Zwischen Zeitvertreib und Politik, Mathematik und sportlichem Wettkampf – Schach hat viele Gesichter. Nur eines nicht: Es ist kein Glücksspiel, sondern eine reine Kopfsache.
Nein, ein „Schach-Gen" gibt es nicht – das sagen auch die Großmeister. Es ist wie bei allen überragenden Leistungen: zehn Prozent Begabung, 90 Prozent Übung. Aber die Frage ist doch: Warum fasziniert unter allen Brettspielen gerade Schach so viele Menschen – und nicht Dame oder eines der vielen Spiele, die jedes Jahr neu erfunden werden?
Es sind zum einen die schier unendlich vielen Möglichkeiten, die dieses Spiel auf 64 Feldern mit 32 Figuren bietet. Jede Partie ist anders, jeder Zug provoziert eine Vielzahl von Gegenzügen, jede neue Kombination eröffnet eine andere Spielsituation. Zum anderen ist es der „Blick in die Unendlichkeit", wie es der Großmeister Marco Baldauf im Gespräch ausgedrückt hat. Das hat die Mathematiker schon immer gereizt: Die Zahl der möglichen Spielzüge in einer Partie geht ins Unendliche. Wer sich das einmal klar gemacht hat, kann nur erschauern.
Aber auch ohne ein Meister zu sein, bietet drittens Schach eine Chance zum geistigen Kräftemessen. Das geht manchem so nahe, dass er lieber gleich verzichtet, aus Angst, sich intellektuell zu blamieren – so wie Nicolas Williams in unserer Glosse.
Deswegen ist Schach zumindest für viele Erwachsene nicht einfach ein simpler Zeitvertreib. Das ist bei Kindern anders, sie gehen spielerisch mit den Figuren um und üben sich dann schon mal gern im Räuberschach. Aber auch sie – so die Erfahrung vieler Lehrer – verhalten sich auf einmal ruhig und besonnen. Schach widerspricht allen modernen Spielgewohnheiten. Wer sich auf eine Partie einlässt, muss die Zeit vergessen.
Der Blick in die Unendlichkeit
Auch die Maschinen, die längst besser spielen als jeder Großmeister, konnten den Menschen die Begeisterung für das Schachspiel nicht nehmen. Seit zu den Rechnern mit Schachprogrammen die Hightech-Computer mit Künstlicher Intelligenz dazu kamen, bilden sie eine eigene Klasse. Allenfalls benutzen sie die Profis als Trainingspartner. Dennoch lernen in Deutschland immer mehr Schüler das Spiel, und in Russland ist es demnächst Pflichtfach. Der ehemalige Präsident des Deutschen Schachbundes, Herbert Bastian, weist in unserem Interview darauf hin, dass man schon vor 200 Jahren erkannt hat, dass Schach die Denk- und Konzentrationsfähigkeit von Kindern schulen kann. „Schulschach hat immer Höhen und Tiefen erlebt, momentan boomt es", ergänzt er.
Andreas Burkhardt hebt hervor, dass Schüler durch Schach lernen, Entscheidungen zu treffen. Sie gewöhnten sich ans Denken und Planen, meint er, und zitiert unter anderem Ahmad C., der das so sieht: „Man muss tierisch aufpassen und jeden Zug genauestens durchdenken, das ist die Kunst."
Die Geschichte hat gezeigt, dass Schach immer wieder auch in der Politik eine Rolle gespielt hat: Für den Ritterstand gehörte das Spiel zum Pflichtprogramm in der Ausbildung, die Aufklärer zogen daraus Denkanstöße, die nicht zuletzt auch auf die Französische Revolution wirkten. Die Nazis versuchten, es für sich zu vereinnahmen, und im Kalten Krieg der Supermächte wurde die Partie Spasski gegen Fischer geradezu systemrelevant. Bis heute setzen sich Politiker gegenseitig unter Zugzwang, oder eine Verhandlung endet im Patt.
Aber ein Damenopfer sollte nur das Schachspiel kennen. Neben Springern, Läufern, Türmen und Bauern ist unbestritten der König die unbeweglichste Figur und gleichzeitig die, die in die Enge getrieben werden muss. Am wertvollsten dabei ist die Dame – sie kann sich nach allen Richtungen bewegen. In den meisten Spielen ist ohne sie der König schutzlos. Dass es also auf die Frauen ankommt, so könnte man schließen, wussten schon die unbekannten Erfinder des Schachspiels.