Idyllische Seen, eine riesige Burganlage, eine ausgedehnte Auenlandschaft – Entdeckungen auf dem Radweg von Salzburg nach Passau.
Plötzlich liegt der Trubel Salzburgs hinter mir. Noch in der Stadt hat der Fluss zur Linken des Radwegs mit seinem Rauschen die akustische Dominanz übernommen. Nach starkem Regen der letzten Tage eilt die Salzach in ungestümen braunen Wogen dahin. Rechts vom Weg führt die Trasse der Salzburger Lokalbahn nach Norden. Der erste größere Ort nach ein paar Kilometern ist Oberndorf. Nur wenige Meter neben dem Radweg steht die kleine runde Stille-Nacht-Kapelle. An dieser Stelle erklang 1818 das berühmteste Weihnachtslied der Welt zum ersten Mal.
Hier in Oberndorf zieht die Salzach eine Flussschleife, mit der sie das bayerische Laufen am anderen Ufer umarmt. Früher einmal waren die beiden Orte eine einzige Gemeinde des Fürsterzbistums Salzburg. Ab hier läuft der Radweg schnurgerade am Fluss dahin und wird mit der Zeit etwas eintönig. Ein Grenzstein taucht auf, ich wechsle vom Bundesland Salzburg nach Oberösterreich.
Bio-Bier vom Bauer-Brauer
Ein paar Hundert Meter weiter ein Hinweisschild zum „Stiegl-Gut Wildshut“: Eine Salzburger Familie, der eine Brauerei in der Stadt gehört, hat einen Gutshof erworben und lässt darin Bio-Bier brauen. Gleich daneben wachsen die Rohstoffe: alte Getreidesorten und Hopfen in Bio-Qualität. Hier wird die Synergie Bauer-Brauer wiederbelebt. Nachhaltig bis ins Detail will das Biergut sein, von der Ladestation fürs Vehikel bis zur eigenen Lokalbahnstation. Und selbst das Wasser stammt aus einer Quelle auf dem Grundstück.
Es ist dunkel geworden, im Mondlicht kurve ich über Nebenstraßen zur Übernachtung in einem Landgasthof. Als ich frühmorgens zum nahen Höllerersee aufbreche, liegt Nebel wie dampfender Atem über dem dunklen Wasser.
Von hier strebe ich dem Ibmer Moor zu, Österreichs größter zusammenhängender Moorlandschaft. Ein Schwarm Graugänse zieht in keilförmigem Flug über mich hinweg, sonst ist es still. Birken ragen aus eisenbraunen Wasseradern im Moos. Ein Brettersteg führt über federnden Waldboden durch niedriges Gehölz. Später komme ich am Holzöstersee vorbei, dem angeblich wärmsten See weit und breit. Und tatsächlich plantscht darin jemand trotz niedriger Außentemperaturen.
Auf einem Hügel über der Salzach thront Sankt Radegund. Ein weiß gestrichener Bauernhof, an dem sich wilde Rosen emporranken, liegt in einer Wiese mit Apfelbäumen: Das Haus des von der katholischen Kirche selig gesprochenen Kriegsdienstverweigerers Franz Jägerstätter, der 1943 hingerichtet wurde. Hinter dem Ort beginnt der dunkle Weilhartsforst. Nach ein paar Kilometern habe ich in der kleinen Gemeinde Ach wieder das Salzachufer erreicht. Vom Hotelzimmer bietet sich ein unvergleichlicher Blick auf die riesige Burganlage von Burghausen am anderen Ufer.
Die einheitliche Bauweise ist ein Markenzeichen entlang des Inn, denn die alten Häuser in den Tiroler Städtchen sehen denen hier sehr ähnlich: Schmal, mit hohen Giebeln. Der Stadtplatz von Burghausen passt in seiner Ausdehnung zur langgestreckten Burg darüber. Burghausen gehört zum bayerischen Chemiedreieck, in der Stadt haben die Wacker-Chemie und die österreichische OMV ihre Standorte. Das Bruttoinlandsprodukt der Stadt liegt bei bis zu neun Milliarden Euro.
Für die mehr als einen Kilometer lange Burg, in der heute noch gewohnt und gearbeitet wird, sollte man etwas Zeit reservieren, um sich durch die fünf Vorhöfe bis zur Hauptburg vorzuarbeiten. Von Hof zu Hof wird es historisch vornehmer, bis zur Residenz der Herzöge. Im alten Stadtteil Grüben zieht alljährlich die internationale Jazzwoche ein: Von Lionel Hampton bis Oscar Peterson scheinen alle Jazzgrößen der Geschichte in Burghausen gewesen zu sein, wie sich an Namensplatten in der Straßenpflasterung ablesen lässt. Sonst aber ist Burghausen eine beschauliche Stadt.
Ein schmaler Waldweg führt ein paar Hundert Meter vom Stadtzentrum entfernt zum Salzachdurchbruch: Der Fluss zwängt sich an einem Steilhang vorbei, der an die Kreidefelsen von Rügen erinnert, so bleich und ausgewaschen wie er aus dem Wasser ragt. Das Rad muss nun dort hinaufgetreten werden, denn oben verläuft der Weg weiter, alsbald nur noch als Radstreifen einer stark befahrenen Straße. Immerhin gibt ein Rastplatz im Wald den Blick frei, hinunter auf die ausgedehnte Auenlandschaft des Zusammenflusses von Salzach und Inn: Eine weite Fläche unberührter Wasserläufe und kleiner Inseln, auf denen ungestört unzählige Vögel leben.
Nur wenig weiter liegt der Inn plötzlich starr, fast bedrohlich da, aus dem Wasser ragen Baumstümpfe und tote Äste wie ein apokalyptisches Gemälde. In der Ferne zeichnet sich das Wasserkraftwerk Braunau-Simbach ab. Der einsame Radweg auf der Dammkrone und die unbewegliche Wasserfläche neben mir vermitteln ein unbehagliches Gefühl. Hinter der Staustufe liegt Braunau am Inn. Die Grenzstadt bietet ein Glockenspiel im Stadttorturm, den sechsthöchsten Kirchturm Österreichs, ein mittelalterliches Badehaus und den Kerker, in dem ein Nürnberger Buchhändler unter Napoleon schmachtete.
Barocke Klosteranlage über dem Fluss
Die Etappe des nächsten Tages erlaubt wenige Pausen, denn ich möchte um 14 Uhr die Schiffsrundfahrt in Schärding erreichen. Wie geplant schaffe ich es zu Mittag bis zum Augustiner-Chorherrn-Stift Reichersberg, einer großzügigen barocken Klosteranlage über dem Fluss. Ein kurzer Blick, dann eile ich weiter, der nächsten Grenzstadt, Schärding, entgegen. Gerade noch rechtzeitig erreiche ich die Anlegestelle und springe als letzter Passagier an Bord.
Der friedlich dahingleitende Inn ist nicht immer friedlich, das zeigen die Hochwassermarken an den Häusern der Stadt. Die Menschen hier leben mit Überschwemmungen. Verursacht werden sie durch den einst wegen seiner Wirbel gefürchteten Inndurchbruch ein Stück stromabwärts Richtung Passau, zwischen Teufelstein und Räuberstein. Die Flussbreite verringert sich da von 300 auf 60 Meter.
Am Abend sitze ich mit dem Schärdinger Unternehmer Hermann Zebisch im „Restaurant Wassertor“ und schaue über den Fluss ins Bayerische. Er erzählt mir, dass es in Schärding einmal 14 Brauereien gegeben hat und dass die Farbe der bunten Häuser rund um den Stadtplatz früher Signalwirkung hatte: Rot waren die Häuser der Metzger, in blauen waren die Bäcker daheim, grün waren die Gasthöfe und Brauereien. Und mitunter ist das bis heute so geblieben. Am nächsten Tag wird mich der zahme, wilde Inn auf meiner letzten Etappe nach Passau begleiten.