Nach dem großen Flüchtlingsgipfel ist vor dem nächsten Gipfel. Ergebnisse können nie wirklich zufriedenstellend sein. Dafür sind die Themen zu komplex, die Diskussionen zu emotionsgeladen und die Herausforderungen werden nicht geringer. Dabei gelingt viel mehr, als der öffentlich Streit glauben macht.
Der Frust war groß. Daran hat auch die Zusage von einer Milliarde Euro zusätzlich wenig ändern können. So willkommen die finanziellen Mittel sind, sie lösen nicht die grundlegenden strukturellen Probleme. Das hat aber auch niemand ernstlich vom sogenannten Flüchtlingsgipfel der Länder beim Bundeskanzler erwartet.
Die Themen Flüchtlinge und Migration sind ebenso komplex wie emotional behaftet. Eine Gemengelage, die nicht gerade dazu angetan ist, zu gemeinsamen tragfähigen Lösungen zu kommen. Das betrifft alle Ebenen, die sich mit den Herausforderungen auseinandersetzen müssen – und das sind im Grunde tatsächlich alle staatlichen Ebenen. Von den Kommunen über Länder und Bund bis zur EU, und genau genommen bis zu den höchsten internationalen Ebenen, der UN mit ihrer Flüchtlingsorganisation UNHCR.
Es beschäftigt Hilfsorganisationen, von den großen, international tätigen bis hin zu kleinen lokalen Initiativen, die vor Ort ihren Beitrag leisten wollen. Es betrifft den politischen Diskurs, in dem in der Hoffnung auf Wählerstimmen oft die emotionalen Aspekte betont und bedient werden.
Es beschäftigt aber ebenso den Wissenschaftsbetrieb, der sich in Studien und Forschungen mit den Fragen nach Ursachen und Wirkungen auseinandersetzt. Und außerdem Migrationsforscher, Soziologen, Psychologen, Anthropologen, Historiker, aber genauso Ökonomen, Umweltwissenschaftler und Friedensforscher. Also auch dort so gut wie die komplette Bandbreite der Gesellschaftswissenschaften. Und nicht zuletzt auch ganze Scharen von Juristen, von Anwälten für die Einzelfallklärung bis zu Völkerrechtlern.
Zuständigkeiten sind zersplittert
Allein diese Aufzählung – ohne Anspruch auf Vollzähligkeit – sollte schon ausreichend Vorstellung geben, wie komplex die Suche nach Ergebnissen ist. Vorschläge vorgeblich einfacher Lösungen entlarven sich somit per se als das, was sie sind: Scheinlösungen. Tauglich vielleicht für Wahlkampf, Demos oder Talkshows, aber kaum für die Praxis vor Ort, wo es darum geht, mit konkreten Situationen und Menschen umzugehen.
Spätestens an der Stelle ist aber auch nachvollziehbar, dass und warum viele Menschen verunsichert sind. Nicht selten auch in einer inneren Zerrissenheit.
Als 2015/2016 besonders viele Menschen auf der Flucht vor Krieg und Bürgerkrieg den Weg nach Europa, nach Deutschland gesucht hatten, gab es eine ebenso große Hilfs- und Aufnahmebereitschaft wie Forderungen, alle Grenzen sofort für alle dicht zu machen. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine erleben wir ähnliches.
Zur Wahrheit gehört aber eben auch, dass irgendwann die Kapazitäten ausgeschöpft und auch die vielen freiwilligen, ehrenamtlichen Unterstützerinnen und Helfer erschöpft sind.
Und es gehört dazu, dass nicht die vielen Fälle, in denen es gut oder zumindest leidlich gut läuft, die Schlagzeilen bestimmen. Wenn eine Gemeinde etwa weit über das zugewiesene Maß hinaus Menschen aufnimmt, wenn öffentliches und ehrenamtliches Engagement für Hilfe und Unterstützung sorgt, mag das den einen oder anderen lokalen Bericht wert sein. Die großen Schlagzeilen wird es nicht dauerhaft prägen.
Politisch ist das Thema in Deutschland auch deshalb vertrackt, weil Zuständigkeiten über die staatliche Ebene genauso zersplittert sind wie die zwischen den Behörden und Ämtern, von deren oft antiquarischen Zuständen und Arbeitsweisen ganz zu schweigen. Vor jedem sogenannten Flüchtlingsgipfel erinnern sich Bund, Länder und Kommunen gegenseitig an ihre jeweiligen Zuständigkeiten. Natürlich, um gleichzeitig die große gemeinsame Verantwortung zu betonen. Für die Haushälter und Kassenwarte in Rathäusern und Finanzministerien ist das durchaus ein entscheidender Streit, wenn es um die formalen Zuständigkeiten und Verantwortungen geht. Für diejenigen, die Unterkunft besorgen, Betreuung organisieren, Integrationsmaßnahmen auf den Weg bringen, kann im Grunde egal sein, aus welchem Topf das unbestritten notwendige Geld kommt, wenn es denn überhaupt zur Verfügung steht. Und dann ist da noch die Frage notwendiger Programme und Maßnahmen. Was die Praktiker vor Ort in unschöner Regelmäßigkeit verzweifeln lässt, sind die Unstetigkeiten. Wie in einer nachlaufenden Wellenbewegung werden Maßnahmen und Projekte zeitgleich begrenzt finanziert. Nimmt die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, wieder ab, laufen die Dinge aus. Praktiker aber wissen, dass es sich zum einen bei Integration um eine Daueraufgabe handelt, zum anderen Strukturen nicht nach aktuellen Zahlen auf- oder abgebaut werden können. Zumindest nicht, wenn der Anspruch besteht, auch mit kurzfristigen Entwicklungen gut und professionell umgehen zu können. Das aber passt nicht so ganz zu den auch medial intensiv begleiteten Krisengipfeln.
Integration als Daueraufgabe
Was sich bei der Pandemie über den Zustand der Gesundheitsämter zeigte, wird bei jedem neuen Anstieg der Flüchtlingszahlen in den zuständigen Ämtern ebenfalls deutlich. Was für den Normalfall früher zu reichen schien, ist steigenden Herausforderungen offensichtlich nicht mehr gewachsen. Das ist nicht nur eine Frage ausreichenden Personals, sondern auch eine der Arbeitsweise. Das schon lange bekannte Problem scheint allmählich auf den „Gipfeln“ angekommen zu sein.
Bemerkenswert an dieser Bestandsaufnahme der Diskussionen der letzten Wochen und Monate: Bislang war vor allem die Rede von den Problemen, denen sich Politik und Verwaltungen gegenüber sehen. Geflüchtete Menschen kommen dabei in aller Regel als Naturereignis vor, als Flüchtlingsstrom oder als Welle beziehungsweise als statistische Größe.
Kaum verwunderlich, wenn die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, wie zu verhindern wäre, dass diese Naturereignisse sich nicht zu Naturkatastrophen ausweiten. Womit die Diskussion wieder bei den Außengrenzen angelangt ist. Darüber lässt sich eher eine Einigung finden als über einen guten Verteilschlüssel zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Eine Einigung darüber scheitert nicht in erster Linie an objektiven Fragen, sondern an innenpolitischen Erwägungen. Und wie es scheint, haben selbst die, die sich lange für eine faire Lösung eingesetzt haben, resigniert. Das kann im Übrigen auch mit den neuen Realitäten seit dem Krieg in der Ukraine zusammenhängen. Osteuropäische Staate, die sich in früheren Phasen mehr als unzugänglich gezeigt haben, zeigen im Zusammenhang mit Geflüchteten aus dem überfallenen Land ein ganz anderes Gesicht. Gleichzeitig nehmen die Herausforderungen in den Mittelmeer-Anrainer-Ländern wieder zu.
Eine klare, gemeinsame europäische Politik ist längst überfällig, aber realistischerweise kaum abzusehen. Dabei hat es im vergangenen Jahr an einem Punkt funktioniert: bei der schnellen Verständigung über den Umgang mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine. Eigentlich ein Signal, das Hoffnung machen könnte. Die Realität aber ist: Damit gibt es Doppelstandards. Denn für alle anderen gelten nach wie vor die alten Regelungen. Und damit die alten Probleme.
Es ist ein Beispiel dafür, dass der Umgang mit Geflüchteten voller Widersprüche ist, im staatlich-politischen Rahmen, in der Gesellschaft, letztlich wohl auch in jedem Einzelnen.
Es ist ein beständiges Ringen zwischen humanitärem Anspruch und unwillkürlicher Abwehrreaktion, das die Entwicklungen begleitet, vermutlich nie ganz auflösbar. Auch deshalb wird es vermutlich nie nur gute Lösungen geben. Und auf keinen Fall die eine Lösung, egal wie oft darüber schwadroniert wird.