
Innsbruck ist ein Hotspot für Kletterer. Ob in der Halle, am Fels oder am Berg: Hier finden sich viele Möglichkeiten und genauso viele Schwierigkeitsgrade. FORUM-Autorin Barbara Schaefer hat sich zum Test auf den Weg gemacht – was fast schiefgegangen wäre.
Es beginnt harmlos in Innsbruck. Direkt unterm „Goldenen Dachl" steht eine Bühne. Dort singt ein Trachten-Chor das Andreas-Hofer-Lied – mehr Tirol geht nicht. Aber Innsbruck kann auch anders, die Tiroler Landeshauptstadt vermarktet sich als „Climbers’ City". Rund um die Stadt kann man emporsteigen: an hohen Bergen, in Sportklettergebieten und im neuen Kletterzentrum Innsbruck. Reini Scherer hat zehn Jahre für diese Halle gekämpft. Er ist 52 Jahre alt, hager, mit grauen Strubbelhaaren, Erstbegeher von „Dschungelfieber" – einer sauschweren Kletterroute mit dem Schwierigkeitsgrad XI in der Martinswand – Steilwandskifahrer und Trainer des Spitzenkletterers David Lama. Im Kletterzentrum sieht es aus, als hätte jemand riesige Smarties an die Wand geklatscht: 50.000 bunte Griffe für 400.000 Euro wurden installiert, jede Woche werden 30 neue Boulder geschraubt. Das heißt, die Griffe werden abmontiert und in neuen Kombinationen wieder angebracht. Dazu werden Schrauber aus der ganzen Welt eingeladen. Das sei eine Kunst für sich, und verschiedene Nationalitäten hätten unterschiedliche Herangehensweisen: „Die Franzosen schrauben dynamische Routen, die Polen mehr für Kraft." Hier starten nun junge Tirolerinnen und Tiroler ihre Kletterkarriere, was nicht heißt, dass man sie je an der Martinswand oder in der Ehnbachklamm sehen wird. „80 Prozent bleiben in der Halle, gehen gar nicht an den Fels", sagt Scherer. In der Halle trifft sich die Szene aus der ganzen Welt, was wiederum Kletterer anzieht – zum Promigucken. So kann man hier die Österreicherin Anna Stöhr treffen, zweifache Weltmeisterin und vierfache Weltcupsiegerin im Bouldern.
Touren auch für weniger Sportliche

Stöhr, 30, ist eine zierliche Person, 1,63 Meter groß. Wer sagt, er sei zu klein zum Klettern und käme an Griffe nicht ran – sie ist der Beweis, dass das nicht stimmen muss. Und nicht nur sie, wie wir noch sehen werden. „Klar klettere ich auch draußen. Dann weiß man wieder, warum man überhaupt klettert", sagt Stöhr. Also stehen wir bald im Klettergarten Walchenbach, dort hat wiederum Angy Eiter angefangen. Eiter, viermalige Weltmeisterin im Lead-Klettern, 32, große Augen, muskulöse, sehnige und doch schmale Arme, bindet sich ins Seil ein. Als erste Frau überhaupt kletterte sie 2017 in Andalusien eine Route im französischen Schwierigkeitsgrad 9b, die weltweit auch nur eine Handvoll Männer knacken konnte.
Eiter ist 1,54 Meter groß. „Ich bin klein, ja, aber ich bin auch wendig", sagt die Tirolerin. Da müsse sie eben ihre Stärken in die Wand bringen. „Das ist ja das Tolle an diesem Sport. Es ist schon lässig, wenn man an seine Grenzen stößt." In Walchenbach klettere sie nur noch selten, bestimmt kennt sie da jeden Griff. Die Sportkletter-Routen überziehen senkrechte, schwarz und hellbeige geäderte Kalkwände in einem Wäldchen bei Imst. Wer Schweres knacken will, wird hier fündig. Aber für weniger Sportliche wie mich finden sich hier auch Touren an griffigem Fels. Und wer das mit dem Fels überhaupt erst mal ausprobieren will, kann im Klettersteig oberhalb von Imst herumturnen, was sich als überraschend anstrengend herausstellt. Sportkletterer treffen sich auch in der Ehnbachklamm mit lotrechten Wänden entlang eines Baches, ein Paradies für Sportkletterer – auch weil man in Badeschlappen hinschlurfen kann. Zwei Tiroler Haudegen des Sportkletterns, Jakob Oberhauser, ein gedrungenes Muskelpaket, und Robert Thaler, die langen Haare zu einem dünnen Zopf gebunden, beide 47, waren oft dort. Sie haben rund um Innsbruck zahlreiche sehr schwere Routen eröffnet, die Namen von Bob-Marley-Songs tragen, etwa „Buffalo Soldiers". Da kann man sich denken, dass das eine Weile her ist.

Von Bohrhaken, die bombenfest halten, war damals noch nicht die Rede. „Die Dübel waren aus Messing und die Haken aus Stahl, das korrodierte in einem Jahr", erinnert sich Oberhauser. Als sichere Haken eingedübelt werden sollten, gab es Proteste. Nicht von Naturschützern, sondern von Kletterern: „Des duad ma ned", habe es geheißen. „Damals hieß es: wärst nit auffi gstiegen, wärst nit obigfalln." Heute durchlaufen die Kletterer Kurse, in der Halle sei alles „supersafe".
Das Klettern finde heute, wie eben das ganze Leben, in einem behüteten, gesetzlich geregelten Umfeld statt, sagt Oberhauser. Bei manchen Touren müsse er im Nachhinein sagen: „Das bin ich nicht geklettert, das habe ich überlebt." In einem Anfall von Nostalgie haben sie sich vor ein paar Jahren T-Shirts drucken lassen, auf denen stand: „Remember the times when sex was safe and climbing was dangerous" („Erinnere dich an die Zeiten, als Sex sicher und Klettern gefährlich war").
Spitzensportler als Vorbilder?
Wie gefährlich ist Klettern, und wie gefährlich darf es sein? Und wie gefährlich darf das Leben sein? Beim Abendessen entspinnt sich darüber eine Diskussion. Spitzensportler werden beobachtet, man sieht ihre Videos im Netz. Sind sie Vorbilder, gar Helden? Angy Eiter sagt: „Im Wettkampf war ich die erste Österreicherin, da war ich Vorreiterin, sicher auch Vorbild." Aber was, wenn Videos Nachahmer anstacheln, die Gefahren weniger gut einschätzen können? Etwa bei Free Solo, also bei Klettertouren ganz ohne Seil, bei denen jeder Fehler zum Tod führen kann. Eiter stellt die Gegenfrage: „Darf jemand das, was er so gerne macht, jetzt nicht mehr machen, weil man ihm dabei zuschaut?"

Ein Kletterer argumentiert, man sei nie allein auf der Welt, es gebe ein Umfeld, das sich sorgt. Deshalb dürfe man sein Leben nicht riskieren. „Aber ist es nicht mein Leben?", lautet die Gegenfrage. Und wer darf beurteilen, welches Risiko für wen zu groß ist? Für einen ist ein Fünfer im Vorstieg bei schlechter Hakenlage ein gewagtes Unterfangen, andere steigen Free Solo auf den El Capitan und wissen, was sie dabei wagen. Sie gehen raus und die Wände hoch für ein pralles Leben und nicht für einen schnellen Tod. Und wenn jemand Kinder hat: Darf er oder sie dann noch gefährliche Touren machen? Ich plädiere, wie oft, für ein Recht auf Risiko. Ich möchte mich in Gefahr begeben dürfen, mit der Konsequenz, im Nachhinein niemand anderen verantwortlich machen zu wollen. Das nämlich sind die zwei Seiten der Medaille.

Klettern in der Halle, dann am Felsen; nun will ich aber an den Berg, es erscheint mir eine logische Steigerung, auch wenn Oberhauser sagte: „In der Sella bist du früher Schlange gestanden an den berühmten Touren. Heute bist du da allein, auch am Wochenende." In der Sella, ausgerechnet! Da habe ich angefangen mit dem Klettern in den Bergen.
Es ist Sonntag, Herz-Jesu-Sonntag. Als ich auf den Bergführer Martin Gstrein warte, zieht an mir eine Prozession zur Kirche vorbei, mit Blaskapelle und Schützen mit riesigen Gänsefedern am Hut. Die Truppe präsentiert das Gewehr, bis einer mit scharfer Stimme ruft: „Kompanie abtreten zum Gottesdienst!" Tirol eben. Wir steigen eineinhalb Stunden Richtung Muttekopfhütte bei Imst auf, schon dieser Teil gefällt der Sportkletterer-Gemeinde eher nicht: wandern. Wir wollen am Engelkarturm den Engelpfeiler gehen, Schwierigkeitsgrad 5+. Gstrein, Unterlippenbärtchen, brustgroßes Tattoo, eine Zahnlücke seit dem letzten Eisklettern, rät gleich am Einstieg zum Helm. „Im Frühjahr kommt oft was runter. Im Winter dringt Wasser ein, die Steine gefrieren an der Wand. Wenn es warm wird, lösen sie sich." Vier Männer sind schon über uns eingestiegen, sie sind aus Bayern.
Bereits bei der ersten Seillänge bröseln kleine Steine von oben herunter. Martin steigt vor, ich steige nach. Einmal habe ich an einer gar nicht so leichten Stelle plötzlich den Griff in der Hand, an dem ich mich festhalten wollte. Das Gestein ist wirklich etwas schütter hier.
Sportkletterer als Wandermuffel
Ich erreiche den nächsten Standplatz, Martin klettert weiter. Ich sichere ihn. Er entschwindet meinen Blicken, ich schaue in die Landschaft: eine Welt aus senkrechten Felswänden um mich, viel Luft unter mir, das ist dann doch das Großartige, was das klassische alpine Klettern vom Sportklettern unterscheidet.

Martin hat den nächsten Standplatz gebaut, ich klettere los. Sollte ich stürzen, falle ich ins Seil und nicht ins Leere. Die Wand ist nahezu senkrecht, über mir wölbt sie sich sogar. Und während ich grübele, wie ich da drüber kommen soll, passiert weiter oben auf einen Schlag sehr viel, und der Bauch im Fels über mir wird mir das Leben retten.
Es kracht, ich höre Rufe: „Stein!" ich klammere mich so platt an den Fels, wie es geht. Hinter mir rumpelt etwas Großes vorbei, Steine prasseln auf den Helm, viel Zeit zum Denken ist nicht, mir rauscht etwas durch den Kopf wie: „Oh shit, oh shit", da ruft Martin von oben: „Barbara, alles gut?" „Ja!" Ich zittere, reiße mich zusammen und klettere bis zu ihm. Martin wurde am Arm erwischt, es sind nur Kratzer. Was war passiert? Die Seilschaft über uns hat eine Felsplatte aus der Wand gerissen. Wie wir später an einer hellen Stelle in der Wand sehen werden, hat sich wohl der Nachsteiger an einer Steinplatte von der Größe eines Couchtisches festgehalten, die nur an der Wand auflag. Und die rumste zu Tal, an Martin vorbei, weil er zum Glück einen Schritt weiter rechts stand, und über mich hinweg, weil sich der Fels über mir etwas herauswölbte. Da hatte ich also mein Recht auf Risiko.

Wir klettern weiter, und es wird noch ein schöner Klettertag. „Du wolltest doch was Alpines", sagt Martin später bei einem Radler. Wir waren zur rechten Zeit am rechten Ort. Oder wie der Bergführer Martin Gstrein auf der Latschenhütte sagen wird: „An Fetten muaßt a amol hobn im Leben." Und „fett viel Glück" hatten wir wahrlich.