Okapis und Schimpansen, Pygmäen und eine eiserne Lady: Afrikas größter Regenwald erstreckt sich in der Demokratischen Republik Kongo. Unser Reporter reiste quer durchs Land und 1.734 Kilometer auf dem Fluss Kongo durch eine nur selten besuchte Dschungel-Welt.
Hier und heute schenkt einem das Leben nur die besten Erinnerungen. Das Schiff schaukelt über einen Ozean aus Wasser, Schilf und Sandbänken, der bis an den im Abendrot leuchtenden Horizont reicht. Es läuft eine Art Panoramafilm, aber in Überlänge, ein Streifen voller Dschungel-Grün und Kongo-Blau. Dann ist zu hören, dass Musiker Trommeln schlagen, versteckt im undurchdringlichen Dickicht. Erst geht es wild durcheinander. Dann verschmilzt alles zu einem pochenden Rhythmus, dem Herzschlag von Afrikas größtem Regenwald.
Insel um Insel zieht vorbei, der Kapitän steuert durch ein Labyrinth aus Wasser und Untiefen. Fast 20 Kilometer breit macht sich der Kongo in seinem Mittelteil, weshalb man ihn einst „Nzadi“ nannte – den „Fluss, der alle Flüsse schluckt“. Nachts ist hier freiwillig niemand mehr unterwegs, auch wegen der Frauen mit dem Fischschwanz, die mit ihrem Gesang und ihren Reizen schon viele Fischer verzaubert und für immer mitgenommen haben in die Geisterwelt.
Als es also höchste Zeit wird, im letzten Licht des Tages ein Quartier zu suchen, lösen sich Dutzende von Einbäumen von einem Ufer. Mit aller Kraft paddelt eine Schar halbnackter Kinder hinaus auf den Fluss und hat noch genügend Energie, um laut „Muzungu! Muzungu!“ zu rufen, damit das ganze Dorf Bescheid weiß über das vorbeifahrende Schiff mit den Weißen an Bord. Die Alten strömen aus den mit Palmblättern bedeckten Holzhütten. Sie winken: Wir sollen anlegen!
Der Fluss vermag zu verzaubern
1.700 Flusskilometer sind es auf dem Kongo von Kisangani nach Kinshasa an Bord einer rustikalen Baleinière, ausgestattet mit einem Plumpsklo im Heck und einer vier Quadratmeter großen Küche, wo unter vielen Tränen Tag für Tag ein Wettbewerb abgehalten wird, wer die schärfste Chillisauce der Welt mischt. Zwei Motoren sollten eigentlich dafür sorgen, dass das Schiffchen mit zwölf Stundenkilometern vorankommt. Doch weil der Mechaniker Ersatzteile verkauft hat, als der Chef einmal nicht aufpasste, funktioniert oft nur einer. Gestern saßen wir auf einer Sandbank fest, weil die Zündkerzen nicht gereinigt worden waren. Reparaturen beginnt man hier gerne mit stundenlangem Hypnose-Starren, bevor ein Stück Jeans den schwächelnden Generator wieder zum Leben erweckt. Nur das Bier wird definitiv nicht ausgehen – dafür hat Schiffseigner Michel van Roten gesorgt, ein Kette rauchender und gerade von Malaria geplagter Belgier, der ab und an den Wahnsinn wagt, Touren ins Herz des Kongo-Beckens zu organisieren.
Letzte Orte sind selten geworden auf der Welt, und so sucht man auf Reisen umso begieriger nach den verbliebenen weißen Fleckchen, findet Einkehr in der Leere der Wüste oder in den Bergen, wo sich die Spuren der Vorgänger schnell im Schnee verlieren. Doch im schwarzen Herz Afrikas gibt es einen Fluss, einen mächtig großen, 4.700 Kilometer langen Fluss, der ein Areal von der Fläche Europas entwässert. Er erinnert an eine ungeheuer lange Schlange, mit ihrem Kopf im Atlantik, ihrem Leib in ruhigen Windungen weit über ein riesiges Land gestreckt, und einem Schwanz, der sich tief im Inneren des Kontinents verliert.
Und dieser Fluss hat die Macht, Menschen zu verzaubern und in seinen Bann zu schlagen – so wie eine Schlange ein dummes kleines Vögelchen. Erst Henry Morton Stanley, der Ende des 19. Jahrhunderts Afrika als erster Weißer von Ost nach West durchquerte und dem Lauf des Kongos bis zum Ozean folgte, eine Reise von fast 1.000 Tagen, die etwa 250 seiner Begleiter das Leben kostete. Viele Krisen, Katastrophen, Kleptokraten und Kriege später ist die Sicherheitslage im Osten des Landes aktuell so prekär, dass an Reisen nicht mehr zu denken ist.
Doch es gibt auch Menschen, die ausharren. In Epulu, auf dem Weg von der Grenze mit Uganda zum Kongo, erwartet einen Rosmarie Ruf, die Eiserne Lady des Ituri-Regenwalds. Die Schweizerin kämpft hier seit Menschengedenken für das Überleben der Okapis. Von den scheuen Waldgiraffen streifen nur noch wenige tausend Tiere durch das Reservat, inzwischen ein Unesco-Weltnaturerbe. „In den 70er-Jahren kam ich mit meinem Mann nach Zentralafrika: Präsident Mobutu brauchte Leute, die sich um seinen Privatzoo kümmerten.“ Mit dem Segen des Leopardenmanns brachten die Rufs eine Forschungsstation wieder zum Laufen und begannen mit der Zucht der Säugetiere, die mit ihren schwarz-weiß gestreiften Beinen an Zebras erinnern, aber Blätter zupfen wie Giraffen.
Wenn gefangene Tiere Futter brauchen, sammeln das die Mbuti-Pygmäen, die im Regenwald zu Hause sind und für den Eigenbedarf im Reservat jagen dürfen. Vier Stunden stapft man von der Forschungsstation entlang des Flusses Epulu durch den Dschungel, wo sich Affen in den Ästen wiegen und Papageien laut krächzend in den Wipfeln rasten. Dann steht man vor dem Pygmäen-Camp: Mit Blättern gedeckte Unterstände, die vor Regen schützen und die Glut des Feuers erhalten. Wir bringen Reis und Bohnen als Geschenk, verbringen die Nacht im feuchten Dunkel des Waldes, und dürfen die Ureinwohner dann beim Jagen beobachten. Zwar machen wir Besucher vermutlich einen Lärm wie eine Herde Elefanten, doch trotzdem verfängt sich eine kleine Antilope im aus Lianen gefertigten Netz.
Tierhändler wollen die „Ware“ verkaufen
In Kisangani, dem früheren Stanleyville, trifft man auf den Kongo und die Wagenia-Fischer. Mitten im Fluss balancieren sie auf einer Holzkonstruktion über gischtenden Stromschnellen, um geflochtene Reusen in den Fluten zu versenken. Wir über- und erleben auf unserem knarzenden Schiff einen Sturm, der über dem Fluss tobt und meterhohe Wellen aufschaukelt, als stehe das Ende der Welt bevor – wer im Kongo unterwegs ist, scheint mit der Zeit anfällig zu werden für apokalyptische Visionen.
Ein beklemmendes Gefühl vermittelt auch hoch über dem Fluss ein alter Palast von Joseph-Désiré Mobutu, der sich als „Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu wa za Banga“ anreden ließ, als „Der allmächtige Krieger, der wegen seiner Ausdauer und dem unbeirrbaren Willen zu siegen von Sieg zu Sieg geht und Feuer hinter sich zurücklässt“. Doch des Diktators Party ist lange vorbei: Die Panoramatapete aus dem Elsass, einst in Handarbeit von der Manufaktur Zuber gefertigt, ist das letzte erhaltene Stück Inventar. Bald wird hier eine Schule einziehen. Doch vielleicht kommt es auch ganz anders – im Kongo weiß man nie.
Die Fauna des Dschungels – im Kongo-Becken wächst der größte Regenwald der Welt nach dem Amazonas-Gebiet – sieht man kaum. Einmal macht ein Kanu am Schiff fest, sein Besitzer will einen toten Affen verkaufen. Für Einheimische ist das eine Delikatesse, doch bei uns steht Bush Meat nicht auf dem Speiseplan. Im Fischerdorf Mikania hat ein Floß festgemacht, das Tropenholz viele hundert Kilometer weit zu einer Sägerei bringen soll. Auch ein Tierhändler fährt mit. Er bringt eine Kobra und ein Schimpansen-Baby in die Hauptstadt – ein paar Dollar Profit wird das schon bringen. Was mit der Mutter passiert ist? „Peng! Und dann aufgegessen“, sagt er. Und der Kleine? „Es gibt in Kinshasa viele Generäle, die Lust haben auf ein solches Spielzeug.“ Wenn man den Primaten in den Arm nimmt, klammert er sich fest, fiept leise, und will nicht mehr loslassen.
Auch für legale Transporte ist der Kongo die Lebensader des Landes. Tausende von Menschen drängen sich auf Bargen: Schwimmende Slums, die fünf Wochen brauchen für die schiffbaren 1.734 Kilometer von Kinshasa nach Kisangani. Wenn es schlecht läuft, weil die überladenen Gefährte auf Sandbänke auflaufen, werden Monate daraus. Manchmal schafft es ein Traveller auf einen Seelenverkäufer und bekommt für 150 Dollar die Kabine des Kapitäns. Ein echtes Abenteuer. Bis an Bord die Cholera ausbricht und das Schiff unter Quarantäne gestellt wird.
Fremd, wild und voller Geheimnisse
Mit einem kleineren Schiff kann man immerhin stoppen, wenn am Ufer rostende Flussdampfer aus der Kolonialzeit auftauchen oder verfallene Backsteingebäude, die den Schluss zulassen, dass es hier tatsächlich einmal etwas gegeben haben muss, das es zu verwalten gab. Wir erkunden in Yangambi eine Forschungsstation, die bald komplett überwuchert sein wird vom Dschungel. Und dann, zum ersten Mal seit Beginn der Reise, steht in dem Dorf auf der kleinen Insel mitten im großen Kongo einmal keine Armada an Uniformierten am Ufer, sondern nur der Chief samt Clan, alle mit einem Lächeln.
Zwischen den Hütten der Kongolesen wächst unser Zeltcamp empor. Nur Francine hat Angst: Die Köchin versteckt sich in der Kombüse, bis ihr Kollege André einen Riesenwels erwürgt hat, der auf dem Deck wild um sich schlägt. Das kommt gut an, denn sonst hätte es gleich wieder Spaghetti à la Corned Beef gegeben, so wie schon gestern und vorgestern und vorvorgestern, als es am Ufer nur Maniokmehl zu kaufen gab. Wenn man dann nach der letzten Zigarette dem Schlaf näherkommt und den Reißverschluss des Schlafsacks zuzieht, erschöpft nach einem langen Tag, denkt man an Henry Morton Stanley. Ist der Kongo nicht immer noch so fremd, wild und voller Geheimnisse wie vor mehr als 100 Jahren, als der viktorianische Entdecker hier unterwegs war?
Alles ist groß – das Land, der Fluss, die Emotionen, die Probleme. So empfängt einen nach einem Monat im und auf dem Kongo auch Kinshasa nicht einfach nur mit einer flüchtigen Umarmung. Die Viele-Millionen-Stadt rühmte man einst als „Kin, la Belle“ – Kinshasa, die Schöne. Heute nennen sie diejenigen Kongolesen, die noch lachen können, lieber „Kin, la Poubelle“, Kinshasa, der Mülleimer.
Wer hier abends ankommt am Hafen von Kinkole und hineinfährt in die vom Dunst der Holzkohlefeuer bemützte Metropole, hört ihn wieder schlagen, den Puls des Landes. Doch dieses Mal pocht er nicht versteckt im Wald, sondern mitten auf der Straße. Das Herz klopft nicht sanft, regelmäßig und fast unhörbar wie das einer normalen Stadt, die gerade in nächtlicher Schläfrigkeit versinkt. Sondern laut und ungestüm, im Rhythmus des kongolesischen Rumbas, der keine Pause zulässt. Der Kongo ist überschwänglich im Leben wie im Untergang. Und heute, bei der letzten Nacht vor der Abreise, tanzt Kinshasa, als gebe es kein Morgen. So gewinnt zur Abwechslung einmal das Leben.