Nach den USA soll die Wunderpille Truvada nun auch in Europa auf den Markt gebracht werden. Laut aktuellen Studien bietet sie bei täglicher Einnahme großen Schutz vor HIV-Infektionen.
HIV-Prävention ist jetzt viel einfacher Prep sorgt dafür, dass du HIV-negativ bleibst." Mit diesem uneingeschränkten Versprechen für eine scheinbar hundertprozentige Sicherheit wirbt der US-Staat New York für eine Anti-Aids-Pille namens Truvada. Wobei "Prep" für "Pre-Exposition-Prophylaxe" oder "Präexpositionsprophylaxe" steht, worunter eine Präventionsmaßnahme verstanden wird, bei der HIV-negative Menschen vorbeugend Medikamente einnehmen, um sich vor einer möglichen HIV-Infektion zu schützen. In den USA ist die Pille seit 2012 behördlich zugelassen, auch in Kenia, Südafrika, Australien, Kanada und Peru darf sie schon verwendet werden.
In den USA seit 2012 zugelassen
Nun wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis das Medikament, möglicherweise noch 2016, auch in Europa zur HIV-Prophylaxe eingesetzt werden darf. Denn die EU-Arzneimittelbehörde Ema (European Medicines Agency) hat Ende Juli 2016 nach Prüfung des Antrags der Herstellerfirma Gilead die Zulassung von Truvada auch für den Markt in der Europäischen Union empfohlen. Die EU-Kommission muss der Zulassung noch formell zustimmen. Wenn dies geschehen sein sollte, muss jedes EU-Mitgliedsland selbst entscheiden, ob das jeweilige Gesundheitssystem die Kosten für die präventive Therapie von nicht HIV-Infizierten übernehmen wird oder eben auch nicht.
Der Preis für das Medikament, eine blaue, längliche Tablette, ist ziemlich hoch. Experten schätzen, dass es hierzulande monatlich rund 800 Euro pro Patient kosten könnte. Ob die deutschen Krankenkassen bereit sein werden, die Auslagen wenigstens für Angehörige von Risikogruppen, wie zum Beispiel homosexuelle Männer, zu übernehmen, ist derzeit noch ungewiss.
Die Empfehlung der Ema zur Zulassung der Pille basierte auf zwei Studien, die eine erhebliche Reduktion des Risikos einer HIV-Infektion ergaben, wenn das Medikament präventiv eingenommen wurde. An der "Iprex"-Studie nahmen genau 2.499 HIV-negative Männer teil, die Sex mit Männern haben. Eine Hälfte nahm einmal täglich Truvada ein, die andere ein Placebo. In der zweiten Gruppe infizierten sich im Laufe der dreijährigen Studie 83 Männer mit HIV, in der "Prep"-Gruppe nur 48, was einer Risikoreduktion von 42 Prozent entspricht.
Aus ethisch-moralischen Gründen mag es mehr als bedenklich sein, einer der beiden Versuchsgruppen nur Placebos statt des Medikaments verabreicht zu haben. Aber das scheint die Ema nicht gestört zu haben. An der "Partners-Prep-Studie" nahmen 4.758 heterosexuelle Paare teil, bei denen einer der Partner HIV-positiv war. Die HIV-negativen Partner bekamen entweder Truvada, Tenofovir disoproxil (eine der beiden in Truvada enthaltenen Substanzen neben Emtricitabin) oder Placebo. Das Ergebnis: Truvada reduzierte das Infektionsrisiko im Vergleich zu Placebo um 75 Prozent.
Reicht laut Studien an die Schutzwirkung von Kondomen heran
Aus beiden Studien konnte zudem abgeleitet werden, dass der Schutz vor einer Infektion umso größer war, je genauer die Probanden die Vorgaben zur Einnahme möglichst einmal täglich befolgt hatten. Die beobachteten Nebenwirkungen von Truvada entsprachen denen einer normalen HIV-Behandlung, im Wesentlichen waren es Durchfall, Übelkeit, Müdigkeit, Kopfschmerzen und Schwindel. Die Ema geht bei ihrer Empfehlung für Truvada davon aus, dass die tägliche Einnahme des Medikaments das Risiko einer HIV-Infektion deutlich senke. Sie sieht Truvada allerdings nur als Teil einer Präventivstrategie gegen mögliche HIV-Infektionen. Das Medikament ersetze Kondome nicht, da diese auch vor anderen sexuell übertragbaren Krankheiten schützen könnten. Truvada ist übrigens nur als Präventivmittel, quasi als "Pille davor", etwas Neues. Denn zur Behandlung von Menschen, die sich bereits mit dem Aids-Virus angesteckt haben, ist Truvada schon seit 2004 in den USA und seit 2005 in der EU zugelassen. Künftig könnten, so die Ema, nicht nur bereits HIV-Infizierte, sondern Menschen, die einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind, das Medikament zur präventiven Einnahme verschrieben bekommen. Kritiker weltweit warnen davor, dass Truvada dazu verleiten könnte, die HIV-Ansteckungsgefahr künftig zu unterschätzen. Obwohl das Medikament keineswegs hundertprozentigen Schutz garantieren könne. Die Deutsche Aids-Hilfe hingegen begrüßte die Zulassungsempfehlung ausdrücklich, zugleich kritisierte sie aber die hohen Kosten der Behandlung, die die Betroffenen wahrscheinlich selbst tragen müssten. Die Aids-Hilfe forderte den Hersteller daher auf, den Preis von derzeit rund 820 Euro für die 30-Tabletten-Packung deutlich zu senken. "Wir haben die Möglichkeit", so Silke Klumb, die Geschäftsführerin der Aids-Hilfe, "Leben zu retten und Infektionen zu verhindern dafür müssen wir alles tun, was möglich ist." Der Kölner HIV-Schwerpunktarzt Tim Kümmerle hält große Stücke auf die neue Wunderpille: "Mit der Prep soll das Einnisten der HI-Viren im Körper verhindert werden. Dafür werden aktuell zwei erprobte, gut verträgliche HIV-Medikamente eingesetzt, welche in der Tablette Truvada kombiniert sind. Die Erfolgsquote ist hoch und kommt bei regelmäßiger Einnahme laut Studiendaten an die Schutzwirkung von Kondomen heran."
Als Stütze für Kümmerles überaus positive Wirksamkeitseinschätzung von Truvada mag eine US-Studie herhalten, die von Mitarbeitern der privaten Krankenkasse Kaiser Permanente in der Fachzeitschrift "Clinical Infectious Diseases" veröffentlicht wurde. Von 657 Personen, die als für eine Ansteckung mit HIV besonders gefährdet galten, fast ausschließlich homosexuelle Männer, und die das Präparat regelmäßig eingenommen hatten, hatte sich im Laufe von zwei Jahren niemand infiziert. In den USA wird Truvada mit einer Ansteckungsschutzrate von 90 bis 99 Prozent beworben. Trotzdem weisen viele US-Gesundheitsexperten immer wieder darauf hin, dass dies allenfalls ein statistischer Wert sei, der im Einzelfall keineswegs den Gebrauch von Kondomen ersetzen könne. Die oberste amerikanische Gesundheitsschutzbehörde, Centers for Disease Control and Prevention (CDC), scheint dagegen großes Vertrauen in Truvada zu setzen. Seit Mai 2014 fordert sie Ärzte in einer Richtlinie sogar direkt dazu auf, Menschen mit hohem Infektionsrisiko die präventive Therapie mit der Pille dringend nahezulegen.
Die Ema-Zulassungsempfehlung für Truvada fiel wohl nicht gänzlich zufällig mit dem Abschluss der einwöchigen Welt-Aids-Konferenz in Südafrika zusammen. Auf dessen Tagesordnung hatte natürlich auch das neue Prophylaxe-Medikament gestanden. Schließlich könnte es helfen, das von der internationalen Gemeinschaft hochgesteckte Ziel, die Immunschwächekrankheit Aids bis 2030 auszurotten, zu erreichen. Auch wenn viele Experten dies angesichts nicht ausreichender finanzieller Mittel und anhaltend hoher Infektionsraten für wenig wahrscheinlich halten. Weltweit sind offiziellen Schätzungen zufolge 37 Millionen Menschen HIV-positiv. Gegenwärtig infizieren sich jährlich rund 2,1 Millionen neu. 2015 starben rund 1,1 Millionen Menschen an den Folgen von Aids. In Asien hat sich die Neuinfektionsrate seit 2010 um 57 Prozent erhöht, Russland gehört inzwischen mit zu den am stärksten betroffenen Ländern. In Deutschland leben derzeit rund 83.000 Menschen mit HIV oder Aids. Die Zahl der jährlichen Neuinfektionen in Deutschland liegt bei etwa 3.200 Personen.
Peter Lempert