Ist es nur ein Spiel, ist es ein Sport oder gar Wissenschaft? Herbert Bastian, langjähriger Präsident des Deutschen Schachbundes, über Philosophie, Faszination, Computerkonkurrenz und neue Variationen des alten Spiels.
Herr Bastian, was macht eigentlich Schach so faszinierend?
Dazu könnte ich viele Geschichten erzählen. Disney hat 2016 den Film „Queen of Katwe" herausgebracht. Dieser Film erzählt die Geschichte einer Schachspielerin aus Uganda, die tatsächlich stimmt. Es geht um ein Mädchen, das seinen Vater früh verloren hat. Auf Nahrungssuche in den Slums trifft sie auf einen Missionar, der ihr Essen gibt und Schach beibringt. Phiona Mutesi wurde afrikanische Mädchenmeisterin und hat ihr Land bei der Schacholympiade vertreten. Die junge Frau studiert jetzt Medizin. Das ist eines der typischen Beispiele, dass Schach eben mehr ist, als am Brett zu sitzen. Schach bringt Menschen zusammen und eröffnet Perspektiven.
Was mich besonders fasziniert, ist die Rolle des Schachspiels im 18. Jahrhundert in Frankreich. 1719 gab es in der Akademie der Wissenschaften einen Vortrag eines Historikers über die Legenden um die Entstehung des Schachspiels. Die Erklärung, dass sich ein Wissenschaftler damit beschäftigt, ist: Der französische König Ludwig XV. war unter den Zuhörern. In der angesprochenen Legende geht es um einen indischen König, der Kriege geführt und seine Untertanen vernachlässigt hat. Der Erfinder des Spiels wollte ihm klar machen, dass auch die geringsten Figuren, die Bauern, wichtig sind, dass sie den König schützen und dass er ohne sie verloren ist. Das also war auch die Botschaft. Die Pointe ist: Ludwig XV. war zu diesem Zeitpunkt erst neun Jahre, man konnte ihn also noch prägen. Damit fing etwas an, was meiner Meinung nach das ganze 18. Jahrhundert durchzogen und letzten Endes die Französische Revolution katalytisch mit begleitet hat. Die großen Denker, die die Französische Revolution vorbereitet haben, waren alle nachweislich Schachspieler. Das beginnt mit Rousseau, Voltaire und endet bei vielen nicht so bekannten. Das Schachspiel hat ein viel größeres Potenzial als nur ein Spiel zu sein. Es gibt Denkanstöße und bietet Perspektiven.
Das sind schöne historische Beispiele …
Vielleicht noch eins: Auch Benjamin Franklin, einer der wichtigsten Motoren der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, war begeisterter Schachspieler. Er galt lange Zeit als erster amerikanischer Schachautor. Franklin hat ein Werk geschrieben, in dem er Regeln aufstellt, wie man sich beim Spielen verhalten soll – The Morals of Chess. Eine Regel davon sollte man seinem Landsmann Donald Trump schicken. Es geht darum, bescheiden zu sein, wenn man gewinnt, die Leistung des Gegners anzuerkennen und ihn nicht zu verhöhnen.
Gegen heutige Schach-Computer hat man damit keine Chance.
Die Computer eilen den Menschen immer mehr davon, und die Menschen werden sie auch wohl nie mehr einholen. Computer haben die Schachwelt insgesamt revolutioniert, weil man sich heute mithilfe von Computern vorbereitet, sie haben auch die Nachbereitung verändert, weil man überprüfen kann, ob die Gedanken, die man während einer Partie hatte, die ja nicht nur durch Logik geprägt sind, sondern auch durch Emotionen, einer näheren Überprüfung standhalten. Insofern wirkt sich das sehr stark auf das Spielen zwischen Menschen aus. Spiele zwischen Menschen und Computern sind uninteressant geworden, weil Computer viel zu stark geworden sind. Heute kann sich ja jeder ein Programm für ein paar Euro kaufen, das einen Weltmeister schlagen kann.
Dafür spielen heute Computer gegen Computer um die Weltmeisterschaft. Was halten Sie von dieser Entwicklung?
Es kommt immer auf die Perspektive an. Schachcomputer bringen auch die Wissenschaft voran. Deshalb ist es auf jeden Fall nützlich. Es hat Mathematiker beflügelt. Schach war, glaube ich, das erste Spiel, das man programmiert hat. Inzwischen macht man das ja auch mit anderen Spielen. Es ist eine Anregung für die Wissenschaft, es wirkt in die Schachwelt hinein – aber das war’s für mich dann auch.
Wird es in Zukunft noch Menschen geben, die Schach spielen?
Natürlich wird es noch Spieler geben. Aber das Spitzenspiel lebt stark von Sponsoren, oder besser Mäzenen, die viel Geld reinstecken und damit das hohe Niveau auch ermöglichen. Wer weiß, ob das so bleiben wird? Momentan entwickelt es sich noch. Der aktuelle Weltmeister Magnus Carlsen ist vorzeigbar, im Gegensatz etwa früher zu Robert Hübner oder Bobby Fischer. Diese Generation hat zwar ein großes Medienecho hervorgerufen, aber sie war nicht gerade ein idealer Botschafter des Schachs. Sie hat ein Bild abgegeben, als seien alle Schachspieler verschroben, was ja nicht der Fall ist.
Der Deutsche Schachbund hat derzeit knapp 100.000 Mitglieder. Wie sieht die Zukunft aus?
Ein großes Entwicklungsfeld ist das Frauenschach. Wir haben im Deutschen Schachbund etwa neun Prozent Frauen in der Mitgliedschaft. Das ist ausbaufähig. Dazu müssen sich die Schachspieler aber anders präsentieren. Da ist noch ein großes Entwicklungsfeld. Mit einem Weltmeister wie Carlsen kann man Schach ganz anders vermarkten, und dann wird es auch attraktiver für Frauen. Aber ob immer Turnierschach so wie heute gespielt wird, weiß ich nicht. Die Konkurrenz durch Computerspiele wird immer größer, das ist vielleicht der Markt der Zukunft. Auch Poker ist bei jungen Leuten attraktiv. Ein ehemaliger Spieler aus meiner Schach-AG hat bereits Millionen mit Poker gewonnen – das ist im Schach völlig utopisch.
Wie sieht es aus mit Schulschach?
Da kann man auch ganz frühe historische Quellen bemühen, die betonen, dass Schach der Übung des Geistes dient. Das findet man über die Jahrhunderte hinweg immer wieder: Schach ist mehr als nur ein Spiel. Schulschach fing mindestens im 19. Jahrhundert an, in Klosterschulen (Jesuiten) wahrscheinlich schon sehr viel früher, das ist noch relativ unerforscht. Man hat erkannt, dass Schach die Denk- und Konzentrationsfähigkeit von Kindern schulen kann. Schulschach hat immer Höhen und Tiefen erlebt, momentan boomt es. Einer der wichtigsten Wegbereiter war Kurt Lellinger aus Trier. Die von ihm initiierte Studie an zwei Grundschulen hat festgestellt, dass Kinder, die regelmäßig im Schach unterrichtet werden, nicht etwa durch den Zeitverlust schlechtere, sondern bessere Noten machen, und das nicht nur im mathematischen, sondern auch im sprachlichen Bereich. Schulschach versteht sich nicht in erster Linie als Zuarbeiter für die Vereine, was sicherlich auch ein Nebeneffekt ist. Aber es geht hauptsächlich darum, Bildung zu vermitteln.
Das Thema Schach und Sport ist ja wohl durch, zumindest ist der Schachbund Mitglied im Sportverband. Oder gibt es da noch Diskussionen?
In den 50er-Jahren wurde der Schachbund in den Sportbund aufgenommen, damals war das unstrittig. 2006 wurde der Deutsche Olympische Sportbund gegründet, da hat man dem Deutschen Schachbund Bestandsschutz zugesichert. 2014 gab es den Versuch, den Schachbund aus der Leistungssportförderung rauszudrücken. Wir mussten dann binnen kürzester Zeit eine Kampagne dagegen auf die Beine stellen. Das haben wir dann auch geschafft. Es gab eine längere Diskussion, auch das Bundesinnenministerium hat sich gewehrt, aber am Ende haben sie es akzeptiert.
Es ist also keine ideologische Frage, ob Schach Sport ist?
Das ist schon wichtig, denn es gibt Leistungssportgelder vom Bundesinnenministerium. Wenn die gestrichen werden, hat das Folgewirkungen auf alle Landesverbände, dann kippt auch dort die Leistungssportförderung.
Ist Schach auch eine Wissenschaft?
Ja. Ich nenne dazu das Springerproblem. Man hat 64 Felder, die muss man mit einem wandernden Springer alle erwischen, aber nur einmal. Heute ist das kein Problem, aber im 18. Jahrhundert haben sich vor allem führende Mathematiker damit beschäftigt, und zwar die besten Leute. Die wollten nicht nur eine Lösung finden, sondern systematische Lösungsmethoden, und sie fanden sie auch. Leonard Euler, ein bekannter Mathematiker (Euler hat Grundlagen zur Analysis und Zahlentheorie entwickelt, Anm. d. Red.), hat sich damit von 1751 bis 1758 beschäftigt und das Problem entschlüsselt. 1997 hat McKay berechnet, dass es insgesamt 13.267.364.410.532, also über 13 Billionen, verschiedene Lösungsmöglichkeiten gibt. Schreibt man die Zugnummern auf die Felder, dann erzeugen 2.240 davon ein magisches Quadrat, was Informatiker 2003 herausgefunden haben, nachdem man 1848 die erste solche Lösung entdeckt hatte. Das Springerproblem stammt von arabischen Mathematikern aus dem 9. Jahrhundert und markiert den Anfang der Graphentheorie in der Mathematik.
Derzeit schafft es kein Deutscher bis ganz oben in die Weltspitze. Warum nicht?
Es gab einen deutschen Schachweltmeister, Emanuel Lasker. Das deutsche Schach war im 19. Jahrhundert führend. Seither gab es nur einen, Robert Hübner, der in der Weltspitze mithalten konnte und es bis auf Platz drei brachte. Es ist in Deutschland schwer, Weltklassespieler zu entwickeln. Man braucht, wie in anderen Sportarten, mindestens zehn Jahre, um volle Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Man muss also ganz früh anfangen und sich voll konzentrieren –
mit ungewissem Ausgang. Wir haben momentan einen Spieler – Vincent Keymer, der mit etwa sechs Jahren angefangen hat und jetzt mit 15 Großmeister geworden ist. Der könnte eine solche Karriere schaffen. Er hat im vorigen Jahr in Baden-Baden im Großmeisterturnier gespielt und hatte in der Partie gegen Magnus Carlsen sogar Gewinnchancen gehabt. Da ist übrigens meine – unbeweisbare – These, dass ihm die Emotionen dazwischengefunkt haben, dass er zu aufgeregt war. Aber er ist hochbegabt.
Schach ist auch eine besondere Form der Kommunikation. Kann man sein Gegenüber beim Schach kennenlernen?
Es kommt vor, dass mein Gegenüber über eine Stellung nachdenkt, wie ich auch. Dann kommt ein Moment, wo ich denke, dass er jetzt einen bestimmten Zug machen wird. Und dann macht er sehr häufig genau den Zug, an den ich ursprünglich gar nicht gedacht hatte. Man wird dann sehr sensibel für das Gegenüber. Ich weiß nicht, woher das kommt. Aber darüber berichten auch andere Spieler.
Wann wird Schach olympische Sportart?
Ich glaube nicht so recht dran, aber wenn, dann 2024, wenn die Olympischen Spiele in Paris sind. 2024 wird die FIDE (Fédération Internationale des Échecs), die in Paris gegründet wurde, 100 Jahre alt. Und Arkadi Dworkowitsch (Präsident des Weltschachverbandes) hat einen gewissen Einfluss in der Sportwelt. Er war mal stellvertretender Ministerpräsident in Russland und Leiter der Organisation der Fußballweltmeisterschaft 2018. Ihm traue ich zu, dass Schach olympisch wird – wenn überhaupt. Wie gesagt, ich glaube nicht so recht dran. Aber man muss auch sehen, dass in etwa 190 Nationen Schach organisiert ist, es ist auf dem Vormarsch, viele Länder haben Schach als Schulfach.
Passt Schach überhaupt noch in unsere schnelllebige Zeit?
Ja, gerade (lacht). Schach schafft einen Pol der Ruhe. Aber bringen Sie das heute mal den Kindern bei. Trotzdem, und davon schwärmte auch Kurt Lellinger: Wenn Sie eine Schulschachmeisterschaft mit Hunderten von Kindern machen, wird es ruhig, wenn die Partien beginnen. Ich glaube schon fest, dass es in die heutige Zeit passt, trotz Skepsis wegen der Konkurrenz von Computerspielen. Wir haben schon viele Renaissancen erlebt. Es hängt aber auch ein wenig von Sponsoren ab.
Was bringen in diesem Zusammenhang neue Varianten des Schachs?
Varianten gab es immer schon, etwa wie sich die Figuren bewegen können. Es gibt eine schon 1792 vorgeschlagene Variante, die derzeit expandiert: Chess 960. Dabei werden die Anfangsstellungen der Figuren nach bestimmten Regeln ausgelost. Dafür gibt es dann 960 Eröffnungsvarianten. 2019 hat erstmals eine Weltmeisterschaft in dieser Variante stattgefunden, die hat übrigens nicht Magnus Carlsen gewonnen, sondern Wesley So von den Philippinen.
Was halten Sie von solchen Versuchen mit Variationen?
Nix. Ganz klar. Wenn ich die Figuren anders aufstelle, kann ich zwar immer noch nach den Regeln spielen, aber ich verleugne die Tradition.