Abend für Abend lassen sich hier knapp 2.000 Zuschauer von den perfekt inszenierten Shows faszinieren. Die wenigsten wissen um die wechselvolle Geschichte des Friedrichstadt-Palastes.
Die Anspannung liegt in der Luft. Auf die Hinterbühne des Friedrichstadt-Palastes wird eine große Stahlkonstruktion geschoben, während eine Bühnenarbeiterin mit einem Schrubber am Bühnenrand entlangwischt, um mögliche Stolperfallen für die Künstler zu beseitigen. An einem Kleiderständer baumeln die Kostüme, in denen sich später in der Show die Tänzerinnen zur Chorus Line, zur traditionellen Girl-Reihe, formieren werden. Und durch den Künstlereingang kommen nach und nach die Darsteller und Mitglieder des Ensembles ins Theater, noch unauffällig in ihrer normalen Kleidung, in Jeans und Sneakern. Noch ein schneller Kaffee in der Kantine, dann geht’s in die Maske, wo die Sänger und Tänzer in schillernde Wesen verwandelt werden, die förmlich aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Und die wenig später auf der Bühne Teil einer fantastischen Geschichte sein werden, die mit Musik und Tanz, spektakulärer Artistik und technischen Effekten erzählt wird.
„Vivid", so heißt die aktuelle Show im Berliner Friedrichstadt-Palast, die im vergangenen Herbst Premiere feierte und seitdem dafür sorgt, dass die 1899 Plätze des Theaters quasi jeden Abend voll besetzt sind. Eine Geschichte, die eigentlich ein wenig banal daherkommt und doch den roten Faden für eine Collage aus mitreißenden Tanzszenen, Gesangsnummern und atemberaubenden Akrobatik-Einlagen liefert, eingerahmt von einem fantasievollen Bühnenbild und in einer Ausstattung, die kaum aufwendiger sein könnte. Schließlich hat der Friedrichstadt-Palast bei den Kostümen mit dem „berühmtesten Hutmacher der Welt", Philip Treacy, zusammengearbeitet. Der designt sonst Hutkreationen und Kopfschmuck für die Queen, den britischen Hochadel, die Label Alexander McQueen und Ralph Lauren oder Popstars wie Lady Gaga. Für „Vivid" entwarf er Kopfschmuckkreationen, die mal wie eine leuchtende Orchideenblüte, dann wieder wie eine schillernde Schlangenhaut aussehen. Oder aus Hunderten Federn zusammengesetzt sind und wie ein überdimensionaler Seeigel das Gesicht einer Tänzerin einrahmen. An manchen dieser Kopfputz-Designs oder Hüte habe der Designer wochenlang gearbeitet, sagte Dr. Bernd Schmidt, seit 2007 Intendant des Friedrichstadt-Palastes bei einem Pressetermin. Viele dieser Stücke hätten durchaus den Wert eines Mittelklassewagens.
Doch zurück zum Stück selbst. „Vivid", so Bernd Schmidt, „passe gut in unsere Zeit der ethnokulturellen Homogenität", dem wolle man mit der Show, bei der es um die Suche nach der eigenen Identität geht, etwas entgegensetzen. Und die Handlung könne man auch nachvollziehen, wenn man kein Deutsch verstehe. Das Mädchen R’eye wird von ihrem Vater getrennt, in eine Androidin verwandelt und Teil eines in glänzendes Schwarz-Weiß gekleideten Roboter-Heers, das sich stets im Gleichklang bewegt. R’eye versucht sich aus dieser Monotonie zu befreien, ihre Individualität zum Ausdruck zu bringen. Was ihr nach zahlreichen Begegnungen mit fantastischen Wesen – von den Fröschen auf ihren stilisierten überdimensionalen Grashalmen bis hin zu den unbegreiflich biegsamen „Schlangenmenschen" – schließlich auch gelingt. Eine Story, die das bunt gemischte Publikum nunmehr seit über einem Jahr Abend für Abend begeistert. Von Schülergruppen, für die der Showbesuch eines der Highlights ihrer Berlinfahrt ist, bis hin zu Touristen aus aller Welt. Und schließlich die Berliner selbst, die sich keine Produktion in „ihrem" Palast entgehen lassen wollen. Rund 60 Prozent der Besucher kommen aus Berlin und dem Umland.
Ein „Geschenk an die Stadt"
Gleich zwei Jubiläen kann der Palast in diesem November feiern: den Mauerfall vor 30 Jahren, wie es ganz Berlin mit einer Vielzahl von Veranstaltungen tut. Aber auch das eigene 100-jährige Bestehen am 29. November. Dazu wird der Palast – so kündigte es Verwaltungsdirektor Guido Hermann an – keine VIPs sondern „ganz normale Berlinerinnen und Berliner" einladen – Polizisten, Feuerwehrleute, Krankenschwestern beispielsweise. Ein „Geschenk an die Stadt" solle das sein, auf Einnahmen verzichte man.
Auf gewisse Weise ein Geschenk war auch das Große Schauspielhaus, das vor 100 Jahren seine erste Vorstellung erlebte, das Vorgängertheater des Friedrichstadt-Palasts. Am 29. November 1919 eröffnete es auf einem Gelände, auf dem am Schiffbauerdamm eine Markthalle gebaut worden war, die das Publikum aber nicht annahm. Daher wurde das Gebäude zunächst von mehreren Zirkusunternehmen genutzt, bevor es der Theatervisionär Max Reinhardt übernahm. Er ließ es von dem Architekten Hans Poelzig zu einem modernen Revuetheater umbauen – mit 5.600 Zuschauerplätzen und einem Theatersaal, dessen gusseiserne Konstruktion von einer Stuckdecke mit herabhängenden Zapfen verkleidet wurde. Die Berliner sprachen schnell von ihrer „Tropfsteinhöhle".
Mit der griechischen Tragödie „Orestie" von Aischylos wurde das neue Theater eröffnet – später standen Komödien wie Ralph Benatzkys „Das weiße Rössl", vor allem aber die Revuen von Erik Charell auf dem Spielplan. Der revolutionierte die im Frankreich des 19. Jahrhunderts entstandene Kunstform und entwickelte sie unter Einsatz der neuen technischen Möglichkeiten zu überwältigenden Bilderschauen. In der NS-Zeit wurde das Große Schauspielhaus umbenannt: Es hieß nun „Theater des Volkes" und war während der Olympischen Spiele von 1936 einer der Veranstaltungsorte für das Kulturprogramm. Durch Bombentreffer im Zweiten Weltkrieg beschädigt, erhielt das Theater 1947 nach seiner Wiedereröffnung durch die sowjetische Militärregierung seinen Namen: Friedrichstadt-Palast.
Anfang 1980 wurde das Haus wegen Einsturzgefahr geschlossen, anderthalb Jahre später der Grundstein für den Neubau gelegt. Bereits am 27. April 1984 öffnete das mit neuester Technik – unter anderem einem versenkbaren Wasserbecken – ausgestattete Theater an der Friedrichstraße mit einer großen Feier. Staatschef Erich Honecker saß im Parkett, umringt von Parteifunktionären, unter anderem dem SED-Wirtschaftslenker Günter Mittag. Dem missfielen einige der Pointen von Moderator O.F. Weidling so sehr, dass dieser bald vom DDR-Fernsehen ausgeschlossen wurde, was quasi einem Berufsverbot gleichkam.
Nach der Wende von Abwicklung bedroht
In den Jahren bis zur Wende sorgte unter anderem die DDR-Fernseh-Kultsendung „Ein Kessel Buntes" für ein vollbesetztes Haus – schließlich konnte sich so jeder DDR-Bürger die TV-Stars wie Helga Hahnemann mal aus der Nähe anschauen. Ihr zu Ehren wurde seit 1995 bis 2010 im Friedrichstadt-Palast der Publikumspreis „Goldene Henne" verliehen. Und überhaupt – das in bunten fantasievollen Kostümen gekleidete Tanzensemble, die beeindruckende Bühnentechnik, die Akrobaten, der Glamour – welch ein Kontrast zum oftmals so grauen Alltag im Osten Deutschlands.
Dann kam der 9.November 1989 und damit eine mehr als schwierige Zeit für den Palast. Manchmal saßen nur einhundert Zuschauer in dem riesigen Saal, so erinnerte sich eine langjährige Mitarbeiterin vor wenigen Jahren im „Tagesspiegel"-Interview. Die alten Ost-Stars waren keine Zugpferde für ein gesamtdeutsches Publikum, die westdeutschen Künstler zu teuer. Zudem war das Revuetheater einige Zeit von der Abwicklung bedroht, im Westen Deutschlands war die Sparte Unterhaltung im Theater inzwischen meist mit US-amerikanischen Musicals besetzt. Mit der für den Friedrichstadt-Palast typischen Mischung aus Musik, Tanz, Conferencen und Akrobatik konnte das Theaterpublikum zunächst nichts anfangen.
Das aber sollte sich ändern: 1993 übernahm der ehemalige Dramaturg des Hauses Alexander Iljinsky das Theater als Intendant. Ihm gelang es innerhalb von elf Jahren, Europas größtes Revuetheater zu einer der ersten Adressen für perfekt inszeniertes Entertainment zu machen. Er stellte die „Girl-Reihe" in den Mittelpunkt, wagte auch mal das Crossover zur Oper, verband klassische Revue mit Theater-Elementen und sorgte so für ordentlich steigende Besucherzahlen.
Unter der Intendanz von Bernd Schmidt ging es dann weiter auf Erfolgskurs – die Shows „Qi" und vor allem „Yma" lockten Hunderttausende Besucher in das Revuetheater. Seit September hat der Palast zu seinem 100-jährigen Jubiläum das Foyer geöffnet. Hier ist eine Ausstellung zur Geschichte des Hauses zu sehen. Dabei kann man beispielsweise in alten Programmheften blättern oder auch in Zeitzeugen-Interviews mehr über die letzten hundert Jahre in „Europas größtem Revuetheater" erfahren.