Dominik Kohr sammelt Gelbe Karten am Fließband – rettete aber auch einer Frau das Leben. Davon scheinen manche überrascht. Aber auch Fußballer sind nur normale Menschen.
Die Karriere von Dominik Kohr war nie geprägt von Rekorden oder Bestleistungen, die für Schlagzeilen sorgen. Der 30-jährige Mittelfeldspieler, der zweimal die Fritz-Walter-Medaille in Bronze als einer der besten Jugendspieler seines Jahrgangs erhielt und 2017 mit der deutschen U21-Nationalmannschaft Europameister wurde, machte eher durch seinen rustikalen Spielstil auf sich aufmerksam. Doch in jüngster Zeit rückt Kohr mit einer ganz anderen Art von „Bestmarke“ in den Fokus: Seine zahlreichen Gelben Karten haben ihn zu einem der meistverwarnten Spieler der Bundesliga-Geschichte gemacht.
93 Gelbe Karten in 284 Spielen
Beim 3:0-Sieg des FSV Mainz 05 gegen den FC St. Pauli am sechsten Spieltag der aktuellen Saison erhielt Kohr seine fünfte Gelbe Karte – und das bereits so früh in der Saison, dass er damit bundesweit für Aufsehen sorgte. „Das ist Wahnsinn“, kommentierte sein Trainer das Geschehen, und tatsächlich ist es ungewöhnlich, dass ein Spieler bereits zu diesem Zeitpunkt eine Gelb-Sperre absitzt. Zuletzt war das Granit Xhaka in der Saison 2013/14 gelungen, als er noch für Borussia Mönchengladbach spielte. Den Rekord für die früheste Gelbsperre hält jedoch René Rydlewicz, der in der Saison 2001/02 in den ersten fünf Spielen für Hansa Rostock jeweils verwarnt wurde. Kohrs Rekordversuch in dieser Kategorie bleibt vorerst unerreicht, doch er könnte bald einen anderen Bestwert angreifen.
Denn mit seiner Verwarnung gegen St. Pauli hat Kohr auch in der ewigen Rangliste der Gelb-Sünder der Bundesliga einen Sprung nach vorne gemacht. Mit 93 Gelben Karten in 284 Spielen, verteilt auf Stationen bei Mainz, Bayer Leverkusen, dem FC Augsburg und Eintracht Frankfurt, liegt er derzeit auf dem geteilten dritten Platz dieser Statistik. An der Spitze steht Stefan Effenberg, der in 370 Bundesliga-Spielen 112-mal verwarnt wurde. Kohr könnte bereits in dieser Saison David Jarolim, der 96 Verwarnungen in 318 Spielen sammelte, überholen und sich damit auf den zweiten Platz vorschieben. Sollte er weiterhin im gleichen Tempo Karten sammeln, könnte auch Effenbergs Rekord in den kommenden Jahren fallen.
Doch nicht nur die schiere Anzahl an Gelben Karten macht Kohr in letzter Zeit zur Zielscheibe der Kritik. Besonders das Foulspiel gegen Elias Saad, das ihm die fünfte Gelbe Karte einbrachte, sorgte für große Diskussionen. Die „Hamburger Morgenpost“ sprach von einem „Brutalo-Foul“, das Saad eine Sprunggelenksverletzung bescherte, die ihn wochenlang außer Gefecht setzte. Auch die „Süddeutsche Zeitung“ ging hart mit Kohr ins Gericht: „Gegenspieler müssen vor Dominik Kohr beschützt werden.“ Selbst Alexander Blessin, der Trainer des FC St. Pauli, räumte ein, dass Saad bereits zuvor Verletzungsprobleme hatte, aber Kohr habe ihn „richtig getroffen“.
Der Mainzer Sportvorstand Christian Heidel widerspricht dieser Darstellung jedoch vehement. „Kohr hat seinen Gegenspieler nicht mal berührt“, sagte er der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Tatsächlich konnte der die Seitenlinie entlang sprintende Saad dem herangrätschenden Kohr gerade noch entkommen, landete jedoch unglücklich und verletzte sich dabei. „Die Gelbe Karte hat Dome für sein Einsteigen zu Recht gesehen“, räumt Heidel ein. „Aber die Verletzung stammt nicht von ihm.“
Kohr ist seit langem für seine kompromisslose Spielweise bekannt. Er zählt zu den robustesten Defensivspielern der Bundesliga und bewegt sich oft auf dem schmalen Grat zwischen hartem Einsatz und überhartem Spiel. In der vergangenen Saison sammelte er in 31 Spielen 13 Gelbe Karten – so viele wie nie zuvor in seiner Karriere. Für seinen Verein ist diese Härte jedoch Teil seines Wertprofils. „Wir kennen Dominik Kohrs aggressiven Spielstil“, sagt Heidel. „Aber ein brutaler Treter ist er nicht.“ In Mainz schätzt man den Routinier, der im Januar 2021 von Eintracht Frankfurt gekommen war, für seine Führungsqualitäten und seine Fähigkeit, seine Mitspieler mitzureißen. Zudem gehört er mit 68 Prozent gewonnenen Zweikämpfen zu den besten Defensivspielern der Liga.
„Er muss klüger sein“
Allerdings hat sich die jüngste Kritik nicht nur an Kohrs oft hartem, aber legitimen Einsatz entzündet. In den vergangenen Wochen geriet er auch wegen zweier ungeahndeter Aktionen in die Schlagzeilen, die weit über die Grenze des Erlaubten hinausgingen: Zum einen ein Ellbogenstoß gegen den Augsburger Samuel Essende, der für seine Revancheaktion Rot sah, zum anderen ein Griff an die Hoden des Heidenheimers Benedikt Gimber. Beide Vorfälle hätten Kohr eine längere Sperre einbringen können. Der Griff in die Weichteile war eine schmerzhafte Angelegenheit, die Schiedsrichter Florian Exner sogar sah – und es bei Gelb beließ. Warum es keinen Platzverweis gab, wird das Geheimnis des Unparteiischen bleiben. Auch die Social-Media-Abteilung der Mainzer war sich des Glücks bewusst und schrieb auf X, dass der Dome dem Heidenheimer anging: „Glück, dass es Exner bei Gelb belässt.“ Zusätzliches Dusel für Kohr: Weil die Aktion ebenso wie in der Vorwoche gegen Augsburg vom Schiedsrichter gesehen wurde und somit als Tatsachenentscheidung gilt, droht ihm keine nachträgliche Sperre. „Ich weiß nicht, was ihn in diesen Szenen geritten hat“, gibt Heidel zu. „Solche Aktionen sind auch eigentlich nicht seine Art, er ist ein herzensguter Mensch.“ Der Mainzer Manager ist überzeugt, dass sich solche Fehlgriffe nicht wiederholen werden. Ähnliches hat Trainer Bo Svensson in einem persönlichen Gespräch mit Kohr angedeutet. „Er muss klüger sein“, lautet Svenssons klare Ansage an seinen Schützling.
Während Kohr auf dem Platz mit seiner harten Spielweise polarisiert, sorgt er abseits des Feldes mit einer völlig anderen Art von Schlagzeilen für Aufsehen. Vor wenigen Tagen wurde der Fußballprofi zum Lebensretter, als er auf der A60 unterwegs war und eine ältere Frau in einem Graben neben der Autobahn bemerkte. Sie war bereits seit mehreren Tagen vermisst, und Kohr alarmierte die Polizei, nachdem er die Frau in einem stark unterkühlten Zustand vorgefunden hatte. „Das kam mir komisch vor, deshalb bin ich noch mal an der Stelle vorbeigefahren“, erzählte er dem SWR. „Und da hab ich die Frau nur noch liegen gesehen.“ Die Einsatzkräfte, die Kohr verständigte, bestätigten später, dass die Frau ohne seine Hilfe die Nacht möglicherweise nicht überlebt hätte. „Da kriegt man schon Gänsehaut, wenn man hört, dass es der Frau jetzt gut geht“, kommentierte Kohr das Erlebnis.
Zwischen seiner Rolle als rustikaler Defensivspieler, der regelmäßig an die Grenze des Erlaubten geht, und seiner heldenhaften Tat als Lebensretter zeigt sich Kohr in all seiner Widersprüchlichkeit. Während er auf dem Platz immer wieder für Diskussionen sorgt, bleibt abseits des Spielfelds das Bild eines hilfsbereiten Menschen. Ob er es schafft, in den kommenden Monaten und Jahren die Balance zwischen diesen beiden Seiten seiner Persönlichkeit zu finden, bleibt abzuwarten – ebenso wie die Frage, ob er bald einen neuen Rekord in der ewigen Gelb-Sünderliste der Bundesliga aufstellen wird. Was jedoch klar ist: Die Öffentlichkeit sollte sich davon verabschieden, Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen zu ziehen, nur weil er auf einem Fußballplatz mal über die Stränge schlägt. In einem hochkochenden Fußballstadion, in dem 50.000 Menschen brüllen und wüten, kann es durchaus passieren, dass auch einem Profi die Sicherungen durchgehen. Passieren sollte es nicht, aber auch Fußballprofis sind Menschen, die Fehler machen – oder auf der Autobahn Zivilcourage zeigen.