Dr. Martin Kaiser ist Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Im Interview spricht er über verschiedene Formen der Depression, den Faktor der Vererbung und Möglichkeiten der Behandlung.
Herr Kaiser, wie hat sich die Diagnostik einer Depression entwickelt? Sieht man die Gründe dafür heute anders als etwa vor 50 Jahren?
Die Diagnostik der Depression hat sich in den vergangenen 50 Jahren verändert, weil unterschiedliche nationale Klassifikationen durch die Weltgesundheitsorganisation zusammengeführt wurden, wie das auch bei anderen Krankheitsbildern der Fall ist. Die Depressionen gehören heute in der internationalen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation zu den affektiven Störungen, bei denen die Hauptsymptome in einer Veränderung der Stimmung oder der Affektivität, und zwar meist zum Depressiven hin, bestehen.
Wie können solche Symptome aussehen?
Oft ist Angst dabei. Das allgemeine Aktivitätsniveau ist verändert. Die meisten dieser Störungen treten im Lebensverlauf wiederholt auf. Oft ist der Beginn einzelner Episoden mit belastenden Lebensereignissen oder Situationen in Zusammenhang zu bringen. Dabei muss man zwischen auslösenden und ursächlichen Faktoren unterscheiden. In der Einteilung ist der Schweregrad einer Depression wegen der Konsequenzen für die Behandlung und die unterschiedlichen Notwendigkeiten im Versorgungsbedarf in den Vordergrund gestellt. Alte Begriffe wie endogene Depression oder neurotische Depression, die durchaus auch ihre Begründung hatten, sind in den heutigen Einteilungen nicht mehr üblich.
Wie sieht die Einteilung heute aus?
Bei den Depressionen kann man zwischen den monopolaren Störungen und den bipolaren Störungen unterscheiden. Bipolare Störungen sind mit Stimmungswechseln von einem deutlich gehobenen, übermäßig aktiven Niveau wie der Manie oder der Hypomanie zu einer Stimmungssenkung mit verminderter Aktivität, der Depression, charakterisiert. Zwischen den Episoden kann eine vollständige Erholung eintreten, depressive Episoden sind bei dieser Störungsform meist häufiger als die manischen.
Klassischerweise versteht man unter der depressiven Erkrankung die monopolar depressiven Störungen, die mit den typischen Symptomen von gedrückter Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Verminderung des Antriebs, erhöhter Ermüdbarkeit, auch verminderter Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertem Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühlen, negativen und pessimistischen Gedanken, Schlafstörungen und reduziertem Appetit bis hin zu Suizidgedanken oder auch einer erfolgten Selbstverletzung oder Suizidhandlung gehen. Das Tief ist meistens über längere Zeit vorherrschend, wobei das klinische Bild beträchtliche individuelle Varianten zeigt.
Wie sehen die neuesten Forschungen aus?
Zugrunde liegende biochemische Prozesse sind weiterhin nicht endgültig geklärt. Die Forschungen setzen derzeit hauptsächlich an den biochemischen Faktoren an, also bei der Suche nach körperlich-organisch definierten Faktoren, die den depressiven Erkrankungen zugrunde liegen sowie an den hereditären, den erblichen, Faktoren. Dass dies eine Rolle spielt, weiß man seit vielen Jahrzehnten aus der Familienforschung, da depressive Erkrankungen wie manche andere psychische Störung in Familien gehäuft auftreten. Wir beobachten das auch bei körperlichen Erkrankungen wie an der Schilddrüse, bei Magenleiden, Diabetes und Herzerkrankungen.
Welche weiteren Forschungszweige gibt es?
Es gibt einen Forschungszweig, der sich mit der Psychotherapie befasst. Heute können wir grundsätzlich sagen, dass wir bessere Behandlungsmöglichkeiten haben, seitdem in den 50er- und 60er-Jahren zum einen antidepressive Medikamente entwickelt wurden, die seither einige Neuerungen und Verbesserungen, insbesondere im Nebenwirkungsspektrum, erfahren haben. In der Psychotherapie kommen heute meist verhaltenstherapeutische Ansätze zur Anwendung, vor allem weil diese Ausbildungsform in einem deutlich größeren Maße vorgehalten und genutzt wird – zumindest bei uns in Deutschland –, als etwa humanistische, gesprächspsychotherapeutische oder tiefenpsychologisch und klassisch psychoanalytische Ansätze.
Hilft solch eine Behandlung jedem?
Forschungen zeigen, dass zumindest bei leichten und mittleren Depressionen Psychotherapie genauso wirksam ist wie medikamentöse Behandlung. Interessanterweise ist eine medikamentöse Behandlung auch bei Depressionsformen wirksam, bei denen Auslöser durchaus bestimmt werden können und bei denen auch Faktoren, die in der Person selbst, also psychologisch, begründet sind, oder auch im Sozialen liegen. Oft ist die medikamentös zu erreichende Stimmungsverbesserung sogar eine wichtige Voraussetzung, damit die Person die Probleme, die bestehen, wieder besser lösen kann. Denn das können die Medikamente niemals leisten. Es gibt aber auch Depressionsformen, bei denen wir annehmen, dass zugrunde liegende biochemische (Neurotransmitter) Prozesse und die erbliche Übermittlung einen bedeutenderen Anteil haben. Da finden wir auch nicht immer Auslöser für die Erkrankungsepisoden und die Medikamente können dadurch einen vorrangigen Schwerpunkt haben, insbesondere wenn eine Depression auch mit wahnhaftem Erleben einhergeht.
Das klingt nach einer psychischen Wahnerkrankung.
Es ist wichtig zu wissen, dass ein paranoides Erleben nicht eine Wahnerkrankung im engeren Sinne oder gar eine schizophrene Erkrankung bedeuten muss, wie ganz oft angenommen wird. Generell können wir also sagen, dass sowohl Psychotherapie und Medikamente wirksam sind und dass es Studien gibt, die allenfalls einer Kombination von beidem eine noch bessere Wirksamkeit zuschreiben. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass mit der transkraniellen Magnetstimulation eine neue Behandlungsoption entwickelt wurde. Auch ist bei schweren, insbesondere auch wahnhaften Verläufen eine Elektrokrampftherapie eine Behandlungsoption.
Gibt es Fälle, in denen es auf keinen Fall ohne Medikamente geht?
Ganz wichtig ist, dass man bei einer depressiven Erkrankung das Risiko der Selbsttötung, des Suizids, nicht außer Acht lässt. Wenn das erkannt wird, sind oft noch weitere, beruhigende Medikamente (Tranquilizer) in der Behandlung einzusetzen, um eben einen solchen fatalen Ausgang zu vermeiden.
Im Jahr 2017 behaupteten Forscher, Entzündungen im Gehirn könnten Depressionen auslösen. Stimmt das?
Entzündungen im Gehirn können Depressionen auslösen, auch andere körperliche Erkrankungen können Depressionen auslösen, zum Beispiel gibt es auch den Begriff der „Post-stroke-Depression", also eine Depression, die nach einem Schlaganfall auftritt.
Sie hatten eben einige Behandlungsmöglichkeiten genannt. Gibt es eine klassische Behandlung?
Als klassische Behandlung der Depression könnte man die Kombination aus Pharmakotherapie und Psychotherapie bezeichnen. Mit dem zuständigen Arzt sollte entschieden werden, ob die Behandlung ambulant oder in tagesklinischer Form oder in einer stationären Behandlung erfolgen soll oder muss. Zur weiteren Behandlung gehören in jedem Fall flankierende Maßnahmen wie Ergotherapie und Bewegung, kreative Ateliers mit zum Beispiel Musik- oder Maltherapie. Wir halten das in unseren Angeboten in der Klinik auch vor, dazu etwa auch Entspannungsverfahren und insbesondere regelmäßige sportliche Aktivitäten. Deren Nutzen ist auch gesichert.
Wie sieht ein häufiger Behandlungsverlauf konkret aus? Können Sie das beispielhaft erläutern?
Oft geht jemand zum Hausarzt, weil er Beschwerden hat, und oft stellt er körperliche Beschwerden in den Vordergrund, bis sich dann nach verschiedenen Untersuchungen herausstellt, dass es eher im Bereich des Psychischen liegt. Dann entscheidet der Hausarzt, ob er selbst bei einer leichten Depressionsform mit einer Behandlung beginnt oder ob er den Patienten weiterschickt zum Facharzt. Der Facharzt kann dann entscheiden, wie die weitere Behandlung laufen soll, ambulant oder stationär, zum Beispiel zur Abwendung von Gefahren wie dem Suizid. Festhalten muss man, dass die Depression also eine Krankheit ist, die auch das gesamte soziale Umfeld, insbesondere die nächsten Angehörigen mit betrifft. Dazu möchte ich auch auf die Selbsthilfegruppen hinweisen. Insbesondere gilt auch, wie bei anderen psychischen Erkrankungen, das Motto des deutschen Bündnisses gegen Depression: „Darüber reden rettet leben."