug auf die Einwanderungspolitik. Reform UK fordert eine strikte Migrationspolitik und hat sich zum Ziel gesetzt, die Konservativen zu „zerstören“. Dies erinnert an die Rhetorik der AfD in Deutschland. Reform UK profitiert von der Ungeduld der Wähler angesichts der langsamen Fortschritte der Labour-Regierung in Bereichen wie dem Gesundheitssystem und der Wirtschaft. Farage bewirtschaftet geschickt die Ressentiments gegen die anhaltende irreguläre Migration über den Ärmelkanal.
Die grüne Transformation der britischen Wirtschaft, ein Kernversprechen von Starmers Wahlkampf, erweist sich als komplex. Die Labour-Regierung plant, in den kommenden 25 Jahren rund 26 Milliarden Euro in CCS-Projekte (Carbon Capture and Storage) zu investieren, mit dem Ziel, jährlich 20 bis 30 Megatonnen CO2 abzuscheiden, zu transportieren und dauerhaft zu speichern. Zudem sollen bis 2030 emissionsarme Wasserstoffproduktionskapazitäten von zehn Gigawatt aufgebaut werden, um eine der größten Wasserstoffökonomien Europas zu schaffen. Um die ausufernden Energiepreise und Abhängigkeiten in den Griff zu bekommen, startete Labour nun trotz schwieriger Haushaltslage „die ehrgeizigste Reform unseres Energiesystems seit Generationen“, wie es heißt. Dafür sollen Genehmigungsverfahren verkürzt und der Ausbau alternativer Energien bis 2030 vorangetrieben werden. So soll eine staatliche Gesellschaft, GB Energy, nun mithilfe von Anschubfinanzierungen kleinere und mittlere Energieprojekte aus der Taufe heben. Die Idee ist die gleiche wie in Deutschland: Grüne Energie soll Großbritanniens Abhängigkeit von fossiler Energie und gleichzeitig die Stromkosten senken. Zu den Maßnahmen gehören die Reform und Ausweitung der staatlichen Auktionen für neue Kapazitäten zur Erzeugung sauberer Energie, ein deutlicher Ausbau des Stromnetzes des Landes und eine Beschleunigung des Prozesses zur Anbindung neuer Projekte, eine Änderung des Planungssystems, damit die gesamte neue Infrastruktur genehmigt und gebaut werden kann, sowie qualifizierte Arbeitskräfte, um dies zu gewährleisten. Bis dies Früchte trägt, können jedoch Jahre ins Land gehen. Denn anders als in Deutschland steht Großbritannien erst am Anfang.
Allerdings gibt es Kritik an der Umsetzung dieser ambitionierten Pläne. Ed Miliband, in Starmers Regierung verantwortlich für Energie und die britische „Net-Zero-Strategie“, steht in der Kritik, vor allem von der traditionell starken britischen rechtskonservativen Presse. Die Angriffe auf Miliband ähneln stark jenen auf seinen deutschen Kollegen Robert Habeck (Grüne). Grund: die Furcht vor wirtschaftlich negativen Auswirkungen einer echten Energiewende. Was diese Angst befeuert, sind die nach wie vor hohen Energiepreise.
Doch die Anstrengungen werden konterkariert. Erst kürzlich meldete der finanziell angeschlagene britische Ölkonzern BP, dass er sich seinen Aktionären beugen werde und seine Öl- und Gasförderung bis 2030 verdoppeln wolle. Geld, das für eine nachhaltige Transformation des Konzerns bereitgestellt wurde, soll um fünf Milliarden Euro gekürzt werden, meldete der „Guardian“. Die Presse nennt Miliband einen „Verrückten“. Leicht wird es die Regierung Starmer also in den kommenden Jahren nicht haben.