Als Schaufenster für unterschiedlichste Trends im zeitgenössischen Tanz kommt die diesjährige Ausgabe von „Tanz im August" daher. Mit einer Verbeugung vor großen Namen und viel Raum für Entdeckungen.
Weißgetünchte Backsteinwände, ein Kleiderständer, von dem bunte Bomberjacken baumeln. In der Ecke ein Tisch, auf dem Wasserkisten und viel Nervennahrung aufgebaut sind. Und davor eine Gruppe von Mädchen und jungen Frauen in Trainingskleidung, in ihrer Mitte Choreografin Oona Doherty. Gerade ist die Nordirin für einige Tage in Berlin, um hier mit extra dafür gecasteten Jugendlichen ein Kapitel ihrer vierteiligen Choreografie „Hard To Be Soft – A Belfast Prayer" einzustudieren. Und dass die so unterschiedlich vorgebildeten jungen Tänzerinnen dafür viel Kraft brauchen, wird schnell klar. Als Doherty ihnen nämlich ein ganzes Paket von Übungen mit Liegestützvarianten und tiefen Pliés zum Training der Oberschenkelmuskulatur quasi als Hausaufgabe mit auf den Weg gibt.
Choreografien und Tanzvideos
Im sonnigen Hof vor dem Probenstudio ist Zeit für eine Zigarettenpause. Oona Doherty schmunzelt. Ja, Krafttraining sei für die Gruppenchoreografie „Sugar Army" essenziell, sagt die 33-Jährige. Denn ihr käme es darauf an, in der Szene ein raueres, auf jeden Fall vielschichtigeres Bild junger Frauen zu zeichnen, als es beispielsweise von unzähligen Instagram-Accounts verbreitete werde. Dass es wichtiger sei, seine Persönlichkeit zu entwickeln, als sich einem Image anzupassen, das wolle sie den jungen Tänzerinnen dabei auch vermitteln – jetzt in Berlin, zuvor in Paris und in Belfast. An jedem dieser Aufführungsorte – momentan auch in Edinburgh und London in Vorbereitung für dortige Gastspiele – werden neue Tänzerinnen gecastet. Dohertys Traum: einmal mit allen gemeinsam in Belfast tanzen – am besten als politische Demonstration. Überhaupt, sagt die Absolventin des Laban Conservatory in London, versuche sie, den „Tanz in die Vororte zu bringen". Und weil die Theater, an denen ihre aktuelle Arbeit gezeigt wurde, meist als renommierte Kulturorte im Stadtzentrum lagen, schlägt sie einen anderen Weg ein, indem sie aus den Choreografien auch gleich Videoclips gemacht hat, in der Hoffnung, dass diese auf Youtube möglichst häufig angeklickt werden.
Energiegeladen, aber in den Soloparts mitunter kontemplativ – Oona Dohertys choreografischer Ansatz ist eines von so vielen schillernden Teilchen im Festivalmosaik. Übervoll präsentiert sich das Programm des diesjährigen „Tanz im August", einer der Schwerpunkte: eine „Re-Perspective" der Werke von Deborah Hay. Die Choreografin war in den 60er-Jahren Mitbegründerin des Judson Dance Theatres in Manhattan und gilt als eine der prominentesten Vertreterinnen des Post Modern Dance. „Animals on the Beach" – so lautet der Titel ihres Stücks für fünf professionelle Tänzer – eine Uraufführung. Und ebenso erstmalig ist Hays Solo „My choreographed body" zu sehen – spektakulär schon deshalb, weil sich hier 50 Jahre choreografische Erfahrung ballen.
Hommage an Cunningham
Einem anderen herausragenden Vertreter des Modern Dance ist ein weiteres Festivalkapitel gewidmet – vor 100 Jahren wurde Merce Cunningham geboren, der seine eigene Tanztechnik entwickelte, auf dieser Grundlage choreografierte. Und den modernen Tanz revolutionierte. Nicht zuletzt, weil er Gesamtkunstwerke schuf – mit Komponist John Cage ebenso wie mit Künstler Robert Rauschenberg wiederholt zusammenarbeitete. Das Ballet de Lorraine gastiert nun in Berlin mit zwei Cunningham-Klassikern, außerdem hat das Dance-On-Ensemble ein Stück auf Grundlage von typischem Bewegungsmaterial aus Cunningham-Choreografien entwickelt.
Unterschiedliche Bewegungseinflüsse und Tanzstile zusammenbringen, darum geht es beispielsweise Anne Nguyen und ihrer Compagnie par Terre. Nguyen studierte Naturwissenschaften, schreibt Gedichte und ist Hip-Hop-Champion. In ihrer neuen Choreografie „Kata" lässt sie Elemente aus dem Kampfsport und Breakdance miteinander verschmelzen – acht Tänzer scheinen sich zu treibenden Beats in moderne Krieger zu verwandeln. Rhythmisch und kraftvoll ist auch die Kunstform des Flamencos, mit der sich Albert Quesada und Zoltán Vakulya in ihrer Arbeit „One Two Three One Two" beschäftigen. Wie kann dieser alte und dennoch so lebendige Tanz auch heute Geschichten erzählen, wie eng sind hier Rituale und sich weiter entwickelnde Techniken miteinander verwoben? Das untersucht Albert Quesada im Duett mit Tänzerin Katie Vickers, hypnotisch ist das – und unglaublich schweißtreibend.
Sehgewohnheiten hinterfragen
Ganz anders das Konzept von James Batchelor and Collaborators. Der Choreograf und Filmemacher begleitete 2016 rund 60 Wissenschaftler auf eine zweimonatige Expedition in die Antarktis. Sein Stück „Deepspace" ist nun die Antwort auf diese Reise – verbunden werden Klänge, Tanz und eine Installation. Wie in einer Traumsequenz scheinen sich Batchelor und seine Mitperformerin Cloe Chignell über die Bühnenfläche zu bewegen, lassen Objekte, die an Eisschollen erinnern, durch den Raum gleiten und Metallkugeln über ihre Körper rollen. Eine Arbeit, die auch Einsatz vom Betrachter fordert, nicht nur, weil sich das Publikum hier um die Performer herum bewegt, sich jeder Zuschauer seine Perspektive suchen muss. Das Hinterfragen von Sehgewohnheiten, von Körperbildern spielt fast schon traditionell eine wichtige Rolle bei „Tanz im August", nicht nur in vielen der präsentierten Stücke, sondern auch im Beiprogramm. „Meet the Artist" heißen die moderierten Talks im Anschluss an ausgewählte Vorstellungen. Hier kann man von den Künstlern mehr über ihre Inspiration und Arbeitsweise erfahren. „On the Sofa" hingegen ist eine Reihe von Podiumsdiskussionen zu Themen rund um den Tanz im gesellschaftlichen und politischen Kontext – so geht es beispielsweise um die Me-Too-Debatte, aber auch um den Tanz in der DDR im Wendejahr 1989.