Warum muss Energieauftanken immer origineller werden?
In einer Welt, die sich immer schneller dreht und in der unser Kalender bis zum Rand mit Aktivitäten vollgestopft ist, scheint es fast so, als ob die Erholung auch immer ausgefallener werden muss. Neueste Trends überbieten sich geradezu gegenseitig in ihrer Kreativität. Um „zu entspannen“ oder „die Energiereserven aufzuladen“, sollte man offenbar tunlichst eine kleine Entdeckungsreise unternehmen, die gleich eine Stunde und mehr in Anspruch nimmt.
Gehen wir auf einige Beispiele näher ein, etwa Acro-Yoga. Hier ist Teamarbeit gefragt: Einer hebt den anderen in luftige Höhen, und der andere streckt sich, als würde er gerade ein olympisches Turngerät bezwingen. Dabei geht es nicht nur um körperliche Fitness, sondern auch um absolutes Vertrauen. Vertrauen, dass der Partner einen nicht einfach in die nächste Boden- oder Wandkollision schickt.
„Hast du mich sicher?“ „Ja, sicher!“ „Wirst du mich auch nicht fallen lassen?“ „Nein, ich lasse dich nicht fallen!“ Ein bisschen wie „Catch me if you can“ auf achtsamer Beziehungsebene. Es mag ja eine Art von Erholung sein – für die wahrhaft Mutigen und die, die ihre überschüssige Energie mit Akrobatik kompensieren wollen. Aber wer sonst soll sich derart verzweigt entspannen können?
Weiter geht es mit Guerilla-Yoga. Das Prinzip: Das Spannungsfeld zwischen der Stille des Yogas und dem Chaos der Stadt soll maximal intensiv erlebt werden. Dafür machen sich die Jünger des Guerilla-Yogas an ungewöhnlichen Orten, etwa mitten auf einer Einkaufsstraße oder in einem Club, breit – als sei es das Normalste auf der Welt. Glück dem, der dabei nicht von heranrasenden E-Scooter-Piloten übersehen wird oder in den nächsten Straßenmusiker hineinfällt. Und aufgepasst, nicht abnehmen: Es ist nicht das eigene Handy, das da klingelt. Oder doch?
Und dann gibt es noch Doga – hier gibt’s Unterstützung auf vier Pfoten. Geduldig steht der Hund etwa auf dem Rücken des übenden Herrchens, wird von ihm am Bauch massiert oder legt seine Pfoten in dessen Hände, um diese Position für einige Sekunden zu halten. Klar, es klingt niedlich und vielleicht sogar beruhigend, aber muss es unbedingt Kollege Kläff sein, der uns als „professioneller Partner“ zu mehr Achtsamkeit verhilft? Wäre es nicht auch völlig ausreichend, wenn er beim Gassigehen vergnügt durch die Gegend schnüffelt und wir dabei tief durchatmen?
Szenenwechsel: Stand-up-Paddling-Yogis thronen auf einem Surfbrett – und vollführen darauf Übungen, die ein Höchstmaß an Konzentration und Gleichgewicht erfordern. Das Element Wasser, leuchtende Sonnenstrahlen und eine warme Brise Wind am Körper sind die Zutaten für ein ganzheitliches „Body-&-Soul-Feeling“ – so argumentieren die Verfechter dieser Variante. Der wahre Spaß beginnt allerdings erst, wenn der Wind sich entscheidet, heftig zu wehen und die Board-Besatzung zum hektischen Tanz bittet. Wer soll da noch an ausgefeilte Figuren denken können? Der „sterbende Schwan“ bleibt als letzter Ausweg.
All diese Trends haben eines gemeinsam: Sie bieten uns kreative Möglichkeiten, mehr oder weniger den Geist zu beruhigen und neue Energie zu tanken. Doch eine Frage drängt sich unweigerlich auf: Brauchen wir all das? Warum müssen es der Hund, das SUP-Board oder die spontane Yoga-Session auf einem Hochhausdach sein, um wieder zu Kräften zu gelangen?
Manchmal genügt es auch, einfach mal „nichts zu tun“ – bei einer Tasse Tee etwa oder in einem kurzen Moment der Stille. Ein netter Spaziergang oder eine Joggingrunde im Wald, simple Dehnübungen im Garten, während man die Vögel beobachtet – das alles kann genauso erfrischend sein. Die besten Energietankstellen im Leben sind oft die, die wir übersehen, weil wir ständig auf der Jagd nach dem nächsten großen Trend sind – und uns dadurch nur noch mehr stressen. Sowohl bei der endlosen Suche im Netz, die uns von Video zu Video führt, als auch bei der Durchführung immer aberwitzigerer Übungen– vielleicht ja demnächst mit Hund und Freundin auf dem Surfbrett in einem städtischen Brunnen.