In Zeiten des Kalten Krieges war der Dresdner Christstollen so etwas wie ein Bindeglied zwischen Ost- und Westdeutschland für all jene, die Verwandte im jeweils anderen Teil hatten. Wie für unsere Autorin. Auch heute noch ist das Gebäck aus Dresden etwas ganz Besonderes. Eine Spurensuche.
Vorweihnachtszeit in Deutschland Ende der 1960er-Jahre. Ein zweigeteiltes Land. Wir waren im Westen, doch ein Großteil meiner Familie war drüben. Drüben – so nannte man die Ostzone. Für mich als kleines Mädchen aus der damals gerade mal 20 Jahre alten Bundesrepublik war es ein geheimnisvolles Land, in das man nicht so ohne Weiteres reisen konnte. Es war so ganz anders als der Bodensee oder der Chiemsee, die ich von Familienurlauben kannte. Auch ganz anders als Rimini oder Jesolo in Italien, wo wir die Sommerferien verbrachten. Und ganz anders als die beliebtesten Ferienziele von einst, nämlich Mallorca und die Balearen.
![Bäckermeister Heiko Trepte mit den Inhaltsstoffen für den Original Dresdner Christstollen.](/sites/default/files/inline-images/51_Leben_Ernaehrung_Christstollen_BE_02.jpg)
Die DDR war nicht greifbar. Überhaupt nicht. Doch der Dresdner Christstollen, der uns jedes Jahr in der zweiten Adventswoche mit der Paketpost erreichte, bedeutete für meine zweigeteilte Familie eine große Freude, Zuversicht und Zusammenhalt. Man wusste, dass Weihnachten bevorstand.
Drüben lebten Großonkel und Großtante sowie die Cousins und Cousinen. Einer meiner Cousins war so alt wie ich. Meine Mutter war seine Patentante. Die Weihnachtspäckchen für die Ostzone liebevoll zu gestalten war so aufregend. Meine Mutter arbeitete in der Modebranche, und es war klar, dass sie meine Cousins mit Markenjeans und Sweat-Shirts beschenkte. Die waren bei den jungen Leuten in der DDR sehr begehrt. Mutters Cousine bekam dagegen Nylons, und den letzten modischen Schrei aus dem Westen. Mal ein schickes Kostüm, mal einen extravaganten Pulli oder ein besonderes Accessoires. Meine Großmutter legte zum Abschluss immer noch ein Pfund Bohnenkaffee dazu. Schließlich wurden die Kartons mit Packpapier umwickelt und von Oma, ausgestattet mit Filzschreibern, noch liebevoll mit Tannenzweigen und Christbaumkugeln bemalt. Dann war das alljährliche Vorweihnachtsritual geschafft. Gemeinsam trugen wir die Schätze auf das nächste Postamt und freuten uns, wenn sie rechtzeitig den Weg Richtung Osten nahmen. Das alles passierte in der ersten Adventwoche. Damit hatten wir die Gewissheit, dass Jeans, Pullis, Strümpfe und Kaffee am Heiligen Abend unter dem Weihnachtsbaum liegen konnten. Drüben.
Stollen per Paket aus der Ostzone
Und hüben freuten wir uns schon riesig auf den Stollen. Doch nicht nur das. Weitere Schätze, die durch die Päckchen in unsere West-Wohnzimmer gelangten, waren die Figuren aus dem Erzgebirge. Ich habe sie geliebt: Da gab es die Kurrende-Sänger, die großen Nussknacker, Pyramiden, die mit angezündeten Kerzen in Schwung kamen und natürlich die wunderschönen Schwibbögen. Diese stellte meine Familie in die Fenster, und genau dann, wenn man auch von draußen ihren Kerzenschein sah, begann für mich Weihnachten.
Nie hätte ich mir träumen lassen, in ferner Zukunft der Stollenhauptstadt Dresden einen Besuch abstatten zu können. Das geschah tatsächlich erst lange Jahre nach dem Mauerfall und in der Vorweihnachtszeit. Am meisten beeindruckte mich das Lichtermeer des Dresdner Striezelmarktes an der Frauenkirche und die Tatsache, dass es ihn seit 1434 gibt und er damit der älteste deutsche Weihnachtsmarkt ist. Untrennbar mit ihm verbunden ist der Dresdner Christstollen, mein alter Bekannter aus Kindheitstagen. Das weltberühmte Traditionsgebäck darf nur von ausgewählten Bäckern aus Dresden und der Region hergestellt werden.
![Bäcker und Helfer zer- und verteilen den tonnenschweren Riesenstollen zum Stollenfest auf dem Striezelmarkt.](/sites/default/files/inline-images/51_Leben_Ernaehrung_Christstollen_BE_03.jpg)
Therese Lehnart gehört zum Team der Backwirtschaft Wippler in Dresden-Pillnitz. Drei Monate vor Weihnachten beginnen die Vorbereitungen. Insgesamt 20.000 Stollen erblicken hier das Licht der Welt. „Da wird richtig rangeklotzt, um alles fertig zu bekommen", sagt die Bäckermeisterin. Früher wurde der Stollen in den ärmeren Bevölkerungsschichten mit Öl gebacken. Später kam das Butterverbot hinzu. Daraufhin baten Kurfürst Ernst von Sachsen und sein Bruder Albrecht Papst Innozenz VIII., das Verbot aufzuheben. Der Heilige Vater erhörte ihre Bitte und sandte im Jahr 1491 den „Butterbrief" in die Regentenstadt. Von da an durften die Stollenbäcker auch gehaltvollere Zutaten für ihr Gebäck verwenden.
„Mandeln wurden wegen dem besonderen Aroma in Rum eingelegt", sagt Lehnart. In der Tat, erste Aufzeichnungen über das Stollenbacken reichen bis in das Jahr 1414 zurück. Damals galt er als Fastenzeit-Gebäck, erst viel später wurde der Striezel, wie man den Stollen auch nennt, aromatischer. Die Fachfrau kennt die Präferenzen der weltweiten Kundschaft. „Manche mögen ihn glitschig", lacht sie. „Ich nicht, damit liegt er mir zu schwer im Magen. Ich mag ihn trocken, dann esse ich auch gern ein Stückchen mehr", betont die Vegetarierin. Dann plaudert sie aus dem Nähkästchen, erzählt von den kleinen 750-Gramm-Stollen, die speziell und auf Wunsch angefertigt werden.
Auch davon, dass im Familienbetrieb Wippler, der mittlerweile in der vierten Generation Stollen herstellt, zwei Bäckereien mit ihren eigenen Zutaten backen dürfen. Marzipan jedoch ist für einen Dresdner Christstollen ein Tabu. „Das gehört bei uns nicht rein", lacht sie. „Der Striezel sollte mindestens zehn Tage alt sein, bevor er in den Verkauf kommt", ergänzt die gebürtige Lausitzerin. Sie selbst lässt ihn sechs Wochen ablagern, denn erst dann sei er ausgereift und entfalte sein volles Aroma. „Stollen isst man nie mit der Kuchengabel, und aufgeschnitten wird er von der Mitte aus nach außen", lautet der Geheimtipp der Konditorin. Sie selbst trinkt dazu gern eine Tasse Kaffee oder Tee. Manchmal darf es auch ein Glühwein sein.
Marzipan ist für einen Dresdner Stollen tabu
![Lina Trepte ist in diesem Jahr das Dresdner Stollenmädchen – vergleichbar mit einer Weinkönigin andernorts.](/sites/default/files/inline-images/51_Leben_Ernaehrung_Christstollen_BE_04.jpg)
Lina Trepte wurde für 2018 zum Dresdner Stollenmädchen gekürt. Als Markenbotschafterin des Traditionsgebäcks ist sie im Sinne des Stollens weltweit unterwegs. Voraussetzungen für die Kandidatur sind, dass die Stollenmädchen selbst aus dem Handwerk kommen und mit ausgezeichnetem Stollen-Fachwissen glänzen müssen. Doch was hat es mit dem Stollenfest auf sich, das seit 1994 jedes Jahr am Samstag vor dem Zweiten Advent in der Innenstadt stattfindet? „Kurfürst August der Starke veranstaltete im Jahr 1730 eine opulente Truppenschau, für die er einen 1,8 Tonnen schweren Riesenstollen backen ließ", erklärt die Radebeulerin. „Als Anfang der 90er-Jahre nach sächsischen Kulturschätzen geforscht wurde, stieß man auf einen Kupferstich von Elias Bäck, der einen Riesenstollen zeigte. So begann die Feier unseres jährlichen Dresdner Stollenfestes. Die alte Tradition lebte wieder auf", sagt die 18-Jährige, die noch im dritten Lehrjahr im elterlichen Betrieb das Backhandwerk erlernt.
In diesem Jahr wurde das 25. Dresdner Stollenfest am 8. Dezember gefeiert. Sein Highlight war der etwa dreieinhalb Tonnen schwere sowie rund vier Meter lange, zwei Meter breite und einen Meter hohe Dresdner Riesenstollen, der größte Stollen der Welt. Nach seiner feierlichen Enthüllung auf dem Schlossplatz fährt der Riesenstollen traditionell auf einem vierspännigen Pferdefuhrwerk in einem farbenfrohen, traditionellen Festumzug durch die Altstadt. Unter den Blicken Tausender Schaulustiger folgt die Umzugsroute einem Rundkurs durch die Dresdner Altstadt. „Es ist das am besten besuchte Wochenende in der Vorweihnachtszeit mit mehr Besuchern als beim New York-Marathon", ergänzt Trepte. Ziel des Festumzuges ist immer der Striezelmarkt auf dem Altmarkt. „Der Erlös des Stollenverkaufs kommt einem karitativen Zweck zugute", erklärt sie.
Dresdner Christstollen werden ausschließlich in rund 120 Bäckereien und Konditoreien in und um Dresden hergestellt. Man erkennt sie am goldenen Qualitätssiegel, das August den Starken hoch zu Ross zeigt. Handwerk und Tradition sind in Dresden eng verwoben. Und wer sich für das Backen der Spezialität selbst interessiert, ist beim Stollen-Backkurs willkommen. Hier lässt sich hinter die Kulissen des Traditionsgebäcks blicken. Die Gäste können selbst Hand anlegen. In den Erlebnisbäckereien erfahren sie außerdem, wie viele Rosinen in einen Stollen gehören, warum dieser manchmal flüstert und was das Gebäck mit dem Christkind zu tun hat. •