Jürgen Stange betreibt im brandenburgischen Teltow die letzte Manufaktur in Deutschland, die Schleifen und Krawatten herstellt. Warum er trotz Billigkonkurrenz aus Asien positiv in die Zukunft blickt, erzählt der Betreiber bei einem Werkstattbesuch.
Mich sieht man niemals ohne Schleife, außer, ich liege in der Badewanne oder im Bett“, sagt Jürgen Stange mit einem Augenzwinkern. „Sie ist das Letzte, was man anzieht und das Erste, was man sieht.“ Der 81-Jährige ist ein Mann wie aus dem Ei gepellt: Blank gewienerte Schuhe, eine maßgeschneiderte Weste über dem Hemd und natürlich die selbstgebundene Schleife am Kragen. Mehr als 120 verschiedene Modelle hängen bei ihm zu Hause im Kleiderschrank, heute hat er sich für eine grün-rotkarierte entschieden und liegt damit voll im Trend. Das weiß er wie wohl kein Zweiter, denn Jürgen Stange ist Betreiber der im brandenburgischen Teltow ansässigen letzten Manufaktur in Deutschland, die Schleifen und Krawatten herstellt. Zigtausende im Jahr, jedes Stück ein Unikat. Trotz der Billigkonkurrenz aus Asien läuft das Geschäft gut, insbesondere das mit den Schleifen. Vor allem modebewusste und kreative Menschen tragen sie. Stange verzichtete bewusst auf das Wort „Fliege“. Eine Fliege ist ein Insekt oder bestenfalls der Name für Billigprodukte aus Asien, die den Markt überschwemmen. „Fliegen sind ‚genagelt‘, also nicht aufzumachen“, erklärt er. „Eine nicht selbst gebundene Schleife ist für mich ein Faschingsartikel.“
Jürgen Stange, der mit Stoffen und Krawatten aufgewachsen ist, führt die Familientradition heute in zweiter Generation fort. Sein Vater gründete 1934 in Berlin-Mitte eine Krawattenmanufaktur. Damals gab es allein in dieser Stadt mehr als 40 solcher Betriebe. Als Jürgen, der weder mit der Firmenphilosophie noch mit der Autorität seines Vaters zurechtkam, 1972 in Berlin-Zehlendorf sein eigenes Unternehmen gründete, waren davon noch sechs übrig. Der damals 30-jährige gelernte Industriekaufmann für Herrenoberbekleidung ging ein hohes Risiko ein, als er sich entschied, voll auf Schleifen zu setzen. „Sie lagen mir einfach näher als Krawatten“, sagt er.
Die Konkurrenz wird sich ins Fäustchen gelacht haben, denn Schleifen waren vor 50 Jahren, im Gegensatz zur allgegenwärtigen Krawatte, bestenfalls auf Bällen, Hochzeiten oder bei ein paar Lebemännern angesagt.
„Wer einen Papillon trägt, wird nicht ernst genommen. Mit einem Schleifchen am Hals werden Sie nicht für einen verantwortungsvollen Menschen gehalten. Niemand wird Ihnen wichtige Geschäfte anvertrauen“, mahnte Anfang der 1970er-Jahre der amerikanische Modeexperte John T. Molloy, dessen Wort in der internationalen Modewelt Gewicht hatte. Jürgen Stange ließ sich davon nicht beeindrucken. Denn er war überzeugt, dass die Schleife eine Zukunft hat. Und er sollte Recht behalten. Wenngleich er anfangs einen langen Atem haben musste. „In den 1980er-Jahren trug man so breite Krawatten, dass ganze Landschaften darauf Platz fanden, in den 1990ern wurden sie schmal, und ab 2000 galt die Krawatte als out“, erzählt er. „Etwa um die Zeit begann die Renaissance der Schleife. Spätestens aber seit Daniel Craig 2006 in der Rolle des James Bond in ‚Casino Royale‘ mit einer offenen Schleife um den Hals auftrat, galt sie auch bei immer mehr jungen Menschen als cool und modern. Wer eine Schleife trägt, bleibt in Erinnerung.“
Mit James Bond zu neuem Ruhm
Diese Aufmerksamkeit machten sich junge Banker und Börsianer in New York zunutze, als 2008 die Bank Lehman Brothers Pleite ging. Auf der Suche nach einem neuen Job trugen viele von ihnen eine auffällige Schleife, um bei ihrem Bewerbungsgespräch in Erinnerung zu bleiben. „Ein Trend, der, wie so viele andere, ganz schnell über den großen Teich nach Europa schwappte und bis heute anhält“, sagt der Unternehmer.
Und somit fand die Schleife gewissermaßen zurück zu ihrem Ursprung. Denn im Gegensatz zur Krawatte, die auf das Halstuch der Soldaten im Dreißigjährigen Krieg zurückgeht, lässt sich die Schleife auf eine Provokation der Mätresse Ludwigs XV., Madame Pompadour, zurückführen, die sich ihren Miederverschluss um den nackten Hals binden ließ, um Aufmerksamkeit zu erregen. Daraus entstand ein Halsschmuck, den vor allem Bohemiens, Künstler, Rechtsanwälte, Politiker oder Ärzte im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts trugen und sich damit als Freigeist zeigen wollten. Zu berühmten Schleifenträgern gehörten ebenso Lord Byron wie Gary Cooper, Goethe und Joseph Haydn, Churchill und Frank Sinatra. „Auch heute noch sind es oft Künstler, Anwälte, Ärzte oder Politiker, die im Alltag Schleife tragen, aber zunehmend auch andere Menschen, die Wert auf Individualität und das Besondere legen“, sagt Stange.
Kaufen kann man die Stange-Schleifen bei ausgewählten Herrenausstattern in Deutschland, Österreich, Schweiz, Belgien und den Niederlanden. Seit einigen Jahren verkauft er sie auch erfolgreich weltweit über das Internet. So mancher Kunde kommt aber gern direkt nach Teltow, wohin die Firma 1993 umzog, weil es in Berlin keine Möglichkeit zum Bauen gab und der Betrieb aus allen Nähten platzte. Dann ist Jürgen Stange ganz in seinem Element, denn er liebt es, die Kunden selbst zu beraten und zeigt ihnen auch schon mal, wie eine Schleife entsteht.
Rund 70 Euro muss man für eine echte Stange-Schleife bezahlen, dafür bekommt man aber ein handgearbeitetes Teil aus reiner Seide. Die kauft Jürgen Stange im italienischen Como, der letzten europäischen Seidenstadt. Ein- bis zweimal im Jahr reist er dorthin, um neue Stoffe zu sichten und einzukaufen. Manche werden auch extra für ihn hergestellt – nach Mustern seiner Frau Gabriele, die Modegrafikerin ist.
Rund 1.500 verschiedene Designs hat er auf Lager: uni, kariert, gestreift, gepunktet, mit Paisleymuster oder Blüten, Tieren und zig anderen Mustern. Als glattes Satin, stumpfes Crêpe oder auch glitzernd mit eingewebten Metallfäden. Und jedes Jahr kommt Neues hinzu. Die Auswahl ist schier unendlich. Hergestellt werden daraus sieben verschiedene Formen von „handgebundenen“ Schleifen und „Selbstbindern“, seit einigen Jahren auch wieder Krawatten und Westen.
Eine Schleife besteht aus acht Einzelteilen
Eine Schleife besteht aus acht Einzelteilen. Rund eine halbe Stunde braucht eine versierte Näherin wie Birgit Kubale, die seit zwölf Jahren in der Manufaktur arbeitet, für die Herstellung einer perfekten „handgebundenen“ Schleife. Diese lassen sich mit einem unsichtbaren Haken schließen und müssen vom Träger nicht jedes Mal neu gebunden werden. Anders als die „Selbstbinder“, die bei jedem Tragen neu gebunden werden. „Diese sind übrigens besonders bei jungen Leuten beliebt, die sie – wie James Bond – gern auch mal offen um den Hals tragen“, erzählt Jürgen Stange und zeigt gleich einmal, wie man sie richtig bindet – nämlich exakt wie einen Schnürsenkel beim Schuh. In wenigen Sekunden verwandelt er die offene Schleife in einen perfekt sitzenden Hingucker. Ungeübte und Anfänger können sich eine Anleitung des Firmenchefs zum Binden in einem Youtube-Beitrag ansehen, der auch auf der Webseite des Unternehmens zu sehen ist.
Sechs Mitarbeiterinnen beschäftigt Jürgen Stange heute noch. 37 waren es, als der Betrieb 1993 von Berlin nach Teltow umzog. Grund für den Rückgang sieht Jürgen Stange in der Billigkonkurrenz aus Asien und auch in den Auswirkungen durch Corona. Dennoch blickt er optimistisch in die Zukunft, weil er überzeugt davon ist, dass sich Qualität auch in Zukunft durchsetzt.
Wer sich in dem Werksverkauf im Unternehmen oder auf Jürgen Stanges Website umschaut, hat nicht nur die Qual der Wahl zwischen unzähligen verschiedenfarbigen und gemusterten Modellen. Auf die Frage, zu welchem Anlass man eigentlich was trägt, rät der Unternehmer folgendes: tagsüber mehrfarbig, abends einfarbig, zum Smoking wird in der Regel eine schwarze Schleife getragen. Doch auch da ist immer mehr Mut zur Farbe angesagt. Hauptsache es gefällt und entspricht dem Zweck! Einen bleibenden Eindruck hinterlassen Mann oder Frau mit einer perfekt gebundenen Schleife auf jeden Fall. Ganz nach dem Motto von Yves Saint Laurent: „Mode ist vergänglich – Stil für die Ewigkeit.“