Kommen jetzt die großen Stars in die Alte Försterei? Eher nicht. Union Berlin will trotz der Champions-League-Millionen keinen anderen Kurs auf dem Transfermarkt einschlagen. Auch das Haupt-Saisonziel bleibt dasselbe.
Der 31. August – diesen Tag haben sich alle Eisernen im Kalender rot angestrichen. In der Uefa-Zentrale in Nyon/Schweiz werden die acht Gruppen der neuen Champions-League-Saison 2023/24 ausgelost. Und der Name „1. FC Union Berlin“ wird sich in Lostopf 4 befinden. Vermutlich wird es für Fans, Verantwortliche und Spieler auch dann noch surreal klingen, wenn bei der Ziehung Namen wie Real Madrid, FC Liverpool oder Paris Saint-Germain in der Union-Gruppe auftauchen. Sehr wahrscheinlich wird bei der Auslosung Oliver Ruhnert als Union-Repräsentant auf der Tribüne sitzen, und der Geschäftsführer dürfte sich während der Zeremonie das ein oder andere Mal zwicken müssen. Union ein Teil der Champions League? Gerade mal vier Jahre nach dem Aufstieg in die Fußball-Bundesliga?
Der märchenhafte Aufstieg des langjährigen Zweitligisten wird auch an der Person Oliver Ruhnert festgemacht. Der Ostwestfale musste seit seinem Aufstieg 2018 vom Chefscout zum Sportlichen Leiter bei Union Jahr für Jahr einen Umbruch managen, weil Leistungsträger den Club immer wieder verlassen hatten. So weit, so gewöhnlich. Doch das Besondere daran: Ruhnert gelang es im Zusammenspiel mit seinem Team und Trainer Urs Fischer, dass die Mannschaft dennoch alljährlich besser wurde. Gelingt ihm das mit den Millionen aus der Königsklasse erneut? Oder stellen die neuen (finanziellen) Dimensionen am Ende gar ein Problem dar? „Mit viel Geld kannst du auch viel Blödsinn anstellen“, glaubt Mittelfeldspieler Rani Khedira: „Das kann auch in zwei Richtungen gehen, das muss man ganz klar ansprechen.“ Allein mit dem garantierten Startgeld von der Uefa in Höhe von rund 16 Millionen Euro könnte Union einiges auf dem Transfermarkt bewegen – doch Khedira hofft auf Bewährtes. Die Verantwortlichen im Verein hätten „in den letzten Jahren genug bewiesen, dass sie keine unvernünftigen Dinge machen, dass sie demütig bleiben“.
Neue finanzielle Dimensionen
Genau das hat Ruhnert weiterhin vor. Fertige Stars werden auch in der kommenden Saison eher nicht in der Alten Försterei auflaufen. „Für sechs Champions-League-Spiele werden wir nicht unsere Identität aufgeben“, betonte der Geschäftsführer. Auch, weil das Geld teilweise in die ambitionierten Strukturprojekte wie den Stadionumbau und das neue Trainingszentrum fließen soll. Nun massiv in Beine zu investieren, damit die Chancen auf hohe Erfolgsprämien in der Champions League und die erneute Qualifikation für den lukrativen Wettbewerb steigen – das kommt für Union nicht infrage. Diese Wette auf die Zukunft hat schon Ruhnerts Ex-Club Schalke 04, bei dem er einst Scout und Direktor der vielgepriesenen Knappenschmiede war, fast in den Ruin getrieben. Union will die Highlight-Spiele in der Champions League genießen und so konkurrenzfähig wie möglich antreten – aber eben nicht um jeden Preis.
„Demütig zu bleiben, ist ja – auch in den vergangenen Jahren – immer unser Credo gewesen“, erinnerte Ruhnert: „Wir wissen, dass wir letztendlich immer wieder von vorne starten, eine Herausforderung zu bestreiten.“ Die neue Herausforderung ist vor allem deshalb so kniffelig, weil das viele Geld verführerisch sein kann – auf beiden Seiten des Verhandlungstisches. Natürlich wissen auch abgebende Vereine und Berater, dass demnächst viel Geld auf das Union-Konto fließen wird. Aber Union will sich davon nicht unter Druck setzen lassen und auch mal „nein“ sagen, sollten die Forderungen den selbst gesteckten Rahmen sprengen. So wie schon in der Winterpause beim spektakulär gescheiterten Deal mit dem spanischen Welt- und Europameister Isco.
„Da ist es ganz sinnvoll nach dem Motto zu handeln: ‚Schuster bleib‘ bei deinen Leisten.‘“, beschrieb Ruhnert seine Vorgehensweise. Wichtiger als große Namen seien bei Transfers weiterhin die Begeisterungs- und Integrationsfähigkeit des Spielers. „Wir wollen hier Jungs haben, die den Zuschauern Spaß machen und auch dem Club, weil sie alles für uns investieren und geben“, erklärte Ruhnert. Die Champions League sei für alle eine „riesige Herausforderung“, doch sie ändere nichts an der Strategie. Und auch nichts am Hauptziel für die kommende Saison. Das lautet – so ungewöhnlich es für einen Champions-League-Teilnehmer auch klingt – erneut Klassenerhalt.
„Es wird Sie vermutlich wieder überraschen, aber auch in der nächsten Saison werden wir mit dem Ziel starten, die Klasse zu halten“, sagte Clubpräsident Dirk Zingler bei der Saisonbilanz-Pressekonferenz Ende Mai. Ruhnert und Trainer Fischer saßen neben ihm und nickten zustimmend. „Die Kernaufgabe wird auch im kommenden Jahr Bundesliga heißen“, bestätigte der Geschäftsführer: „So planen wir, und so gehen wir es an.“ Das Minimalziel hätte auch den Vorteil, dass sich alle Mitarbeiter damit identifizieren könnten und nicht anfangen müssten „sich zu verändern, weil wir uns plötzlich anders sehen“. Denn ein Champions-League-Club ist Union nur wegen der einen Saison in der Champions League noch lange nicht. Im Ligavergleich dürften die Berliner mit ihrem Spieleretat einen Mittelfeldplatz belegen.
„Haben viele Dinge zu entscheiden“
Dort am Ende zu landen, wäre zwar tabellarisch ein Rückschritt. Aber allen im Verein ist klar, dass die Erfolgsserie irgendwann reißt. Entsprechend muss gewirtschaftet und gearbeitet werden – auch auf dem Transfermarkt. Ruhnert sieht sehr stressige Monate auf sich und sein Team zukommen. „Wir haben einen sehr aufwendigen Transfersommer vor uns. Wir haben viele Dinge zu entscheiden.“ Er wolle nur Spieler verpflichten, die das Team auch qualitativ nach vorne bringen können, doch solche Profis sind auch bei anderen Clubs begehrt. Geduld dürfte gefragt sein, noch mehr als zuvor. „Wir werden, glaube ich, eine etwas andere Situation haben als in den Jahren vorher“, sagte Ruhnert, der Trainer Fischer wohl nicht alle Wünsche erfüllen kann. Und vor allem nicht sofort. „Ich weiß nicht, ob unser Kader zum Trainingsauftakt so vollständig sein wird, wie wir uns das wünschen.“
Kurz nach Saisonende stand lediglich die feste Verpflichtung des bislang von Bayer Leverkusen ausgeliehenen Torhüters Lennart Grill fest. Offiziell verabschiedet wurden dagegen Levin Öztunali, Niko Gießelmann, Tim Maciejewski und Timo Baumgartl. Sowohl auf der Zugangs- als auch Abgangs-Seite wird noch reichlich Bewegung kommen, doch das Gerüst für die kommende Saison steht. Torhüter Frederik Rönnow, Abwehrchef Robin Knoche und Mittelfeld-Stabilisator Rani Khedira bilden weiterhin eine verlässliche Achse. Zu der gehört eigentlich auch Stürmer Sheraldo Becker, doch der liebäugelt mit einem Wechsel. Woanders kann Unions Topscorer sehr wahrscheinlich mehr Geld verdienen, aber die Perspektive Champions League können ihm die meisten Interessenten nicht bieten. Zudem ist Union nicht auf einen Verkauf angewiesen, es müsste schon ein sehr verlockendes Angebot einflattern.
So oder so: Oliver Ruhnert wird sich alles anhören, abwägen und dann im Sinne des Vereins entscheiden. So wie in den Jahren zuvor auch. In der Branche wird ihm für die bisherige Arbeit großer Respekt gezollt. „Ich bin so erschlagen von den unzähligen Glückwünschen und konnte leider noch nicht alle beantworten“, berichtete Ruhnert.