Beim Rückblick auf die Saison 2024 wird meist nur die Dominanz von Tadej Pogacar gefeiert. Vergessen wird oft die Siegesserie des gesamten UAE-Teams. Und dass Mathieu van der Poel als Monumente-Jäger und Remco Evenepoel als Doppel-Olympiasieger/Einzelzeitfahr-Weltmeister dem Slowenen Druck gemacht haben.
Kaum jemand wird sich noch an das US-Team Columbia-HTC erinnern, das in der Saison 2009 als reine Sprinter-Equipe mit dem jungen Mark Cavendish als Speerspitze 84 Profi-Straßenradrennen für sich entscheiden konnte. Dass dieser Rekord in der abgelaufenen Saison 2024 im Rahmen der UCI WorldTour ausgerechnet von einer Mannschaft angekratzt werden konnte, deren eigentlich einzige Aufgabe darin bestanden hatte, ihrem slowenischen Leader Tadej Pogacar zu möglichst vielen Triumphen zu verhelfen, dürfte daher einigermaßen überraschen. Zumal das seit 2017 unter der Lizenz der Vereinigten Arabischen Emirate fahrende UAE Team Emirates lange Zeit als Achillesferse des 2019 als außergewöhnlich talentiert verpflichteten slowenischen Jungspunds Tadej Pogacar gegolten hatte. Der daher seine ersten Erfolge gleichsam als Solist und ohne nennenswerte Unterstützung durch überforderte Mannschaftskollegen einfahren musste.
Doch die Übermacht des Teams Jumbo-Visma, was sich in den Siegen des Dänen Jonas Vingegaard bei der Tour de France der Jahre 2022 und 2023 niedergeschlagen hatte, hatte die Verantwortlichen des UAE-Teams um den italienischen Manager Mauro Gianetti zu einer gravierenden Kurskorrektur veranlasst. Es wurden dem Slowenen ausnahmslos Hochkaräter zur Seite gestellt, für die die früher übliche Bezeichnung als „Edelhelfer“ eigentlich kaum mehr zulässig ist. Weil Profis wie João Almeida, Adams Yates, Juan Ayuso, Pavel Sivakov oder Marc Soler selbst das nötige Rüstzeug zum Sieg-Fahrer besitzen. Wofür das UCI-Team-World-Ranking 2024 einen eindeutigen Nachweis liefern konnte. Mit 81 Siegen, die sich auf mehr als 20 Fahrer verteilten, führte das UAE-Team Emirates einsam die Liste an, weit vor dem Zweitplatzierten Lidl-Trek mit 42 Saisonsiegen. Auch in der reinen Team-Punktewertung konnte das UAE-Team Emirates die Spitze vor den nahezu punktgleichen Teams Visma – Lease a Bike und Soudal Quick-Step behaupten. Selbst ohne die stolzen 25 Siege ihres Leaders Tadej Pogacar, der diese phänomenale Bestleistung bei insgesamt gerade mal 57 Tagen auf dem Wettbewerbs-Rennsattel aufstellen konnte, weshalb viele Experten von der größten Leistung eines Athleten in der gesamten Radsport-Historie sprechen, wäre das Team des slowenischen Superstars noch klarer Sieges-Ranking-Spitzenreiter geblieben.
Saison-Bilanz von Pogacar
Nahezu alle Ziele, die er sich für das Jahr 2024 gesetzt hatte, konnte er auch erreichen. Wobei er bei einigen Siegen seine Gegner durch beeindruckende Solo-Vorstellungen geradezu deklassieren konnte. Solche Alleingänge in geradezu epischer Folge hatte es bislang noch nie gegeben. Bei seinem mit Blick auf den Giro d’Italia ziemlich späten Saisoneinstieg mit dem Schotter-Frühjahrsklassiker Strade Bianche hatte der Slowene einen 81 Kilometer langen Alleinritt hingelegt. Beim siegreichen Monument Lüttich-Bastogne-Lüttich waren es 37 Kilometer als Solist, beim Lombardei-Rundfahrt-Monument waren es 48 Kilometer gewesen, beim WM-Sieg in Zürich 51 Kilometer, beim Giro dell’Emilia 38 Kilometer. Der einzige Wermutstropfen in einer ansonsten perfekten Saison war für den Slowenen der Frühjahrsklassiker Mailand-San Remo. „La Primavera“ wollte er diesmal unbedingt gewinnen, um seine Sammlung der siegreichen Rad-Monumente über Flandern-Rundfahrt, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt hinaus nahezu komplettieren zu können. Doch er musste sich mit dem dritten Platz begnügen – und das ebenso noch fehlende legendäre Paris-Roubaix-Kopfsteinpflaster-Monument stand auch 2024 wegen des für Fliegengewichte wie ihn hohen Verletzungsrisikos nicht zur Debatte. Mit dem Double-Triumph beim Giro d’Italia und bei der Tour de France konnte sich Pogacar endgültig in den elitären Kreis der Radsport-Heroen hieven, um mit dem WM-Gewinn sogar noch einen draufzusetzen. Diesen Triple-Coup, auch „Dreifach-Krone des Radsports“ genannt, innerhalb eines Jahres hatten vor ihm nur Eddy Merckx 1974 und Stephen Roche 1987 schaffen können. Seinen freiwilligen Verzicht auf die Olympia-Teilnahme in Paris hat er längst als Fehler abgehakt.
Die Vergleiche mit Eddy Merckx hat Pogacar bislang in aller Bescheidenheit zurückgewiesen. Auch wenn ihm die Radsportikone höchstpersönlich nach dem Gewinn des Regenbogentrikots seinen Ausnahmestatus bescheinigt hatte: „Es ist offensichtlich, dass er über mir steht.“ Tatsächlich dürfte es selbst für Pogacar noch ein weiter Weg sein, um den Belgier mit seinen allein 19 Monumente-Siegen und jeweils fünf Triumphen bei der Tour de France und dem Giro d’Italia zu übertreffen. Dennoch scheint der Slowene auch jetzt schon nicht mehr nur gegen seine Konkurrenten zu fahren, sondern auch für den Eintrag in die Geschichtsbücher des Radsports. „Ich will der Beste der Geschichte sein“, so hatte es Pogacar gegenüber der „L’Equipe“ schon mal formuliert. Dass er liebend gern alle fünf Monumente gewinnen möchte, was bislang nur drei Fahrern gelungen war, Rik Van Looy, Eddy Merckx und Roger De Vlaeminck, ist allseits bekannt. Daher dürfte sein Start bei Mailand-San Remo ein Fixpunkt in seinem Saisonkalender 2025 sein. Zudem hatte er jüngst verlauten lassen, im kommenden Jahr erneut zwei der großen Landesrundfahrten in Angriff nehmen zu wollen. Wobei allgemein angenommen wird, dass er neben der Tour de France diesmal die Vuelta auswählen wird, weil ein Sieg bei der Spanienrundfahrt in seiner Trophäensammlung noch fehlt.
Die fünf Monumente der Saison 2024
Bei aller Euphorie um Pogacar ist fast etwas in Vergessenheit geraten, dass er bei dreien dieser Top-Events eben nicht auf dem obersten Treppchen gestanden hatte. Bei Mailand-San Remo, der „Classicissima“, wurde ihm vom belgischen Sprinter Jasper Philipsen die Schau gestohlen. Und bei der Flandern-Rundfahrt sowie bei Paris-Roubaix konnte der niederländische Klassiker-Spezialist und Straßenfahrweltmeister des Jahres 2023 Mathieu van der Poel in Abwesenheit des Slowenen die Zahl seiner Monumente-Triumphe auf insgesamt sechs hochschrauben. Gegen Pogacar hatte der von seiner unbändigen Kraft lebende Niederländer bei Lüttich-Bastogne-Lüttich 2024 keine Chance. Der Slowene hatte diesen Klassiker nach 2021 zum zweiten Mal für sich entscheiden können, bei der Lombardei-Rundfahrt gelang ihm 2024 der vierte Triumph in Folge, was zuvor beim „Klassiker der fallenden Blätter“ nur Italiens Ikone Fausto Coppi zwischen 1946 und 1949 gelungen war. Mit einem weiteren Sieg könnte Pogacar zum italienischen Rekordchampion dieses Rennens aufschließen.
„Bester vom Rest“
Obwohl im Fahrer-Sieger-Ranking der UCI erwartungsgemäß die drei Sprinter Tim Merlier (16 Siege), Mads Pedersen (12 Siege) und Jonathan Milan die nächsten Plätze hinter Pogacar belegt hatten, kristallisierte sich im Saisonverlauf der Belgier Remco Evenepoel als einziger ernsthafter Konkurrent des Slowenen speziell bei hügeligen bis bergigen Rennen heraus. Er ist zwei Jahre jünger als Pogacar, hat 2019 gleichzeitig mit dem Slowenen seine Profikarriere begonnen und kann seitdem auf beeindruckende 59 Siege im Rahmen der WorldTour zurückblicken (bei Pogacar sind es 88 Siege). Evenepoel ist ein vielseitiger Fahrer, der ebenfalls als Jahrhunderttalent gehandelt wird. Sein Angriffsstil ähnelt dem seines slowenischen Kontrahenten, aber es fehlt ihm die gnadenlose Explosivität bei der Attacke an steilsten Anstiegen.
Wenn Pogacar wie bei Olympia in Paris nicht am Start ist, braucht Evenepoel keinen Gegner zu fürchten. Und im Zeitfahren galt er lange als unschlagbar. Zwei olympische Goldmedaillen und der WM-Titel 2024 im Zeitfahren waren seine Highlights in der Saison 2024. Wenn er in wichtigen Rennen wie der WM 2024 und der Lombardei-Rundfahrt 2024 in ein direktes Duell mit dem Slowenen gezwungen wurde, war er laut der „FAZ“ der „bedauernswerteste“ Radprofi des gesamten Pelotons. Weil von ihm Wunderdinge gegen den von den Medien zum „Außerirdischen“ erhobenen Slowenen erwartet wurden. Doch nach seinem zweiten Platz bei der Lombardei-Rundfahrt, sagenhafte 3:16 Minuten hinter dem siegreichen Slowenen, zollte er dem Superstar seinen Respekt: „Jeder konnte heute wieder sehen, wer der beste Radfahrer derzeit ist.“ Er habe das für ihn mögliche Maximum erreicht, es sei halt Pech, „dass ein so großartiges Phänomen vor mir war“. Und Jonas Vingegaard? Der Tour-Zweite 2024 wird nach komplettem Auskurieren seiner Verletzungsfolgen im kommenden Jahr zurückkommen. Aber er hat seinen typischen Erfolgsstil, steilste Berge in einem kontinuierlich schnellen Tempo hochzufahren, nicht weiterentwickeln können.
Sein Dauerkonkurrent Pogacar hat sich hingegen in vielen Bereichen deutlich verbessert. Nicht nur bei seinen unwiderstehlichen Antritten in den lang gezogenen Bergen, bei denen er im Unterschied zu vormals die Attacken nicht mehr zu früh setzt, sondern auch im Zeitfahren und in der Anpassungsfähigkeit seines Körpers bei großer Hitze in luftigen Höhen. Wahrscheinlich werden sich bei den großen Rundfahren 2025 Evenepoel und Vingegaard um den zweiten Platz streiten.