Obwohl die schicksalhafte Tragödie, der Pompeji im Jahr 79 n. Chr. zum Opfer fiel, recht gut erforscht ist, kommen immer wieder neue Erkenntnisse zum Vorschein. Das beweist auch das jüngste Beispiel der Entdeckung eines zeitgleichen Erdbebens neben dem Vesuv-Ausbruch.
Die Zerstörung der rund um den Golf von Neapel ansässigen kampanischen Städte Pompeji, Herculaneum, Stabiae und Oplontis im Jahr 79 n. Chr. ist fraglos die bekannteste überlieferte Naturkatastrophe der Antike. Aus heutiger Sicht ist diese Tragödie rund um den schicksalhaften Ausbruch des Vesuvs, bei dem in der rund zehn Kilometer südlich des Vulkans auf einer kleinen Hochebene gelegenen Nobel-Siedlung Pompeji schätzungsweise 2.000 der insgesamt 20.000 Einwohner ihr Leben verloren hatten, ein Glücksfall für die Wissenschaft, vor allem für die moderne Archäologie. Denn unter meterhohen Bergen von Asche, Bimssteinen und anderem vulkanischem Auswurfmaterial wurde das römische Alltagsleben gleichsam wie in einer zeitlichen Momentaufnahme für die Nachwelt konserviert. Kein Wunder, dass die Ausgrabungsstätte von Pompeji, das im 6. Jahrhundert v. Chr. von den Griechen an der Mündung des Flusses Sarno ins Mittelmeer gegründet worden war und danach im Römischen Reich zu einer wohlhabenden, von reichen Bürgern als Sommerresidenz hochgeschätzten und von einer Mauer schützend umschlossenen Stadt mit geschäftigen Hafen auf einer Fläche von rund 60 Hektar aufsteigen sollte, heute nach dem Kolosseum in Rom die zweitwichtigste Touristenattraktion Italiens darstellt.
Seit Jahrhunderten gibt es Untersuchungen
Von den Römern wurde Pompeji allerdings nach der Katastrophe aufgegeben. Der Glanz ihrer Villen, Säulenhallen, Bäder, Tempel oder ihres atemberaubenden Forums gerieten schnell in Vergessenheit. Sie sollten erst rein zufällig im Zeitalter der Renaissance im ausgehenden 17. Jahrhundert beim Bau von Wasserleitungsarbeiten erstmals wieder zum Vorschein kommen. Wissenschaftliche Archäologie war damals natürlich noch unbekannt, allerdings sollte wenig später der aus Stendal gebürtige Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), der Begründer der modernen Archäologie, mit seinen Forschungen und Schriften einen veritablen Hype um Pompeji entfachen. Die freigelegte Relikte sollten zum festen Besuchsprogramm vermögender adliger Reisegesellschaften im Rahmen einer auf die Bereicherung der Bildung abzielenden Grand Tour werden.
Die größten Verdienste um die systematische Erforschung Pompejis erwarben sich dann im 19. Jahrhundert der italienische Monarch Viktor Emanuel II. (1820-1878) und der von diesem Fürsten mit der wissenschaftlichen Erkundung und lückenlosen Dokumentation der Fundobjekte beauftragte italienische Archäologe Giuseppe Fiorelli (1823-1896). Er machte erstmals auch Teile der Ausgrabungsstätte für die breite Öffentlichkeit zugänglich.
Heute gilt Pompeji als wissenschaftlich sehr gut erforscht, Probleme bereiten vor allem die hohen Kosten für den Erhalt und die Restaurierung der freigelegten Objekte sowie die Touristenmassen. Allerdings konnten in den vergangenen Jahren immer wieder mal aufsehenerregende Neuerkenntnisse gewonnen werden. Die wurden zum Teil aber noch immer nicht in den zahllosen aktuellen Publikationen über Pompeji berücksichtigt, was vor allem auf die Datierung der Katastrophe des Jahres 79 n. Chr. zutrifft. Denn seit jeher gilt der 24. August als Pompejis Schicksalstag. Was aus den Schriften des wichtigsten Zeitzeugen, dem römischen Senator Plinius dem Jüngeren (61/62-113/115), abgeleitet wurde, der diesen Termin viele Jahre später in einem Brief an den berühmten römischen Historiker Publius Cornelius Tacitus (58-120) genannt hatte. Allerdings ist dieser wie viele andere Briefe Plinius nur in mittelalterlichen Abschriften tradiert worden, was versehentliche Fehler erklären könnte.
Katastrophe geschah im Herbst 79
Der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio (163-235) hatte den Vulkanausbruch jedenfalls „gegen den Herbst“ datiert. Was sehr gut zu einem Sensationsfund italienischer Archäologen aus dem Jahr 2018 passen würde. Auf einem Graffito an einem Häuserneubau in Pompeji hatte ein unbekannter Arbeiter den „16. Tag vor den Kalenden des November“ notiert, was dem 17. Oktober des Jahres 79 entsprechen würde. Daraus hatten die Forscher den Schluss gezogen, dass die Katastrophe noch nicht stattgefunden haben konnte, sondern sich viel wahrscheinlicher etwa eine Woche später rund um den 24. Oktober 79 ereignet haben könnte. Womit auch viel besser die bei früheren Ausgrabungen gemachten Funde von typischen Herbstfrüchten wie Kastanien oder Granatäpfeln erklärt werden könnten. Auch wenn mit der neuen Datierung die bislang eisern in großen Teilen der Forschung verteidigte Autorität der schriftlichen Überlieferung durch Plinius in Frage gestellt würde. „Mit dem heutigen Tag werden wir möglicherweise die Geschichtsbücher neu schreiben, weil wir den Vulkanausbruch auf die zweite Hälfte des Oktober datieren“, so der damalige italienische Kulturminister Alberto Bonisoli.
Schon Plinius sprach von starken Erdbeben
Trotzdem tauchte in der jüngsten Berichterstattung über die neueste Entdeckung in Sachen Pompeji weiterhin der 24. August als Katastrophendatum noch sehr häufig auf. Bislang hatte in der Forschung wie in der Populärwissenschaft unisono gemeinhin die Ansicht vorgeherrscht, dass der Untergang der Stadt einzig dem verheerenden Vulkanausbruch des Vesuvs geschuldet gewesen war. Obwohl ausgerechnet Plinius der Jüngere, der die Eruption im rund 25 Kilometer entfernten Misenum in relativer Sicherheit beobachten konnte und von einer aufgestiegenen Wolke berichtet hatte, die „ihrer ganzen Gestalt nach nicht anders als ein Baum, und zwar wie eine Pinie“ ausgesehen habe, schon auf einen weiteren ursächlichen Faktor hingewiesen hatte: „Zuvor schon hatte die Erde viele Tage hindurch gezittert, was deswegen wenig beängstigend war, weil man das in Kampanien gewohnt ist.“ In den Jahren zwischen 62 und 79 n. Chr. hatte es rund um den Golf von Neapel tatsächlich verschiedene Erdbeben gegeben, auch noch unmittelbar vor der Tragödie, weshalb die dort heimischen Bürger das Naturspektakel nicht sonderlich ernst genommen hatten. Doch im Herbst 79 war die Stärke des Bebens offenbar doch als große Bedrohung empfunden worden. „Von vielen heftigen Erdstößen wankten die Häuser, gleichsam als seien sie aus dem Boden gerissen. Unter freiem Himmel fürchtete man allerdings das Herabfallen der freilich leichten und ausgebrannten Bimssteine“, so Plinius. Doch dann wurde es offenbar selbst in Misenum noch deutlich schlimmer: „In jener Nacht nahm das Beben so an Stärke zu, dass alles nicht mehr nur zu wanken, sondern umzustürzen schien. Eine fassungslose Menge schloss sich uns an, jenem Instinkt der Flucht gehorchend, der es für klüger hält, fremder Einsicht zu folgen als der eigenen. Und nun drängten und stießen uns die Flüchtenden in endlosem Zuge vorwärts.“
Dass ein den Vulkanausbruch begleitendes Erdbeben einen wesentlichen Anteil am Untergang Pompejis hatte, wurde trotz des Zeugnisses von Plinius in der Wissenschaft nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Ein italienisches Forschungsteam, das jüngst genau diesen Nachweis erbringen konnte, hatte das mit der erheblichen Schwierigkeit erklärt, bei Ausgrabungen spezielle Erdbebenschäden nachweisen zu können. Stattdessen seien bislang sämtliche Zerstörungen in Pompeji allein dem Vulkanausbruch zugeschrieben worden, dessen massive Folgen scheinbar ohnehin jegliche Hinweise auf ein Erdbeben ausgelöscht hatten.
Doch nun haben italienische Forscher des renommierten Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia (INGV), des Vesuv-Observatoriums und des Archäologischen Parks Pompejis unter Federführung des INGV-Vulkanologen Domenico Sparice, seines Kollegen Mauro Di Vito und des deutsch-italienischen Archäologen und Direktors des Archäologischen Parks Gabriel Zuchtriegel sowie mit Einbeziehung eines breiten Kreises von Experten aus Archäologie, Vulkanologie, Anthropologie und Geologie einen Sensationsfund gemacht, mit dem erstmals auch der Seismologie bei der Tragödie eine wichtige Rolle zugesprochen werden konnte. Die Ergebnisse ihrer aufwendigen, geradezu kriminalistischen Studie wurden jüngst im Fachjournal „Frontiers in Earth Science“ veröffentlicht.
Der Ablauf der Katastrophe ist zwar größtenteils bekannt, wird aber dennoch weiterhin wissenschaftlich untersucht. Bei der ersten Eruption wurde die Kappe aus erstarrter Lava vom Schlot des Vesuvs gesprengt. Aufgrund des Druckabfalls wurde eine gashaltige und zähflüssige Gesteinsschmelze in die Luft geschleudert. Es entstand eine bis zu 30 Kilometer hohe Säule aus Gas und Asche über dem Vulkanschlot. Teile davon erstarrten zu porösen Bimsbrocken, die vom Wind über die umliegenden Städte verteilt wurden. Es regnete in dieser ersten schätzungsweise 18 Stunden dauernden Ausbruchsphase regelrecht Bimssteine, die alles unter einer bis zu drei Meter hohen Schicht begruben. Wer sich im Freien aufgehalten hatte, hatte eigentlich keine Überlebenschance. Es blieb nur die Flucht in die Häuser. Nachdem die Eruptionssäule des Vesuvs zu kollabieren begann, kam es zur Bildung tödlicher Lava-Lawinen aus Gas, Asche und Glut, die in Gestalt der sogenannten pyroklastischen Ströme mit Geschwindigkeiten von hunderten Stundenkilometern den Vulkan herabströmten und Städte wie Pompeji unter sich begruben. Doch es kam am Schreckenstag eben nicht nur zu Eruptionen, sondern auch zu heftigen Erdbeben. „Wir haben eigenartige Auffälligkeiten gefunden“, so der Vulkanologe Mauro Di Vito, „die nicht zu den Auswirkungen vulkanischer Phänomene passten, die in der Literatur über Pompeji beschrieben werden. Es musste eine andere Erklärung geben“.
Konkret ging es dabei um die Entdeckung zweier männlicher Skelette, die zum Zeitpunkt ihres Todes etwa 50 Jahre alt gewesen waren. Der Fundort waren dabei zwei Räume in einem auf die Bezeichnung Casa dei Pittori al Lavoro (= Haus der Maler) getauften Gebäude, das Bestandteil eines zentralen Häuserblocks namens „Insula der keuschen Liebenden“ gewesen war, weil man dort einst ein Fresko mit dem Motiv zweier sich küssender Menschen freigelegt hatte. Die Position der Skelette und das Muster ihrer durch schwere Brüche gekennzeichneten Knochenverletzungen, aller Wahrscheinlichkeit nach noch ergänzt durch traumatische Verletzungen, ließen sich nicht als direkte Folgen des Vulkanausbruchs erklären. Durch extreme Hitze oder das Einatmen von glühend heißer Asche waren sie jedenfalls nicht verstorben.
Fund zweier Skelette stützt Theorie
Nach genauer Untersuchung der Ablagerungen, die wohl durch die Fenster in die beiden Räume eingedrungen waren, fand das Forscher-Team heraus, dass die beiden Skelette nicht von der Bimsschicht bedeckt waren, sondern dass sie auf dieser Schicht lagen. Daraus hatten die Wissenschaftler geschlossen, dass die beiden Männer die Anfangsphase des Vulkanausbruchs mit dem Bimsregen überlebt und in dem noch intakten Haus Schutz gesucht hatten. Sie fanden erst den Tod, als das ohnehin schon durch den Sedimentregen belastete Gebäude infolge des Erdbebens eingestürzt war. Die Forscher konnten jedenfalls anhand der Untersuchung der Bausubstanz eine Verschiebung der Mauern dokumentieren. An den Skeletten konnten keinerlei Hinweise auf Erstickung oder Brandspuren durch die pyroklastischen Gas- und Ascheströme festgestellt werden. Vielmehr ähnelten die schweren Verletzungen, Knochen- und Schädelbrüche genau jenen, die Menschen auch heute noch bei Erdbeben zu erleiden pflegen.
Eines der Opfer wurde laut den Forschern durch den Einsturz eines großen Mauerfragments erdrückt und war sofort tot. Das zweite Opfer hatte letztlich vergeblich versucht, sich mit einem runden Holzgegenstand vor den einstürzenden Wänden zu schützen.
„Die Menschen, die nach dem Ascheregen in den schützenden Räumen blieben“, so die Wissenschaftler, „fielen dem vom Erdbeben verursachten Kollaps der ohnehin schon überlasteten Gebäude zum Opfer – auch die beiden jetzt entdeckten Männer.“ Möglicherweise waren die beiden Männer nicht die einzigen Unglücklichen, die durch das Erdbeben ihr Leben verloren hatten, auch wenn die meisten Opfer sicherlich durch die Glutlawinen mitsamt ihrer giftigen Gasen umgekommen waren. Bei den bislang im Pompeji aufgefundenen insgesamt 345 Überresten von Menschen wurden keine Untersuchungen über mögliche seismologische Ursachen angestellt. „Wir haben bewiesen, dass die Seismizität während des Ausbruchs eine wichtige Rolle bei der Zerstörung von Pompeji spielte und möglicherweise die Entscheidung der Pompejer beeinflusste, die mit dem unvermeidlichen Tod konfrontiert waren“, so der Vulkanologe Domenico Sparice. „Diese komplexen Zusammenhänge sind wie ein Puzzle, bei dem alle Teile zusammenpassen müssen, um das komplette Bild zu entschlüsseln.“ Die italienischen Forscher gehen davon aus, dass sich das Erdbeben nach der ersten Phase des Vulkanausbruchs ereignete, aber bevor die Glutlawinen durch Pompeji gefegt waren.