Der Anästhesist und Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns begleitet jährlich 400 Menschen in den Tod. In seinem "Spiegel"-Bestseller "Patient ohne Verfügung" berichtet er Skandalöses von dem Geschäft mit dem Lebensende, über das er auch mit FORUM sprach.
Herr Thöns, warum sind Sie Palliativmediziner geworden?
Schon als Student hat es mich gestört, wie in Kliniken mit Sterbenskranken umgegangen wird. Da wurde früher in Badezimmern und Abstellräumen einsam und ohne Leidenslinderung gestorben. Bei meinen Nachtdiensten habe ich mich oft zu den Sterbenden gesetzt und später viel von den in der Klinik tätigen Nonnen gelernt.
Wie kann die Palliativmedizin todkranken Menschen das Leben erleichtern?
In erster Linie durch gutes Zuhören. Viele Antworten auf angstbesetzte Fragen haben die Menschen selber, hier braucht es nur etwas Realitätskorrektur und der folgt oft die Angstminderung. Denn die meisten Ängste sind unbegründet: Unsere Patienten haben oft große Angst vor einem leidvollen Sterbeprozess, den kann man eben mit modernen Medikamenten vermeiden, und dafür braucht es zumeist nicht einmal mehr eine Spritze.
Wie muss man sich die Atmosphäre in einem Hospiz vorstellen?
Sterbende sind Lebende, sie wollen wie wir alle immer wieder mal lachen, und das tun sie. Teils haben sie selber einen rabenschwarzen Humor, da stockt einem manchmal gar der Atem. Es vergeht bei mir kein Arbeitstag, ohne dass ich mit Patienten oder Angehörigen richtig lache. Und so ist auch das Thema meines Lieblingsvortrages "Humor und Palliativmedizin".
Sie schildern in Ihrem Buch "Patient ohne Verfügung" Schicksale von Patienten, die mit "Übertherapie" etwa durch Beatmungsmaschinen oder künstliche Ernährung am Leben gehalten werden, obwohl abzusehen ist, dass keine Besserung eintreten wird. Welches waren die schlimmsten Fälle, die Sie übernommen haben?
Jeder einzelne Fall ist schlimm, jedes Schicksal mit Übertherapie entsetzlich. Denn die Apparatemedizin schafft es, die "schlechte Lebensphase" deutlich zu verlängern. Schlimm fand ich vor einigen Wochen eine greise Dame, die trotz weit fortgeschrittener Hirnabbauerkrankung und Bettlägerigkeit wiederbelebt wurde, neun Monate entgegen ihrem Patientenwillen Apparatemedizin erhielt, dann auch noch ohne Einwilligung groß am Bauch operiert wurde und anschließend ohne ausreichende Schmerztherapie zurück in eine "Beatmungswohngemeinschaft" verlegt wurde. Auch dort lief zunächst keine Schmerztherapie, das Leiden war so schlimm, dass unser Pflegepersonal anschließend zur Supervision musste. Erst im Rahmen einer Vollnarkose konnten wir das Leiden lindern.
Sind die in Ihrem Buch beschriebenen Fälle Ausnahmen oder Alltag?
Beschrieben sind die schlimmeren Fälle aus meinem Alltag. Übertherapie ist aber an der Tagesordnung. Mittlerweile habe ich Hunderte Mails aus ganz Deutschland, sogar aus der Schweiz und Österreich mit entsetzlichen Schicksalen bekommen. Teils vermittle ich die Menschen an die Presse, aber nur wenige sind bereit dafür.
Gab es vor zehn, 20 Jahren auch so viele Fälle von Übertherapie?
Nein, ich erinnere mich noch gut an meine ersten Notarztdienste vor 20 Jahren. Ich hätte mich so blamiert, wenn ich einen offenkundig sterbenden uralten Krebspatienten wiederbelebt und beatmet in die Klinik gebracht hätte. Doch in den letzten Jahren steigt der Altersdurchschnitt der Intensivbetreuten kontinuierlich, und auch Krebspatienten sterben immer häufiger auf der Intensivstation. Kaum ein Mensch wünscht sich so etwas für sich selber, insbesondere auch Ärzte nicht. Die sterben seltener in Kliniken, seltener auf der Intensivstation und häufiger palliativversorgt zu Hause.
Was schätzen Sie, wie viel Prozent der durchgeführten Operationen oder Krebstherapien den Patienten nicht mehr helfen und nur aus finanziellen Gründen durchgeführt werden?
Dazu gibt es natürlich keine Zahlen, wer würde das auch zugeben wir reden hier von Straftaten. Auf dem Weltkongress der Krebsmediziner vor wenigen Monaten wurde berichtet, dass 71 bis 76 Prozent der Krebsbetroffenen in den letzten 30 Lebenstagen eine zu aggressive Therapie sprich Übertherapie bekommen. Professor Chang von der Duke Universität North Carolina berichtet sogar, dass sich die Verhältnisse im Gegensatz zu den internationalen Empfehlungen aller Krebsgesellschaften von 2012 entwickeln: Die empfehlen nämlich frühzeitig Palliativbetreuung und nicht Chemotherapie bis in die letzten Lebenswochen.
Gibt es keine Instanz, die überwacht, ob die vom Arzt empfohlene OP notwendig ist?
Nein. Dafür interessiert sich leider niemand. Sterbenskranke haben keinen Rechtsschutz und keine Lobby. Das Thema Tod ist unerotisch, dabei geht es jeden etwas an glauben Sie mir ich bin Arzt...
Was ist mit den Krankenkassen haben diese kein Interesse an Fällen der Übertherapie oder unnötig durchgeführten OPs?
Leider nur wenig. Ich habe eigentlich alle deutschen Krankenkassen angeschrieben, bislang haben sich aber nur die AOK und einzelne BKKs gemeldet. Krankenkassen haben Angst vor schlechter Presse
als ob man die Leistung beschneiden will. Das will ich nicht: Sinnvolles muss bezahlt werden, Unsinniges oder Ungewolltes nicht das ist ganz einfach.
Denken Sie, dass sich hier etwas ändern kann?
Wir brauchen mehr Transparenz im Gesundheitswesen. Ich nehme nur einmal die beiden Problemfälle Chefarztbonusverträge und Anwendungsbeobachtungen.
Viele Chefärzte bekommen erhebliches Zusatzeinkommen für den Umsatz der Klinik oder bestimmte Eingriffe, Chemotherapie oder Beatmungsminuten. Da besteht ein hoher Fehlanreiz, diese Leistungen auch dort zu erbringen, wo sie vielleicht nicht so notwendig oder sinnvoll sind. Aufgeflogen ist das Ganze beim Transplantationsskandal 2012: Da bekam ein Leberchirurg 1.500 Euro pro transplantierter Leber bis zur 60. Leber im Jahr. Er schummelte bei der Organverteilung, transplantierte in einem Jahr 58, im anderen 59 Lebern. In meinen Augen schwerstes Unrecht doch der Bundesgerichtshof sprach ihn frei. Er ist also ein unbescholtener Bürger, Sie können sich ja von ihm operieren lassen ...
Seinerzeit kritisierten die Politik und die Bundesärztekammer die Verträge und empfahlen die "freiwillige Selbstkontrolle". Der Unternehmensberatung Kienbaum zufolge haben aber bei den neuen Chefarztverträgen 2015 immer noch
97 Prozent solche Klauseln. Freiwilligkeit nutzt also nichts.Anwendungsbeobachtungen sind zuallermeist völlig wertlose Medikamentenstudien. Die Arzthelferin füllt ein paar Bögen aus, anschließend bekommt der Arzt im Schnitt 670 Euro. Da besteht also ein hoher Fehlanreiz, bestimmte hochpreisige Medikamente wie Chemotherapie aufzuschreiben.Wenn man diese Umtriebe schon nicht abschaffen möchte, so braucht es hier Transparenz: Verpflichtende Offenlegung von Interessenkonflikten als Pflicht im Behandlungsvertrag. Dieses Recht gilt bereits bei Abschluss eines Sparvertrages, hier muss der Bankberater seine Provision offenlegen. Es erscheint mir unvernünftig, dass ich als Patient nicht erfahre, dass der Chefarzt für die OP oder die Chemotherapie, die er mir empfiehlt, einen satten Bonus erhält.
Wieso ist so wenig über solche Zustände bekannt schweigen Angehörige und Klinikpersonal, oder wird es verdrängt, weil es unangenehm ist?
Angehörige und Patienten leiden extrem darunter. Ist der Patient aber tot, wollen alle damit nichts mehr zu tun haben. Und das Klinikpersonal schweigt und leidet mit den Patienten vor allem das Pflegepersonal. Was passiert, wenn man das Schweigen bricht, merke ich gerade am eigenen Leib. Ich brauche gerade ein verdammt breites Kreuz, und mein Nacken meldet "schwere Verspannung".
Welche Konsequenzen können wir als Patienten aus diesem Wissen schließen?
Ein Schutz vor Übertherapie ist der gute Hausarzt. In Bayern wurden durch das Prinzip "erst zum Hausarzt" circa 4.000 Herzoperationen pro Jahr eingespart und die Bayern sind nicht kränker oder gesünder als der Rest der Republik. Vor kritischen Behandlungen sollte man sich immer eine Zweitmeinung einholen, zudem sollte jeder ab 18 Jahre eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht haben.
In Ihrem Buch beschreiben Sie den Fall von Monika, die trotz Patientenverfügung sechseinhalb Jahre im Wachkoma lag. Wie kann man sich vor einem solchen Schicksal schützen?
Zunächst einmal hat der Bundesgerichtshof aktuell die Formvorgaben für Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten erheblich gesteigert. Die meisten Verfügungen dürften aktuell wertlos sein. Man braucht also eine aktuelle Patientenverfügung, eine aktuelle Vorsorgevollmacht und am wichtigsten: einen Vorsorgebevollmächtigten, der nicht seinen, sondern den Willen des Patienten umsetzt und das gegebenenfalls auch gegen einen Halbgott in Weiß. Denn dieser muss letztlich den Willen aus der Patientenverfügung umsetzen, daher ist die Vorsorgevollmacht fast noch wichtiger.
Haben Sie selbst einen Organspendeausweis?
Ich bin überzeugter Organspender und halte das für eine gute Sache. In meinem Ausweis steht allerdings noch der Zusatz: "Organentnahme nur in Vollnarkose." Ich bin davon überzeugt, dass man nach der Diagnose "Hirntod" nie wieder ins Leben zurückkommt. Ob man aber gar nichts mehr merkt wer weiß das schon?
Haben Sie Angst vor dem Sterben?
Der Moment des Todes ist zuallermeist von tiefem Frieden gekennzeichnet. Wieder und wieder beobachte ich, dass sich im Augenblick des Ablebens die Augen öffnen. Darin sehe ich die Bestätigung der Nahtoderfahrungen all derer, die von glücklichen Gefühlen kurz vor dem Übergang berichten. Sie hätten Licht am Ende des Tunnels gesehen. Selbst sterbende Babys scheinen so etwas zu empfinden, und ich will nicht verleugnen, dass mir in diesen Momenten immer wieder die Tränen aus den Augen kullern. Aber mein Beruf hat mich in der christlichen Grundüberzeugung bestätigt, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die sich einer wissenschaftlichen Erklärung verweigern.
Ich bin, was meinen eigenen Tod angeht, wie die meisten Menschen aber etwas zuversichtlicher: Ich habe mehr Angst vor Leiden oder plötzlichem Schmerz als vor dem Totsein. In meiner Patientenverfügung steht: "Ich wünsche die Betreuung durch ein engagiertes Palliativteam." Deshalb bin ich zuversichtlich, dass man mir die Leiden nehmen wird. Und als Christ glaube ich, dass nach dem Tod noch etwas Gutes kommt.
Interview: Kristina Scherer-Siegwarth
INFO:
Eine aktualisierte Patientenverfügung auf der Grundlage des Justizministeriums findet sich auf:
www.palliativnetz-witten.de
www.der-schlafdoktor.de
Buchtipp:
"Patient ohne Verfügung Das Geschäft mit dem Lebensende"
von Matthias Thöns
Piper-Verlag
Gebundene Ausgabe: 22 Euro